Lise Meitner und Otto Frisch, „Zerfall von Uran durch Neutronen“ (1939)

Kurzbeschreibung

Die Chemiker Otto Hahn und Fritz Strassmann entdeckten im Dezember 1938 beim Beschuss von Uran-Kernen mit Neutronen die Kernspaltung. Allerdings waren sie sich zunächst unklar, wie sie ihre Ergebnisse interpretieren sollten. Hahn kontaktierte seine ehemalige Kollegin, die Kernphysikerin Lise Meitner, die aufgrund der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten nach Kopenhagen ins Exil geflohen war. Gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch veröffentlichte sie im Februar 1939 einen englischsprachigen Brief an den Herausgeber in der Zeitschrift Nature. Darin erklären sie, wie bei der Spaltung der Uran-Kerne durch Neutronenbeschuss Energie freigesetzt worden war.

Quelle

Nature, 11. Februar 1939
Briefe an den Herausgeber

Zerfall von Uran durch Neutronen: eine neue Art von Kernreaktion

Fermi und seine Mitarbeiter1 stellten fest, dass beim Beschuss von Uran mit Neutronen mindestens vier radioaktive Substanzen erzeugt wurden, von denen zwei eine Kernladungszahl über 92 zugeschrieben wurde. Weitere Untersuchungen2 zeigten die Existenz von mindestens neun radioaktiven Halbwertszeiten, von denen sechs schwereren Elementen als Uran zugeschrieben wurden, und es musste eine Kernisomerie angenommen werden, um deren chemisches Verhalten zusammen mit ihren genetischen Beziehungen zu erklären.

Bei der chemischen Zuordnung wurde immer angenommen, dass diese radioaktiven Körper Kernladungszahlen in der Nähe des beschossenen Elements hatten, da nur die Kernemission von Teilchen mit einer oder zwei Ladungen bekannt war. Es wurde zum Beispiel angenommen, dass ein Körper mit osmiumähnlichen Eigenschaften Eka-Osmium ist (Z = 94), anstatt Osmium (Z = 76) oder Ruthenium (Z = 44).

Bei einer auf eine Beobachtung von Curie und Savitch3 folgenden Untersuchung erkannten Hahn und Straßmann4, dass eine Gruppe von mindestens drei radioaktiven Körpern, die unter Neutronenbeschuss aus Uran gebildet wurden, Barium chemisch ähnlich und deshalb vermutlich zu Radium isotop waren. Weitere Untersuchungen5 zeigten jedoch, dass es unmöglich war, diese Körper von Barium zu trennen (obwohl Mesothorium, ein Radiumisotop, leicht im gleichen Experiment zu trennen war), sodass Hahn und Straßmann zu dem Schluss kommen mussten, dass als Folge des Beschusses von Uran (Z = 92) mit Neutronen Bariumisotope (Z = 56) gebildet wurden.

Auf den ersten Blick ist dieses Ergebnis schwer zu verstehen. Die Bildung von Elementen, die weit unter Uran liegen, wurde zuvor in Erwägung gezogen, wurde jedoch aus physikalischen Gründen verworfen, solange der chemische Nachweis nicht eindeutig war. Die Emission einer großen Anzahl geladener Teilchen in einer kurzen Zeitspanne kann durch die geringe Durchlässigkeit der ‚Coulomb-Barriere‘ als ausgeschlossen betrachtet werden, wie aus Gamovs Theorie des Alpha-Zerfalls erkennbar ist.

Auf Grundlage der vorliegenden Ideen zum Verhalten schwerer Kerne6 ist jedoch ein gänzlich anderes und im Wesentlichen klassisches Bild dieser neuen Zerfallsprozesse naheliegend. Aufgrund der engen Packung und des starken Energieaustauschs von Teilchen in einem schweren Kern würde man erwarten, dass sich diese Teilchen auf eine kollektive Weise bewegen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Bewegung eines Flüssigkeitstropfens hat. Falls die Bewegung durch Zuführen von Energie hinreichend heftig gemacht wird, kann sich ein derartiger Topfen in zwei kleinere Tropfen aufteilen.

Bei der Besprechung der bei der Deformation von Kernen involvierten Energien wurde das Konzept der Oberflächenspannung von nuklearer Materie verwendet7 und der Betrag der Oberflächenspannung wurde aus einfachen Überlegungen zu den nuklearen Kräften abgeschätzt. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Oberflächenspannung eines geladenen Tröpfchens durch seine Ladung reduziert wird, und eine grobe Schätzung zeigt, dass die Oberflächenspannung von Kernen, die mit steigender Kernladung abnimmt, für Kernladungszahlen in der Größenordnung von 100 gegen null gehen kann.

