„Erörterungen der bisherigen Verhältnisse der Hebammen und Wickelfrauen zu Berlin“ (1852)

Kurzbeschreibung

In der Geschichte der modernen Wissenschaft wurden wenige gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit so viel Leidenschaft geführt wie diejenige zwischen Hebammen und männlichen Ärzten. Seit Menschengedenken hatten Hebammen Frauen während der Schwangerschaft und nach der Geburt betreut, da vorausgesetzt wurde, dass Frauen über besonderes Wissen über die Geburt verfügten. Vom späten 17. Jahrhundert an begannen jedoch wissenschaftlich ausgebildete männliche Ärzte in den Tätigkeitsbereich der Hebammen einzugreifen mit der Behauptung, ihre Methoden seien erfolgreicher als die traditionellen Praktiken und die Volksheilmittel. In vielen Ländern verloren Hebammen ihre Position daraufhin ganz. Wie dieser Ausschnitt erkennen lässt, wurden sie in Preußen allerdings in den staatlichen medizinischen Apparat eingebunden. Staatliche Regulierung bedeutete einen Verlust von Unabhängigkeit, bot jedoch den Hebammen zugleich Schutz sowohl vor dünkelhaften Geburtshelfern, die sie ganz von Entbindungen fernhalten wollten, wie auch vor Laien wie den „Wickelfrauen“, deren Quacksalberei den Status der Hebammen als angesehene Pflegerinnen unterminierte. Dieser Bericht aus Berlin von 1852 zeugt von der anhaltenden Kontroverse über das legitime Betätigungsfeld für Hebammen.

Quelle

Sitzung vom 23. März.

In der Sitzung vom 23. März kam die von dem Königl. Polizei-Präsidium hieselbst unter dem 21. Febr. d. J. in Betreff der Wickelfrauen erlassene Verfügung zur Sprache. Für unsere auswärtigen Leser sei es uns vergönnt, hier etwas weiter auszuholen und Verhältnisse zu erörtern, welche zwar ursprünglich nur eine lokale Bedeutung haben, die aber bei der Grösse und Wichtigkeit Berlins auch von allgemeinerem Interesse sind und daher, wie nicht zu verwundern, bereits die Aufmerksamkeit auswärtiger Fachgenossen auf sich gezogen haben). (Vgl. Hohl: Geburtshelfer und Hebammen. Deutsche Klin. 1852. No. 32.)

Seit vielen Jahrzehnten ist es beim Berliner Publikum ziemlich allgemein Sitte geworden, den Beistand des Geburtshelfers nicht bloss bei regelwidrigen, sondern auch bei regelmässigen Geburten in Anspruch zu nehmen. Die Geburtshelfer bedienten sich bisher gewöhnlich zu den weiblichen Hülfsleistungen bei den Geburten nicht der geprüften Hebammen, sondern der sogenannten Wickelfrauen, deren jeder Geburtshelfer in der Regel eine oder mehrere in seiner Praxis beschäftigte. Eine solche Wickelfrau hat keinen vollständigen Unterricht in der Hebammenkunst genossen, sondern ist nur während eines dreimonatlichen Cursus in der Universitäts-Entbindungsanstalt, laut eines darüber ausgefertigten Zeugnisses „in der Wartung und Behandlung der Schwangeren, Gebärenden, Wöchnerinnen und Neugebornen, sowie in der Application der After-, Scheiden- und Mutter-Klystiere geübt worden“ und hat sich nebenbei theils in der Anstalt, theils in der späteren Praxis durch specielle Anleitung des sie beschäftigenden Arztes, — in dessen Interesse es natürlich liegt, einen möglichst zuverlässigen Beistand zu erhalten, — eine mehr oder weniger grosse Fertigkeit in dem Untersuchen und in dem ganzen Hebammengeschäft erworben. Eine gesetzliche Befugniss zur Assistenz bei dem Geburtsgeschäft besitzt die Wickelfrau nicht, die Praxis gestaltete sich indess so, dass die Wickelfrau zuerst von der Kreissenden gerufen wurde und nun ihrerseits dafür Sorge trug, dass der betreffende Geburtshelfer davon in Kenntniss gesetzt und herbeigeholt werde. Die Wickelfrau blieb von Anfang bis zur Vollendung der Geburt bei der Kreissenden, der Geburtshelfer kam und ging nach seinem Ermessen, verweilte andauernd bei regelwidrigen Geburten, welche eine stete Beobachtung oder eine baldige Kunsthülfe erheischten, entfernte sich bei den übrigen, wenn sie länger währten, mit Hinterlassung des Orts, von wo er schnell herbeigerufen werden konnte, und verbrachte nur die letzten Stunden am Kreissbette, um das eigentliche Entbindungsgeschäft, die Dammstütze, das Abnabeln des Kindes, die Entfernung der Nachgeburt selbst zu besorgen.

