Jürgen Habermas, „Eine Art Schadensabwicklung“ (1986)
Kurzbeschreibung
Ausgangspunkt für den Historikerstreit 1986/87 war der Beitrag „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ des Historikers Ernst Nolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6. Juni 1986), der die Singularität des nationalsozialistischen Genozids – die Shoah bzw. den Holocaust – anzweifelte. Diese Art geschichtsrevisionistischer Deutung kritisierte der Philosoph Jürgen Habermas im Juli 1986 in seinem Beitrag „Eine Art Schadensabwicklung“ und markierte damit zugleich die Fronten der Kontroverse, die in der Folge in den Feuilletons deutscher Tageszeitungen ausgetragen wurde. Der Historikerstreit war eine öffentlich geführte Debatte darüber, wie die jüngste deutsche Geschichte zu deuten sei.
Quelle
Es ist ein auffallender Mangel der Literatur über den Nationalsozialismus, daß sie nicht weiß oder nicht wahrhaben will, in welchem Ausmaß all dasjenige, was die Nationalsozialisten später taten, mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung, in einer umfangreichen Literatur der frühen zwanziger Jahre bereits beschrieben war...Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine „asiatische“ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer „asiatischen“ Tat betrachteten?
Ernst Nolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni 1986
I.
Der Erlanger Historiker Michael Stürmer bevorzugt eine funktionale Deutung des historischen Bewußtseins: „In einem geschichtslosen Land, (gewinnt derjenige) die Zukunft, der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.“ Im Sinne jenes neokonservativen Weltbildes von Joachim Ritter, das in den siebziger Jahren von seinen Schülern aktualisiert worden ist, stellt sich Stürmer Modernisierungsprozesse als eine Art Schadensabwicklung vor. […]
Beobachten wir zunächst den Kölner Zeithistoriker Andreas Hillgruber bei seiner Gratwanderung. Ohne fachliche Kompetenz traue ich mich an die jüngste Arbeit dieses renommierten Zeithistorikers nur heran, weil diese in einer bibliophilen Ausgabe unter dem Titel „Zweierlei Untergang“ bei Wolf Jobst Siedler erschienene Untersuchung offensichtlich an Laien adressiert ist. Ich notiere die Selbstbeobachtung eines Patienten, der sich einer revisionistischen Operation seines Geschichtsbewußtseins unterzieht.
Im ersten Teil seiner Studie beschreibt Hillgruber den Zusammenbruch der deutschen Ostfront während des letzten Kriegsjahres 1944/45. Zu Beginn erörtert er das „Problem der Identifizierung“, die Frage nämlich, mit welcher der seinerzeit beteiligten Parteien der Autor sich in seiner Darstellung identifizieren solle. Da er die Situationsdeutung der Männer vom 20. Juli gegenüber der verantwortungsethischen Haltung der Befehlshaber, Landräte und Bürgermeister vor Ort als bloß „gesinnungsethisch“ schon abgetan hat, bleiben drei Positionen. Die Durchhalteperspektive Hitlers lehnt Hillgruber als sozialdarwinistisch ab. Auch eine Identifikation mit den Siegern kommt nicht in Betracht. Diese Befreiungsperspektive sei nur für die Opfer der Konzentrationslager angebracht, nicht für die deutsche Nation im ganzen. Der Historiker hat nur eine Wahl: „Er muß sich mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten und mit den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich identifizieren, die die Bevölkerung des deutschen Ostens vor den Racheorgien der Roten Armee, den Massenvergewaltigungen, den willkürlichen Morden und den wahllosen Deportationen zu bewahren und ... den Fluchtweg nach Westen freizuhalten suchten.“
