Moritz Jastrowitz, „Die Roentgen’schen Experimente mit Kathodenstrahlen und ihre diagnostische Verwerthung“ (1896)
Kurzbeschreibung
Der Beitrag schilderte die Entdeckung der X-Strahlen durch Wilhelm C. Röntgen (1845-1923) und geht dabei auf deren praktische Anwendung ein: die Röntgenaufnahme einer menschlichen Hand (siehe Fotografie). Anschließend stellt der Artikel Röntgens Versuche zur Durchlässigkeit der X-Strahlen bei verschiedenen Materialen vor, bevor der Auszug abschließend die physikalischen Besonderheiten der X-Strahlen behandelt.
Quelle
M. H.! Bei der Fülle der Demonstrationen und Vorträge, die uns heute zu Gebote stehen, muss ich ganz besonders Ihre Nachsicht in Anspruch nehmen, wenn ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Entdeckung hinlenke, die der physikalischen Gesellschaft ehegestern vorgelegt worden ist. Dieselbe scheint bedeutsam auch für die Medicin zu sein. […] Der Entdecker ist Professor Roentgen in Würzburg.
Ich will zunächst mit einer kurzen Demonstration beginnen: Sie sehen auf dieser Photographie das knöcherne Gerüst einer menschlichen Hand, Mittelhandknochen, nebst Phalangen. Bei scharfem Hinblicken gewahrt man eine feine helle Contour die Knöchel der Finger umziehen, welche Contour derjenigen der Weichtheile entspricht; ein Finger ist mit einem Ringe versehen, welcher noch dunkler als die Fingerknochen erscheint. Der Ring schwebt über dem Knochen der betreffenden Phalanx gleichsam wie der Ring über dem Saturn (Fig. 1). Wenn ich Ihnen sage, dass diese Knochen nicht von einem Skelett, sondern am lebenden Menschen photographiert sind, so wird es fast wie ein Scherz und märchenhaft klingen. Die Aufnahme ist aber in der Tat am Lebenden erfolgt, und wie dies möglich ist, darüber möchte ich Ihnen nach einer vorläufigen Mittheilung des Herrn Professor Roentgen, welche in den Verhandlungen der physikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzburg, December 1895 erschienen ist, Einiges vortragen.
Fig. 1. Damenhand. Nach dem Roentgen’schen Verfahren aufgenommen von P. Spies in Berlin.
[…]
Es lag nahe, die Natur dieser Lichterscheinung in Bezug auf ihre Fähigkeit, Substanzen verschiedener Art zu durchdringen, zu untersuchen. Da sie durch den dunklen Carton hindurchgegangen war, so fragte es sich, ob sie auch andere Materien zu passiren imstande sei. Roentgen hat verschiedene Stoffe daraufhin geprüft. Er theilt mit, dass diese Strahlung selbst durch ein Buch von tausend Seiten hindurchging und sich an der prüfenden Platte durch Fluorecsciren verrieth, ebenfalls durch mehrfache Lagen mehrere Centimeter dicker Guttapercha. Auch durch tannene Bretter bis 3 cm Dicke ging sie hindurch. Bei den Versuchen mit Metallen stellte sich heraus, dass die Passirfähigkeit des Lichtes ihre Grenzen hatte, dass es um so weniger leicht passirte, je dichter die zu durchdringende Masse war. Durch eine Metallplatte ging das Licht nur, wenn dieselbe entsprechend dünn war, und wurde dabei beträchtlich abgeschwächt. Doch war keine Substanz völlig undurchdringlich.
Roentgen prüfte sodann weiter die Wirkung und die Natur der Strahlen zunächst nach der chemischen Seite. Zu seiner Genugthuung — denn das war sehr geeignet, die Entdeckung nach vieler Richtung weiter zu controlliren und werthvoll zu machen — fand er, dass dieselben recht geeignet waren, Photographieen zu erzeugen. Er bedurfte dazu gar keines Linsenapparates; es genügte, eine empfindliche photographische Platte in einen Kasten zu legen und den zu photographirenden Gegenstand der neuen Strahlung auszusetzen: durch das Holz hindurch wurde dann eine Photographie auf der in der Cassette befindlichen Platte erzeugt. Indem der dichtere Körper weniger Strahlen durchliess, markirte er sich auf dem Negativ als helle Zeichnung, auf der ausgeführten Photographie als dunkler Körper. So ist es begreiflich, dass beim Photographieren der Hand durch die Weichtheile die fluorescirenden Strahlen hindurchgingen, um so kräftiger aber das Abbild der Knochen entstand, welche ebenso wie der goldenen Ring, den Sie auf dem einen Finger sehen, natürlich bei weitem dichter sind.
[…]
Was die Natur der neuen, von Roentgen als X-Strahlung bezeichneten Strahlen betrifft, so ist dieselbe eine ganz eigenartige, von allen bisher bekannten Strahlungen verschiedene. Die X-Strahlung ist nicht Gesetzen der Refraction unterworfen, sie hat auch keine Reflexion. Sie geht durch jedes Prisma ungebrochen hindurch und wird gar nicht abgelenkt. Roentgen hat die Strahlen durch verschiedene feine metallische Pulver, durch Zinkstaub, durch feines Silberpulver, durch fein zerriebenes Steinsalz passiren lassen; es gab keine Reflexion noch Dispersion. Obgleich die X-Strahlung von der Lichterscheinung an der Kathode in der luftleeren Glasröhre ausgeht, so erfährt sie doch keine Ablenkung durch den Magneten wie die Kathodenstrahlen selber. Dadurch unterscheidet sie sich von letzteren, wie durch den Mangel der Refraction von den ultravioletten Strahlen, welche bekanntlich ein sehr starkes Brechungsvermögen haben.
Roentgen glaubt als Hypothese aussprechen zu müssen, dass die X-Strahlen zu den longitudinal schwingenden Strahlen gehören, welche das Licht zusammensetzen. Schon längst war man in den Kreisen der Physiker der Ueberzeugung, dass es nicht bloss transversale, sondern auch den accustischen Wellen gleiche, longitudinale Schwingungen des Lichtes gäbe.
Für die Medicin ist die Sache augenscheinlich wichtig. Die Chirurgie dürfte daraus jedenfalls Vortheil durch Knochenphotographien am Lebenden ziehen. Fracturen, Luxationen, Auftreibungen, Fremdkörper wird man gut erkennen; ich mache auch auf die scharfen Umrisse der in dem Photogramm hellen Fingergelenke aufmerksam, man wird in die Gelenke hineinsehen können. Es ist auch möglich, dass wir im Innern des Körpers, in den Leibeshöhlen, falls die Strahlen deren Decken passiren, manche Veränderung erkennen werden, vielleicht dichtere Tumoren, welche für die X-Strahlen weniger durchlässig sind, z. B. bei Darmverschluss die Kothstauungen, wodurch die Stelle des Verschlusses dem Auge deutlich würde.
[…]
Quelle: Dr. M. Jastrowitz, „Die Roentgen’schen Experimente mit Kathodenstrahlen und ihre diagnostische Verwerthung“, Deutsche Medicinische Wochenschaft, Jahrgang 22, no. 5 (30. Januar 1896), S. 65-67.