Man mag über diese Praxis eine Ansicht hegen, welche man wolle, Thatsache war und ist es, dass Berlin auf 58 Hebammen 158 Wickelfrauen und 256 Geburtshelfer, von welchen letzten mindestens 150 als solche praktiziren, besitzt, und dass ungefähr die Hälfte der in Berlin vorkommenden Entbindungen und namentlich die Mehrzahl der Entbindungen in den wohlhabendem Familien und in dem Mittelstande, ferner die sämmtlichen poliklinischen Entbindungen allein durch Geburtshelfer und Wickelfrauen besorgt werden, die übrige Hälfte den Hebammen verbleibt.

Zu verschiedenen Zeiten hatte man schon versucht, diese Verhältnisse zu ändern und den Hebammen die ausschliessliche Assistenz bei dem Entbindungsgeschäft zu sichern. Die Hebammenlehrer, namentlich der verstorbene Hauck, waren stets für den letzteren Zweck bemüht gewesen, die Direktoren der geburtshülflichen Poliklinik, Elias v. Siebold und Busch und die überwiegende Mehrzahl der Berliner Geburtshelfer hatten dem widerstrebt. Einmal drang jene Ansicht bei den Behörden durch und das Ministerium Altenstein erliess unter dem 17. Jan. 1825 an sämmtliche K. Regierungen und an das K. Polizei-Präsidium zu Berlin ein Reskript, worin es verlangte, „dass sich die Geburtshelfer zu den ihnen anvertrauten Entbindungen der betreffenden Hebamme als Gehülfin, nicht aber einer sogenannten Wickelfrau bedienten.“ (Das Medizinalwesen d. preuss. Staates v. L. v. Rönne und H. Simon I, p. 534.)

Unter dem 20. Oktober 1828 folgte indess bereits ein zweites Reskript, wodurch die Bestimmung jenes erstern wesentlich gemildert wurde. Es heisst nämlich in dem betreffenden Reskript.

„Es haben damit indessen die Geburtshelfer nicht verpflichtet werden sollen, sich überhaupt irgend eines Beistandes zu bedienen, wenn sie glauben, das Entbindungsgeschäft ganz allein besorgen zu können, und für jeden daraus für die Wöchnerinnen und Neugebornen entstehenden Nachtheil verantwortlich sein wollen. Eben so wenig können auch die Kreissenden und Wöchnerinnen gezwungen werden, bestimmten, ihnen von den Geburtshelfern zugeführten Frauen sich anzuvertrauen; vielmehr muss ihnen freigestellt bleiben, allenfalls auch Verwandte oder andere ehrbare Frauen, zu denen sie Vertrauen haben, zum Beistand bei der Entbindung und im Wochenbett zu wählen, daher sie wegen unterlassener Zuziehung einer Hebamme neben dem Geburtshelfer nicht zur Verantwortung gezogen oder mit Strafen belegt werden können.“

Die Praxis der Geburtshelfer mit Assistenz einer Wickelfrau ohne Zuziehung einer Hebamme blieb hienach unangefochten, die Polizei schritt nur dann ein, wenn Pfuschereien der Wickelfrauen, d. h. Fälle, wo dieselben ohne Herbeirufung und Controlle eines Arztes entbunden hatten, zu ihrer Kenntniss gelangten, ein Ereigniss, was im Ganzen nur selten vorkam und wegen der schwierigen Beweisführung noch seltener zu Strafverhängungen führte.

Der verstorbene Geheimerath J. H. Schmidt, welcher im Jahre 1843 ins Ministerium berufen wurde, war als früherer Hebammenlehrer und unbekannt mit den Berliner Verhältnissen begreiflicherweise ein abgesagter Feind der Wickelfrauen und daher von Anfang an bemüht, denselben ihre Stellung zu nehmen. Wiederholt theilte er der Gesellschaft seine hierauf bezüglichen von denen der übrigen Mitglieder abweichenden Ansichten und Pläne mit, und veranlasste im Jahre 1847 eine Circularverfügung des Ministeriums, welche folgendermassen lautete:

„Die Königlichen Regierungen sind bereits durch die Circular Verfügung vom 17. Januar 1825 auf die Uebelstände aufmerksam gemacht, welche daraus hervorgehen, dass Geburtshelfer vor und bei Entbindungen sich nicht selten, statt der Hebammen, der sogenannten Wickelfrauen als Gehülfinnen bedienen, und ihnen Verrichtungen überlassen, zu denen nur Hebammen befugt sind, während die Wickelfrauen, welche nur als Krankenwärterinnen angesehen werden können, sich auf diejenigen Dienste zu beschränken haben, welche die Wartung der Wöchnerin und des Kindes betreffen. Zur Beseitigung dieser Uebelstände ist damals angeordnet, dass den Geburtshelfern untersagt werde, sich der Wickelfrauen als Gehülfinnen zu bedienen und nur den Hebammen nachzulassen sei, nach der Entbindung die Wartung der Wöchnerin einer Wickelfrau unter ihrer Aufsicht zu übertragen. Diese Bestimmung hat indessen einigen Regierungen zu Remonstrationen Anlass gegeben und scheint auch nur sehr unvollständig und in neuerer Zeit gar nicht mehr zur Ausübung gebracht worden zu sein. Gleichwohl ist nach mehreren hierher gelangten Mittheilungen nicht zu bezweifeln, dass die Uebelstände, denen durch die erwähnte Verfügung abgeholfen werden sollte, nicht nur fortbestehen, sondern auch, besonders in grösseren Städten, in verstärktem Grade eintreten. Namentlich sollen viele Geburtshelfer, welche aus Gewinnsucht und unter Beeinträchtigung der Hebammen auch zu regelmässigen und leichten Geburten zugezogen zu werden sich bemühen, dennoch dem Entbindungsgeschäft nicht die pflichtmässige Sorgfalt widmen, sondern in der Regel der Assistenz von Wickelfrauen sich bedienen, welche, „während der Geburtshelfer seiner anderweitigen Praxis nachgeht, bei den Kreissenden verbleiben, um im Moment der Geburt den Arzt zu holen, meistentheils aber damit zu lange zögern und dann unter dem Vorwande, die Kreissende sei von der Geburt überrascht oder der Geburtshelfer nicht schnell genug zu finden gewesen, die Entbindung ohne Hebamme und Geburtshelfer verrichten. Dabei soll manches unwürdige Mittel Seitens der Geburtshelfer angewendet werden, um einerseits die Praxis auszudehnen und sie andererseits mit möglichst geringer eigener Belästigung vorzugsweise durch Wickelfrauen betreiben zu können. Dahin gehört namentlich ein gegenseitiges Angreifen und Empfehlen der Geburtshelfer und der Wickelfrauen bei dem betheiligten Publikum und selbst durch die öffentlichen Blätter. Da dieses Unwesen vorzugsweise hier in Berlin herrschen soll, so hat das Ministerium zunächst von dem hiesigen Polizei-Präsidium gutachtlichen Bericht darüber erfordert, durch welche Mittel demselben am wirksamsten zu steuern sein möchte.

Das Polizei-Präsidium hält hiezu die Erneuerung und strenge Beobachtung der Verfügung vom 17. Januar 1825 am meisten geeignet. Sollte dieselbe aber unzureichend oder in der Ausführung zu schwierig befunden werden, so ist vorgeschlagen:

1) von Zeit zu Zeit durch polizeiliche Bekanntmachungen das Publikum über die beschränkten Befugnisse der Wickelfrauen, über die Grenzen ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten zu belehren;

2) in gleicher Weise die Wickelfrauen vor Eingriffen in die Funktionen der Hebammen und Geburtshelfer unter Androhung nachdrücklicher polizeilicher Strafen zu warnen und etwanige Kontraventionen auf das Strengste zu rügen;

3) nach Analogie der, zum Theil zur Vermeidung von Pfuschereien hier bereits eingeführten polizeilichen Todtenscheine — wegen deren allgemeiner Einführung vor Kurzem besondere Verfügung ergangen ist — auch polizeiliche Geburtsscheine einzuführen, welche von dem Geburtshelfer oder der Hebamme, welche die Entbindung bewirkt haben, auf ihren Amtseid mit den ausdrücklichen Bemerken auszustellen seien, dass die Entbindung von dem Geburtshelfer oder von der Hebamme selbst oder von wem sonst verrichtet sei.

Dergleichen Atteste erachtet das hiesige Polizei-Präsidium für ein besonders zweckmässiges Mittel, um den Pfuschereien der Wickelfrauen auf die Spur zu kommen, resp. denselben vorzubeugen. Endlich ist noch

4) vorgeschlagen, den Geburtshelfern und Hebammen bei der Vereidigung ebenso, wie hier bei den Aerzten geschieht, ein Exemplar derjenigen Verfügung, durch welche den Medizinalpersonen Vorsicht bei Ausstellung von Attesten geboten wird auszuhändigen resp. dieselben in sonst geeigneter Form vor der Benutzung ungesetzlicher Hülfe bei Entbindungen zu warnen.

Bevor das Ministerium in der Angelegenheit etwas Weiteres voranlasst, wünscht dasselbe die Aeusserung der Königlichen Regierung darüber zu vernehmen, ob in dem dortigen Bezirk resp. in einzelnen Theilen desselben ein Bedürfniss obwaltet, gegen die Pfuschereien der Wickelfrauen mittelst besonderer Bestimmungen einzuschreiten, ob eventuell die Vorschläge des hiesigen Polizei-Präsidiums, insbesondere auch die Erneuerung der Verfügung vom 17. Januar 1825 für zweckmässig zu erachten oder auf welche andere Weise dem in Redestehenden Uebelstande wirksamer abzuhelfen sein möchte.“

Den Bericht hierüber erwartet das Ministerium binnen 2 Monaten. Berlin, den 9. September 1847.

Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten.

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Quelle: „Erörterungen der bisherigen Verhältnisse der Hebammen und Wickelfrauen zu Berlin“, Verhandlungen der Gesellschaft für Geburtshilfe in Berlin 6 (1852), S. 39–44.

„Erörterungen der bisherigen Verhältnisse der Hebammen und Wickelfrauen zu Berlin“ (1852), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-142> [05.12.2024].