Man fragt sich verdutzt, warum der Historiker von 1986 nicht eine Retrospektive aus dem Abstand von vierzig Jahren versuchen, also seine eigene Perspektive einnehmen sollte, von der er sich ohnehin nicht lösen kann. Sie bietet zudem den hermeneutischen Vorzug, die selektiven Wahrnehmungen der unmittelbar beteiligten Parteien in Beziehung zu setzen, gegeneinander abzuwägen und aus dem Wissen des Nachgeborenen zu ergänzen. Aus diesem, man möchte fast sagen: „normalen“ Blickwinkel will Hillgruber jedoch seine Darstellung nicht schreiben, denn dann kämen unvermeidlich Fragen der „Moral in Vernichtungskriegen“ ins Spiel. Die aber sollen ausgeklammert bleiben. Hillgruber erinnert in diesem Zusammenhang an die Äußerung von Norbert Blüm, daß, solange nur die deutsche „Ostfront“ hielt, auch die Vernichtungsaktionen in den Lagern weitergehen konnten. Diese Tatsache müßte einen langen Schatten auf jenes „Bild des Entsetzens von vergewaltigten Frauen und ermordeten Kindern“ werfen, das sich beispielsweise den deutschen Soldaten nach der Rückeroberung von Nemmersdorf geboten hat. Hillgruber geht es um eine Darstellung des Geschehens aus der Sicht der tapferen Soldaten, der verzweifelten Zivilbevölkerung, auch der „bewährten“ Hoheitsträger der NSDAP; er will sich in die Erlebnisse der Kämpfer von damals hineinversetzen, die noch nicht von unseren retrospektiven Kenntnissen eingerahmt und entwertet sind. Diese Absicht erklärt das Prinzip der Zweiteilung der Studie in „Zusammenbruch im Osten“ und „Judenvernichtung“, zwei Vorgänge, die Hillgruber gerade nicht, wie der Klappentext ankündigt, „in ihrer düsteren Verflechtung“ zeigen will.
[…]
III.
Hillgrubers Bonner Kollege Klaus Hildebrand empfiehlt in der Historischen Zeitschrift (Bd. 242. 1986, 465f.) eine Arbeit von Ernst Nolte als „wegweisend“, weil sie das Verdienst habe, der Geschichte des „Dritten Reiches“ das „scheinbar Einzigartige“ zu nehmen und „die Vernichtungskapazität der Weltanschauung und des Regimes“ in die gesamttotalitäre Entwicklung historisierend einzuordnen. Nolte, der schon mit dem Buch über den „Faschismus in seiner Epoche“ (1963) weithin Anerkennung gefunden hatte, ist in der Tat aus anderem Holz geschnitzt als Hillgruber.
In seinem Beitrag „Zwischen Mythos und Revisionismus“ begründet er heute die Notwendigkeit einer Revision damit, daß die Geschichte des „Dritten Reiches“ weitgehend von den Siegern geschrieben und zu einem „negativen Mythos“ gemacht worden sei. Um das zu illustrieren, lädt Nolte zu dem geschmackvollen Gedankenexperiment ein, sich doch einmal das Israelbild einer siegreichen PLO nach der vollständigen Vernichtung Israels auszumalen: „Dann würde sich für Jahrzehnte und möglicherweise für Jahrhunderte niemand trauen, die bewegenden Ursprünge des Zionismus auf den Geist des Widerstandes gegen den europäischen Antisemitismus ... zurückzuführen.“ Selbst die Totalitarismustheorie der fünfziger Jahre habe keine veränderte Perspektive angeboten, sondern nur dazu geführt, in das negative Bild eben auch die Sowjetunion einzubeziehen. Ein Konzept, das derart vom Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat lebt, genügt Nolte noch nicht; ihm geht es um die Dialektik wechselseitiger Vernichtungsdrohungen. Lange vor Auschwitz habe Hitler, meint er, gute Gründe gehabt für seine Überzeugung, daß der Gegner auch ihn habe vernichten wollen – „annihilate“ heißt der Ausdruck im englischen Original. Als Beleg gilt ihm die „Kriegserklärung“, die Chaim Weizmann im September 1939 für den jüdischen Weltkongreß abgegeben und die Hitler dazu berechtigt habe, die deutschen Juden als Kriegsgefangene zu behandeln – und zu deportieren. Man hatte schon vor einigen Wochen in der ZEIT (allerdings ohne Namensnennung) lesen können, daß Nolte dieses abenteuerliche Argument einem jüdischen Gast, seinem Fachkollegen Saul Friedländer aus Tel Aviv, zum Abendessen serviert hatte – jetzt lese ich es schwarz auf weiß.
