Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1832/1834)

Kurzbeschreibung

In diesen Passagen legte der berühmte preußische General und Kriegstheoretiker Prinzipien dar, die für das deutsche militärische Denken mehr als ein Jahrhundert lang prägend sein sollten. Einige Historiker argumentieren, dass Clausewitz’ Prinzipien die Vernichtungskampagnen der deutschen Armee in Deutsch-Südwest-Afrika (1904–1908), das Gemetzel des Ersten Weltkriegs (1914–1918) und die genozidähnlichen Praktiken der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg (1939–1945) vorwegnahmen. Für Clausewitz ergaben sich aus der systematischen Analyse empirischer Kriegsfakten gewisse absolute Erfordernisse, wie die „Vernichtung“ des Feindes in rabiaten, konzentrierten Attacken, deren Erfolg das Schicksal der kriegführenden Nation entschied. Dies ergab sich als Folge der Anwendung „aufgeklärten“ Wissens und wissenschaftlicher „Perfektion“ auf moderne Konflikte.

Quelle

[Aus dem ersten Teil (1832)]

Zweites Kapitel.
Charakter der heutigen Schlacht

Nach den Begriffen, die wir von der Taktik und Strategie angenommen haben, versteht es sich von selbst, daß, wenn die Natur der ersten sich ändert, dies Einfluß auf die letztere haben muß. Haben die taktischen Erscheinungen in dem einen Fall einen ganz anderen Charakter als in dem anderen, so werden ihn auch die strategischen haben müssen, wenn sie konsequent und vernünftig bleiben sollen. Darum ist es wichtig, die Hauptschlacht in ihrer neueren Gestalt zu charakterisieren, ehe wir ihren Gebrauch in der Strategie weiter kennenlernen.

Was tut man jetzt gewöhnlich in einer großen Schlacht? Man stellt sich in großen Massen neben- und hintereinander geordnet ruhig hin, entwickelt verhältnismäßig nur einen geringen Teil des Ganzen und läßt sich diesen ausringen in einem stundenlangen Feuergefecht, welches durch einzelne kleine Stöße von Sturmschritt, Bajonette und Kavallerieanfall hin und wieder unterbrochen und etwas hin und her geschoben wird. Hat dieser eine Teil sein kriegerisches Feuer auf diese Weise nach und nach ausgeströmt, und es bleiben nichts als die Schlacken übrig, so wird er zurückgezogen und von einem anderen ersetzt.

Auf diese Weise brennt die Schlacht mit gemäßigtem Element wie nasses Pulver langsam ab, und wenn der Schleier der Nacht Ruhe gebietet, weil niemand mehr sehen kann, und sich niemand dem blinden Zufall preisgeben will, so wird geschätzt, was dem einen und dem anderen übrig bleiben mag an Massen, die noch brauchbar genannt werden können, d. h. die noch nicht ganz wie ausgebrannte Vulkane in sich zusammengefallen sind; es wird geschätzt, was man an Raum gewonnen oder verloren hat, und wie es mit der Sicherheit des Rückens steht; es ziehen sich diese Resultate mit den einzelnen Eindrücken von Mut und Feigheit, Klugheit und Dummheit, die man bei sich und seinem Gegner wahrgenommen zu haben glaubt, in einen einzigen Haupteindruck zusammen, aus welchem dann der Entschluß entspringt: das Schlachtfeld zu räumen oder das Gefecht am anderen Morgen zu erneuern.

Diese Schilderung, die nicht ein ausgemaltes Bild der heutigen Schlacht sein, sondern bloß ihren Ton angeben soll, paßt auf Angreifende und Verteidiger, und man kann in dieselbe die einzelnen Züge, welche der vorgesetzte Zweck, die Gegend usw. an die Hand geben, hineintragen, ohne diesen Ton wesentlich zu ändern.

Es sind aber die heutigen Schlachten nicht zufällig so, sondern sie sind es, weil die Parteien sich ungefähr auf demselben Punkt der kriegerischen Einrichtungen und der Kriegskunst befinden, und weil das kriegerische Element, angefacht durch große Volksinteressen, durchgebrochen ist und in seine natürlichen Bahnen geleitet. Unter diesen beiden Bedingungen werden die Schlachten diesen Charakter immer behalten.

