Alfred Kühn, Wissenschaft und moralische Verantwortung (1953)

Kurzbeschreibung

Der Zoologe und Genetiker Alfred Kühn, der von 1937 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie und von 1951 bis 1958 das Max-Planck-Institut für Biologie leitete, äußerte sich auf einer Tagung 1953 zur moralischen Verantwortung der Wissenschaft. Kühn resümiert darin sein eigenes Versagen während der nationalsozialistischen Herrschaft. Er betont überdies, dass auch die Naturwissenschaften eine politische und moralische Verantwortung besäßen, und dieser müssten sie anders als im Nationalsozialismus gerecht werden.

Quelle

Aus der Diskussion

ALFRED KÜHN:

[] Als Hitler seine Machtergreifung vorbereitete, hat er die deutschen Wissenschaftler als eine quantité négligeable eingesetzt, und er hat leider damit recht gehabt. Ich werde den quälenden Gedanken nie los, daß es möglich gewesen wäre, vieles zu verhüten, wenn im ersten Augenblick, als Hitler Freiheit und Gerechtigkeit angriff, eine Gruppe deutscher Wissenschaftler protestiert hätte. Als damals aus unseren Kreisen wegen eines Rassenvorurteils wertvolle Glieder entfernt wurden, wenn damals, aber mit einem Herzschlag, spontan, ohne an die Folgen zu denken, nur – sagen wir – fünfzig, hundert deutsche Gelehrte protestiert hätten, was wäre geschehen?

Hätte Hitler damals die ersten deutschen Konzentrationslager für protestierende deutsche Gelehrte errichtet, dann wäre nicht diese Macht im Innern zustandegekommen, und es wäre auch nicht zur Münchener Konferenz gekommen. Das wäre ein Signal gewesen! Und warum verfielen so viele der deutschen Jugend, unserer Schüler, der nationalsozialistischen Ideologie? Nun, weil sie bei uns im besten Falle ablehnende Neutralität sahen. Was konnte man dann von ihnen verlangen?

Wir haben ein Experiment gemacht. Ein Naturwissenschaftler läßt in seinem Laboratorium kein Experiment wiederholen, bei dem das Laboratorium in die Luft fliegt. Und deshalb müssen wir alle, hier und draußen, die Wiederholung eines solchen Experimentes mit unserem persönlichen Einsatz verhindern.

Ganz richtig hat Herr Plessner gesagt: Mit der Demokratisierung der Gesellschaft ist nicht die Gefahr der Diktatur ausgeschlossen, und diese Keime müssen ausgetreten werden. Und die, die Keime tragen, müssen wissen, daß sie einen Feind gegen sich haben, der unerbittlich ist: die Wissenschaftler der ganzen Welt!

Quelle: Der Kongress für die Freiheit der Kultur, Wissenschaft und Freiheit. Internationale Tagung Hamburg, 23.–26. Juli 1953. Veranstaltet vom Kongress für die Freiheit der Kultur und der Universität Hamburg. Berlin: Grunewald Verlag, 1954, S. 269.

Alfred Kühn, Wissenschaft und moralische Verantwortung (1953), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-8> [01.12.2023].