Nolte ist nicht der betulich-konservative Erzähler, der sich mit dem „Identifikationsproblem“ herumschlägt. Er löst Stürmers Dilemma zwischen Sinnstiftung und Wissenschaft durch forsche Dezision und wählt als Bezugspunkt seiner Darstellung den Terror des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha. Von hier aus rekonstruiert er eine Vorgeschichte, die über den „Gulag“, die Vertreibung der Kulaken durch Stalin und die bolschewistische Revolution zurückreicht bis zu Babeuf, den Frühsozialisten und den englischen Agrarreformern des frühen 19. Jahrhunderts – eine Linie des Aufstandes gegen die kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung, getrieben von der illusionären Sehnsucht nach der Wiederherstellung einer überschaubaren, autarken Welt. In diesem Kontext des Schreckens erscheint dann die Judenvernichtung nur als das bedauerliche Ergebnis einer immerhin verständlichen Reaktion auf das, was Hitler als Vernichtungsdrohung empfinden müßte: „Die sogenannte Vernichtung der Juden während des Dritten Reiches war eine Reaktion oder eine verzerrte Kopie, aber nicht ein erstmaliger Vorgang oder ein Original.“
[…]
Nun könnte man die skurrile Hintergrundphilosophie eines bedeutend-exzentrischen Geistes auf sich beruhen lassen, wenn nicht neokonservative Zeithistoriker sich bemüßigt fühlten, sich genau dieser Spielart von Revisionismus zu bedienen.
Als Beitrag zu den diesjährigen Römerberggesprächen, die mit Vorträgen von Hans und Wolfgang Mommsen auch das Thema der „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ behandelten, bescherte uns das Feuilleton der FAZ vom 6. Juni 1986 einen militanten Artikel von Ernst Nolte – übrigens unter einem scheinheiligen Vorwand (das sage ich in Kenntnis des Briefwechsels, den der angeblich ausgeladene Nolte mit den Veranstaltern geführt hat). Auch Stürmer solidarisierte sich bei dieser Gelegenheit mit dem Zeitungsaufsatz, in dem Nolte die Singularität der Judenvernichtung auf „den technischen Vorgang der Vergasung“ reduziert und mit einem eher abstrusen Beispiel aus dem russischen Bürgerkrieg seine These belegt, daß der Archipel Gulag „ursprünglicher“ sei als Auschwitz. Dem Film „Shoah“ von Lanzmann weiß der Autor nur zu entnehmen, „daß auch die SS-Mannschaften der Todeslager auf ihre Art Opfer sein mochten und daß es andererseits unter den polnischen Opfern des Nationalsozialismus virulenten Antisemitismus gab“. Diese unappetitlichen Kostproben zeigen, daß Nolte einen Fassbinder bei weitem in den Schatten stellt. Wenn die FAZ mit Recht gegen die in Frankfurt geplante Aufführung dieses Stücks zu Felde gezogen ist, warum dann dies?
Ich kann mir das nur so erklären, daß Nolte nicht nur jenes Dilemma zwischen Sinnstiftung und Wissenschaft eleganter umschifft als andere, sondern für ein weiteres Dilemma eine Lösung parat hat. Dieses Dilemma beschreibt Stürmer mit dem Satz: „In der Wirklichkeit des geteilten Deutschlands müssen die Deutschen ihre Identität finden, die im Nationalstaat nicht mehr zu begründen ist, ohne Nation aber auch nicht.“ Die Ideologieplaner wollen über eine Wiederbelebung des Nationalbewußtseins Konsens beschaffen, gleichzeitig müssen sie aber die nationalstaatlichen Feindbilder aus dem Bereich der Nato verbannen. Für diese Manipulation bietet Noltes Theorie einen großen Vorzug. Er schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Nazi-Verbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden. Auschwitz schrumpft auf das Format einer technischen Innovation und erklärt sich aus der „asiatischen“ Bedrohung durch einen Feind, der immer noch vor unseren Toren steht.
IV.