Es scheint deshalb möglich, dass der Urankern nur eine geringe Formstabilität aufweist und sich nach einem Neutroneneinfang in zwei Kerne mit ungefähr gleicher Größe aufteilen kann. (Das genaue Größenverhältnis hängt von feineren strukturellen Merkmalen und möglicherweise teilweise vom Zufall ab.) Diese zwei Kerne stoßen einander ab und sollten eine kinetische Gesamtenergie von ca. 200 MeV gewinnen, wie man aus dem Kernradius und der Ladung errechnet. Es kann tatsächlich erwartet werden, dass dieser Energiebetrag aufgrund der Differenz im Packungsverhältnis zwischen Uran und den Elementen in der Mitte des Periodensystems verfügbar ist. Der gesamte Prozess der ‚Kernspaltung‘ kann deshalb auf im Wesentlichen klassische Weise beschrieben werden, ohne quantenmechanische ‚Tunneleffekte‘ berücksichtigen zu müssen, die tatsächlich aufgrund der großen beteiligten Massen extrem klein wären.

Nach der Teilung wird sich das hohe Neutronen/Protonen-Verhältnis von Uran von selbst durch Beta-Zerfall wieder auf den für leichtere Elemente geeigneteren Wert anpassen. Möglicherweise wird deshalb jeder Teil zu einer Zerfallskette führen. Falls einer der Teile ein Bariumisotop ist5, ist der andere Krypton (Z = 92 - 56), das über Rubidium, Strontium und Yttrium zu Zirconium zerfallen könnte. Vielleicht sind dann eine oder zwei der vermeintlichen Barium-Lanthan-Zer-Ketten tatsächlich Strontium-Yttrium-Zirconium-Ketten.

[]

Es ist anzumerken, dass der Körper mit einer Halbwertszeit von 24 min2, der chemisch als Uran identifiziert wurde, möglicherweise tatsächlich 239U ist und in ein Eka-Rhenium übergeht, das inaktiv scheint, jedoch langsam zerfallen kann, möglicherweise mit einer Emission von Alpha-Teilchen. (Aus einer Untersuchung der natürlichen radioaktiven Elemente kann nicht erwartet werden, dass 239U mehr als ein oder zwei Beta-Zerfälle ergibt; die lange Kette der beobachteten Zerfälle hat uns immer verwundert.) Die Bildung dieses Körpers ist ein typischer Resonanzprozess9; der zusammengesetzte Zustand muss eine Lebensdauer aufweisen, die eine Million mal länger als die Zeit ist, die der Kern braucht, um sich zu teilen. Möglicherweise entspricht dieser Zustand einer hochsymmetrischen Art von Bewegung der nuklearen Materie, die eine ‚Spaltung‘ des Kerns nicht begünstigt.

Lise Meitner
Physikalisches Institut, Akademie der Wissenschaften, Stockholm

O. R. Frisch
Institut für theoretische Physik, Universität Kopenhagen

16. Jan. [1939]

1 Fermi, E., Amaldi, F., d’Agostino, O., Rasetti, F. und Segrè, E., Proc. Roy. Soc., A, 146, 483 (1934).
2 Siehe Meitner, L., Hahn, O. und Straßmann, F., Z. Phys., 106, 249 (1937).
3 Curie, I. und Savitch, P., C. R., 208, 906, 1643 (1938).
4 Hahn, O. und Straßmann, F., Naturwiss., 26, 756 (1938).
5 Hahn, O. und Straßmann, F., Naturwiss., 27, 11 (1939).
6 Bohr, N., NATURE, 137, 344, 351 (1936).
7 Bohr, N. und Kalckar, F., Kgl. Danske Vid. Selskab, Math, Phys. Medd., 14, Nr. 10 (1937).
8 Siehe Meitner, L., Straßmann, F. und Hahn, O., Z. Phys., 109, 538 (1938).
9 Bethe, A. H. und Placzek, G., Phys Rev., 51, 450 (1937).

Quelle: Lise Meitner, O. R. (Otto Robert) Frisch, „Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction“, Letter to the Editor, Nature, 11. Februar 1939, S. 239–40. Copyright © 1939, Springer Nature.

Übersetzung: aus dem Englischen ins Deutsche von Carola F. Berger
Lise Meitner und Otto Frisch, „Zerfall von Uran durch Neutronen“ (1939), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-160> [23.10.2024].