Diese allgemeine Vorstellung von der heutigen Schlacht wird uns in der Folge an mehr als einem Orte nützlich sein, wenn wir den Wert der einzelnen Koeffizienten von Stärke, Gegend usw. bestimmen wollen. Nur von allgemeinen, großen und entscheidenden Gefechten, und was dem nahekommt, gilt diese Schilderung; die kleinen haben ihren Charakter auch in dieser Richtung, aber weniger als die großen, verändert. Der Beweis davon gehört in die Taktik, wir werden aber dennoch Gelegenheit haben, in der Folge diesen Gegenstand noch durch ein paar Züge deutlicher zu machen.

Drittes Kapitel.
Das Gefecht überhaupt

Das Gefecht ist die eigentliche kriegerische Tätigkeit, alles übrige sind nur die Träger derselben. Werfen wir also auf seine Natur einen aufmerksamen Blick.

Gefecht ist Kampf, und in diesem ist die Vernichtung oder Überwindung des Gegners der Zweck; der Gegner im einzelnen Gefecht aber ist die Streitkraft, welche uns entgegensteht.

Dies ist die einfache Vorstellung, wir werden zu ihr zurückkehren; aber ehe wir das können, müssen wir eine Reihe anderer einschalten.

Denken wir uns den Staat und seine Kriegsmacht als Einheit, so ist die natürlichste Vorstellung, uns den Krieg auch als ein einziges großes Gefecht zu denken, und in den einfachen Verhältnissen wilder Völker ist es auch nicht viel anders. Unsere Kriege aber bestehen aus einer Unzahl von großen und kleinen, gleichzeitigen oder aufeinanderfolgenden Gefechten, und dieses Zerfallen der Tätigkeit in so viel einzelne Handlungen hat seinen Grund in der großen Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, aus denen der Krieg bei uns hervorgeht.

Schon der letzte Zweck unserer Kriege, der politische, ist nicht immer ein ganz einfacher, und wäre er es auch, so ist die Handlung an eine solche Menge von Bedingungen und Rücksichten gebunden, daß der Zweck nicht mehr durch einen einzelnen großen Akt, sondern nur durch eine Menge größerer oder kleinerer, die zu einem Ganzen verbunden sind, erreicht werden kann. Jede dieser einzelnen Tätigkeiten ist also ein Teil eines Ganzen, hat folglich einen besonderen Zweck, durch welchen sie an dieses Ganze gebunden ist.

Wir haben früher gesagt, daß sich jede strategische Handlung auf die Vorstellung eines Gefechts zurückführen läßt, weil sie eine Verwendung der Streitkraft ist und dieser die Idee des Gefechts immer zum Grunde liegt. Wir können also im Gebiete der Strategie alle kriegerische Tätigkeit auf die Einheit einzelner Gefechte zurückführen und uns nur mit den Zwecken dieser letzteren beschäftigen. Wir werden diese besonderen Zwecke erst nach und nach kennenlernen, sowie wir von den Gegenständen sprechen werden, die sie hervorrufen. Hier ist es uns genug, zu sagen: jedes Gefecht, groß oder klein, hat seinen besonderen, dem Ganzen untergeordneten Zweck. Ist dieses der Fall, so ist die Vernichtung und Überwindung des Gegners nur als das Mittel für diesen Zweck zu betrachten. So ist es allerdings.

Allein dieses Resultat ist nur in seiner Form wahr und nur um des Zusammenhanges willen wichtig, welchen die Vorstellungen unter sich haben, und es ist gerade, um uns von demselben wieder loszumachen, daß wir es aufgesucht haben.

Was ist die Überwindung des Gegners? Immer nur die Vernichtung seiner Streitkraft, sei es durch Tod oder Wunden oder auf was für eine andere Art, sei es ganz und gar oder nur in einem solchen Maße, daß er den Kampf nicht mehr fortsetzen will. Wir können also, so lange wir von allen besonderen Zwecken der Gefechte absehen, die Vernichtung des Gegners ganz oder teilweise als den einzigen Zweck aller Gefechte betrachten.

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[Aus dem dritten Teil (1834)]

Neuntes Kapitel.
Kriegsplan, wenn Niederwerfung des Feindes das Ziel ist

Nachdem wir die verschiedenen Zielpunkte, welche der Krieg haben kann, näher charakterisiert haben, wollen wir die Anordnung des ganzen Krieges für die drei einzelnen Abstufungen durchgehen, welche sich nach jenen Zielpunkten ergeben haben.