Wenn man sich die Zusammensetzung der Kommissionen ansieht, die die Konzeptionen für die von der Bundesregierung geplanten Museen, das Deutsche Historische Museum in Berlin und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, ausgearbeitet haben, kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß auch Gedanken des Neuen Revisionismus in die Gestalt von Exponaten, von volkspädagogisch wirksamen Ausstellungsgegenständen umgesetzt werden sollen. Die vorgelegten Gutachten haben zwar ein pluralistisches Gesicht. Aber mit neuen Museen dürfte es sich kaum anders verhalten als mit neuen Max-Planck-Instituten: Die programmatischen Denkschriften, die einer Neugründung regelmäßig vorangehen, haben mit dem, was die ins Amt berufenen Direktoren dann daraus machen, nicht mehr viel zu tun. Das schwant auch Jürgen Kocka, dem liberalen Alibi-Mitglied in der Berliner Sachverständigenkommission: „Am Ende wird entscheidend sein, welche Personen die Sache in die Hand nehmen ... auch hier steckt der Teufel im Detail.“
Wer wollte sich schon gegen ernstgemeinte Bemühungen stemmen, das historische Bewußtsein der Bevölkerung in der Bundesrepublik zu stärken. Es gibt auch gute Gründe für eine historisierende Distanzierung von einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Martin Broszat hat sie überzeugend vorgetragen. Jene komplexen Zusammenhänge zwischen Kriminalität und doppelbödiger Normalität des NS-Alltags, zwischen Zerstörung und vitaler Leistungskraft, zwischen verheerender Systemperspektive und unauffällig-ambivalenter Nahoptik vor Ort könnten eine heilsam objektivierende Vergegenwärtigung durchaus vertragen. Die kurzatmig pädagogisierende Vereinnahmung einer kurzschlüssig moralisierten Vergangenheit von Vätern und Großvätern könnte dann dem distanzierenden Verstehen weichen. Die behutsame Differenzierung zwischen dem Verstehen und dem Verurteilen einer schockierenden Vergangenheit könnte auch die hypnotische Lähmung lösen helfen. Allein, diese Art von Historisierung würde sich eben nicht wie der von Hildebrand und Stürmer empfohlene Revisionismus eines Hillgruber oder Nolte von dem Impuls leiten lassen, die Hypotheken einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abzuschütteln. Ich will niemandem böse Absichten unterstellen. Es gibt ein einfaches Kriterium, an dem sich die Geister scheiden: Die einen gehen davon aus, daß die Arbeit des distanzierenden Verstehens die Kraft einer reflexiven Erinnerung freisetzt und damit den Spielraum für einen autonomen Umgang mit ambivalenten Überlieferungen erweitert; die anderen möchten eine revisionistische Historie in Dienst nehmen für die nationalgeschichtliche Aufmöbelung einer konventionellen Identität.
Vielleicht ist diese Formulierung noch nicht eindeutig genug. Wer auf die Wiederbelebung einer in Nationalbewußtsein naturwüchsig verankerten Identität hinauswill, wer sich von funktionalen Imperativen der Berechenbarkeit, der Konsensbeschaffung, der sozialen Integration durch Sinnstiftung leiten läßt, der muß den aufklärenden Effekt der Geschichtsschreibung scheuen und einen breitenwirksamen Pluralismus der Geschichtsdeutungen ablehnen. Man wird Michael Stürmer kaum Unrecht tun, wenn man seine Leitartikel in diesem Sinne versteht: „Beim Betrachten der Deutschen vis-à-vis ihrer Geschichte stellt sich unseren Nachbarn die Frage, wohin das alles treibt. Die Bundesrepublik ... ist Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen des atlantischen Systems. Doch es zeigt sich jetzt, daß jede der heute in Deutschland lebenden Generationen unterschiedliche, ja gegensätzliche Bilder von Vergangenheit und Zukunft mit sich trägt... Die Suche nach der verlorenen Geschichte ist nicht abstraktes Bildungsstreben: sie ist moralisch legitim und politisch notwendig. Denn es geht um die innere Kontinuität der deutschen Republik und ihre außenpolitische Berechenbarkeit.“ Stürmer plädiert für ein vereinheitlichtes Geschichtsbild, das anstelle der ins Private abgedrifteten religiösen Glaubensmächte Identität und gesellschaftliche Integration sichern kann.
Geschichtsbewußtsein als Religionsersatz – ist die Geschichtsschreibung mit diesem alten Traum des Historismus nicht doch etwas überfordert? Gewiß, die deutschen Historiker können auf eine wahrlich staatstragende Tradition ihrer Zunft zurückblicken. Hans-Ulrich Wehler hat kürzlich noch einmal an den ideologischen Beitrag zur Stabilisierung des kleindeutschen Reiches und zur inneren Ausgrenzung der „Reichfeinde“ erinnert. Bis in die späten fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts herrschte jene Mentalität, die sich seit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 und nach der Niederlage der liberalen Geschichtsschreibung vom Typ Gervinus ausgebildet hatte: „Liberale, aufgeklärte Historiker konnte man fortan fast hundert Jahre lang nur mehr isoliert oder in kleinen Randgruppen finden. Die Mehrheit der Zunft dachte und argumentierte reichsnational, staatsbewußt, machtpolitisch.“
Daß sich nach 1945, jedenfalls mit der Generation der nach 1945 ausgebildeten jüngeren Historiker, nicht nur ein anderer Geist, sondern ein Pluralismus von Lesarten und methodischen Ansätzen durchsetzte, ist aber keineswegs nur eine Panne, die sich schlicht reparieren ließe. Vielmehr war die alte Mentalität nur der fachspezifische Ausdruck eines Mandarinenbewußtseins, das die Nazizeit aus guten Gründen nicht überlebt hat: Durch erwiesene Ohnmacht gegen oder gar Komplizenschaft mit dem Naziregime war sie vor aller Augen ihrer Substanzlosigkeit überführt worden. Dieser geschichtlich erzwungene Reflexionsschub hat nicht nur die ideologischen Prämissen der deutschen Geschichtsschreibung berührt; er hat auch das methodische Bewußtsein für die Kontextabhängigkeit jeder Geschichtsschreibung verschärft.
Es ist jedoch ein Mißverständnis dieser hermeneutischen Einsicht, wenn die Revisionisten heute davon ausgehen, daß sie die Gegenwart aus Scheinwerfern beliebig rekonstruierter Vorgeschichten anstrahlen und aus diesen Optionen ein besonders geeignetes Geschichtsbild auswählen könnten. Das geschärfte methodische Bewußtsein bedeutet vielmehr das Ende jedes geschlossenen, gar von Regierungshistorikern verordneten Geschichtsbildes. Der unvermeidliche, keineswegs unkontrollierte, sondern durchsichtig gemachte Pluralismus der Lesarten spiegelt nur die Struktur offener Gesellschaften. Er eröffnet erst die Chance, die eigenen identitätsbildenden Überlieferungen in ihren Ambivalenzen deutlich zu machen. Genau dies ist notwendig für eine kritische Aneignung mehrdeutiger Traditionen, das heißt für die Ausbildung eines Geschichtsbewußtseins, das mit geschlossenen und sekundär naturwüchsigen Geschichtsbildern ebenso unvereinbar ist wie mit jeder Gestalt einer konventionellen, nämlich einhellig und vorreflexiv geteilten Identität.
Was heute als „Verlust der Geschichte“ beklagt wird, hat ja nicht nur den Aspekt des Wegsteckens und des Verdrängens, nicht nur den des Fixiertseins an eine belastete und darum ins Stocken geratene Vergangenheit. Wenn unter den Jüngeren die nationalen Symbole ihre Prägekraft verloren haben, wenn die naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft einem eher tentativen Umgang mit Geschichte gewichen sind, wenn Diskontinuitäten stärker empfunden, Kontinuitäten nicht um jeden Preis gefeiert werden, wenn nationaler Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierungen hindurchgetrieben werden – in dem Maße, wie das wirklich zutrifft, mehren sich die Anzeichen für die Ausbildung einer postkonventionellen Identität. Diese Anzeichen werden aus Allensbach mit Kassandrarufen bedacht; wenn sie nicht trügen, verraten sie nur eins: daß wir die Chance, die die moralische Katastrophe auch bedeuten konnte, nicht ganz verspielt haben.
Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte. Stabilisiert wird das Ergebnis nicht durch eine deutsch-national eingefärbte Natophilosophie. Jene Öffnung ist ja vollzogen worden durch Überwindung genau der Ideologie der Mitte, die unsere Revisionisten mit ihrem geopolitischen Tamtam von „der alten europäischen Mittellage der Deutschen“ (Stürmer) und „der Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte“ (Hillgruber) wieder aufwärmen. Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können. Wer uns mit einer Floskel wie „Schuldbesessenheit“ (Stürmer und Oppenheimer) die Schamröte über dieses Faktum austreiben will, wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzige verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen.
Quelle: Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung (1986). Kleine Politische Schriften VI. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1987. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.