Nach allem, was wir bis jetzt über den Gegenstand schon gesagt haben, werden zwei Hauptgrundsätze den ganzen Kriegsplan umfassen und allen übrigen zur Richtung dienen.

Der erste ist: das Gewicht der feindlichen Macht auf so wenig Schwerpunkte als möglich zurückzuführen, wenn es sein kann, auf einen; wiederum den Stoß gegen diese Schwerpunkte auf so wenig Haupthandlungen als möglich zurückzuführen, wenn es sein kann, auf eine; endlich alle untergeordnete Handlungen so untergeordnet als möglich zu halten. Mit einem Wort, der erste Grundsatz ist: so konzentriert als möglich zu handeln.

Der zweite Grundsatz: so schnell als möglich zu handeln, also keinen Aufenthalt und keinen Umweg ohne hinreichenden Grund.

Das Reduzieren der feindlichen Macht auf einen Schwerpunkt hängt ab:

Erstens von dem politischen Zusammenhang derselben. Sind es Heere eines Herrn, so hat es meist keine Schwierigkeit; sind es verbündete Heere, deren das eine als bloßer Bundesgenosse ohne eigenes Interesse handelt, so ist die Schwierigkeit nicht viel größer; sind es zu gemeinschaftlichen Zwecken Verbündete, so kommt es auf den Grad der Befreundung an; wir haben davon schon geredet.

Zweitens von der Lage des Kriegstheaters, auf welchem die verschiedenen feindlichen Heere erscheinen.

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Gegen den Feind aber, welchem der Hauptstoß gilt, kann es hiernach auf Nebenkriegstheatern keine Verteidigung mehr geben. Der Hauptangriff selbst und die durch andere Rücksichten herbeigeführten untergeordneten Angriffe machen diesen Stoß aus und machen jede Verteidigung von Punkten, welche durch sie nicht unmittelbar gedeckt werden, überflüssig. Auf die Hauptentscheidung kommt es an, in ihr wird jeder Verlust eingebracht. Reichen die Kräfte hin, eine solche Hauptentscheidung vernünftigerweise zu suchen, so kann die Möglichkeit des Fehlschlagens nicht mehr als ein Grund gebraucht werden, sich in jedem Fall auf anderen Punkten für Schaden zu hüten; denn dieses Fehlschlagen wird eben dadurch viel wahrscheinlicher, und es ist also in unserer Handlung ein Widerspruch entstanden.

Aber dieses Vorherrschen der Haupthandlung über die untergeordneten soll auch selbst bei den einzelnen Gliedern des ganzen Angriffs stattfinden. Da sich aber meist aus anderweitigen Gründen bestimmt, welche Kräfte von dem einen Kriegstheater, und welche von dem anderen gegen den gemeinschaftlichen Schwerpunkt vordringen sollen, so kann hier nur gemeint sein, daß ein Bestreben da sein muß, die Haupthandlung vorwalten zu lassen, und daß alles einfacher und weniger Zufällen unterworfen sein wird, je mehr dieses Vorwalten erreicht werden kann.

Der zweite Grundsatz betrifft den schnellen Gebrauch der Streitkräfte.

Jeder unnütze Zeitaufwand, jeder unnütze Umweg ist eine Verschwendung der Kräfte und also der Strategie ein Greuel.

Aber wichtiger ist die Erinnerung, daß der Angriff überhaupt fast seinen einzigen Vorzug in der Überraschung besitzt, womit die Eröffnung der Szene wirken kann. Das Plötzliche und Unaufhaltsame sind seine stärksten Schwingen, und wo es auf die Niederwerfung des Gegners ankommt, kann er dieser selten entbehren.

Hiermit fordert die Theorie also die kürzesten Wege zum Ziel und schließt die zahllosen Diskussionen über rechts und links, hierhin oder dorthin von der Betrachtung ganz aus.

Wenn wir an das erinnern, was wir in dem Kapitel von dem Gegenstand des strategischen Angriffs über die Herzgrube der Staaten gesagt haben, ferner an das, was im vierten Kapitel dieses Buches über den Einfluß der Zeit vorkommt, so glauben wir, bedarf es keiner weiteren Entwicklungen, um zu zeigen, daß jenem Grundsatz der Einfluß wirklich gebühre, welchen wir für ihn fordern.

Bonaparte hat niemals anders gehandelt. Die nächste Hauptstraße von Heer zu Heer oder von Hauptstadt zu Hauptstadt war ihm immer der liebste Weg.

Und worin wird nun die Haupthandlung, auf welche wir alles zurückgeführt, und für welche wir eine rasche und unumwundene Vollziehung gefordert haben, bestehen?

Was die Niederwerfung des Feindes sei, haben wir, soviel es sich im allgemeinen tun läßt, im vierten Kapitel gesagt, und es wäre unnütz, es zu wiederholen. Worauf es nun auch dabei im einzelnen Fall am Ende ankommen mag, so ist doch der Anfang dazu überall derselbe: die Vernichtung der feindlichen Streitkraft, d. h. ein großer Sieg über dieselbe und ihre Zertrümmerung. Je früher, d. h. je näher an unseren Grenzen dieser Sieg gesucht wird, um so leichter ist er; je später, d. h. je tiefer im feindlichen Lande er erfochten wird, um so entscheidender ist er. Hier wie überall halten sich die Leichtigkeit des Erfolges und die Größe desselben das Gleichgewicht.

Sind wir also der feindlichen Streitkraft nicht so überlegen, daß der Sieg unzweifelhaft ist, so müssen wir sie, d. h. ihre Hauptmacht, womöglich aufsuchen. Wir sagen womöglich, denn wenn dieses Aufsuchen zu großen Umwegen, falschen Richtungen und Zeitverlust für uns führte, so könnte es leicht ein Fehler werden. Findet sich die feindliche Hauptmacht nicht auf unserem Wege, und können wir, weil es sonst gegen unser Interesse ist, sie nicht aufsuchen, so dürfen wir sicher sein, sie später zu finden, denn sie wird nicht säumen, sich uns entgegenzuwerfen. Wir werden dann, wie wir eben gesagt haben, unter weniger vorteilhaften Umständen schlagen: ein Übel, dem wir uns unterziehen müssen. Gewinnen wir die Schlacht dennoch, so wird sie um so entscheidender sein.

Hieraus folgt, daß in dem angenommenen Fall ein absichtliches Vorbeigehen der feindlichen Hauptmacht, wenn sie sich schon auf unserem Wege befindet, ein Fehler sein würde, wenigstens insofern man dabei eine Erleichterung des Sieges beabsichtigte.

Dagegen folgt aus dem Obigen, daß man bei einer sehr entschiedenen Überlegenheit der feindlichen Hauptmacht absichtlich vorbeigehen könne, um späterhin eine entscheidendere Schlacht zu liefern.

Wir haben von einem vollständigen Siege, also von einer Niederlage des Feindes, und nicht von einer bloßen gewonnenen Schlacht gesprochen. Zu einem solchen Siege aber gehört ein umfassender Angriff oder eine Schlacht mit verwandter Fronte, denn beide geben dem Ausgang jedesmal einen entscheidenden Charakter. Es gehört also zum Wesentlichen des Kriegsplanes, daß wir uns darauf einrichten, sowohl was die Masse der Streitkräfte betrifft, die nötig, als die Richtungen, welche ihnen zu geben sind, wovon das Weitere im Kapitel von dem Feldzugsplan gesagt werden soll.

Daß auch Schlachten mit gerader Fronte zu vollkommenen Niederlagen führen, ist zwar nicht unmöglich, und es fehlt nicht an Beispielen in der Kriegsgeschichte, allein der Fall ist seltener und wird immer seltener, je mehr die Heere sich an Ausbildung und an Gewandtheit ähnlicher werden. Jetzt macht man nicht mehr wie bei Blenheim einundzwanzig Bataillone in einem Dorfe gefangen.

Ist nun der große Sieg erfochten, so soll von keiner Rast, von keinem Atemholen, von keinem Besinnen, von keinem Feststellen usw. die Rede sein, sondern nur von der Verfolgung, von neuen Stößen, wo sie nötig sind, von der Einnahme der feindlichen Hauptstadt, von dem Angriff der feindlichen Hilfsheere, oder was sonst als der Unterstützungspunkt des feindlichen Staates erscheint.

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Quelle: Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegführung. Vom Kriege. Erster Theil. Berlin bei Ferdinand Dümmler, 1832, S. 282–86; und dritter Theil. Berlin bei Ferdinand Dümmler, 1834, S. 161–62, 174–78.

Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1832/1834), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-148> [05.12.2024].