Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887)

Kurzbeschreibung

Der Soziologie und Nationalökonom Ferdinand Tönnies publizierte 1887 sein Standardwerk Gemeinschaft und Gesellschaft. In den ausgewählten Abschnitten diskutiert Tönnies, welche Merkmale eine Gemeinschaft bzw. Gesellschaft habe. Seiner Ansicht nach zeichnete eine Gemeinschaft aus, dass sie Menschen aufgrund persönlicher Beziehungen einte. Demgegenüber waren die Mitglieder einer Gesellschaft nicht aufgrund einer übergeordneten Kategorie wie Religiosität miteinander verbunden. Vielmehr hatten sie sich willentlich zusammengeschlossen, also auf der Basis rationaler Erwägungen.

Quelle

Erstes Buch. Allgemeine Bestimmung der Hauptbegriffe.

THEMA

§1

Die menschlichen Willen stehen in vielfachen Beziehungen zu einander; jede solche Beziehung ist eine gegenseitige Wirkung, die insofern, als von der einen Seite getan oder gegeben, von der anderen erlitten oder empfangen wird. Diese Wirkungen sind aber entweder so beschaffen, daß sie zur Erhaltung, oder so, daß sie zur Zerstörung des anderen Willens oder Leibes tendieren: bejahende oder verneinende. Auf die Verhältnisse gegenseitiger Bejahung wird diese Theorie als auf die Gegenstände ihrer Untersuchung ausschließlich gerichtet sein. Jedes solche Verhältnis stellt Einheit in der Mehrheit oder Mehrheit in der Einheit dar. Es besteht aus Förderungen, Erleichterungen, Leistungen, welche hinüber und herüber gehen, und als Ausdrücke der Willen und ihrer Kräfte betrachtet werden. Die durch dies positive Verhältnis gebildete Gruppe heißt, als einheitlich nach innen und nach außen wirkendes Wesen oder Ding aufgefaßt, eine Verbindung. Das Verhältnis selber, und also die Verbindung, wird entweder als reales und organisches Leben begriffen — dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung — dies ist der Begriff der Gesellschaft. Durch die Anwendung wird sich herausstellen, daß die gewählten Namen im synonymischen Gebrauche deutscher Sprache begründet sind. Aber die bisherige wissenschaftliche Terminologie pflegt sie ohne Unterscheidung nach Belieben zu verwechseln. So mögen doch im voraus einige Anmerkungen den Gegensatz als einen gegebenen darstellen. Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde. Der Jüngling wird gewarnt vor schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem Sprachsinne zuwider. Von der häuslichen Gesellschaft mögen wohl die Juristen reden, wenn sie nur den gesellschaftlichen Begriff einer Verbindung kennen; aber die häusliche Gemeinschaft mit ihren unendlichen Wirkungen auf die menschliche Seele wird von jedem empfunden, der ihrer teilhaftig geworden ist. Ebenso wissen wohl die Getrauten, daß sie in die Ehe als vollkommene Gemeinschaft des Lebens (communio totius vitae) sich begeben; eine Gesellschaft des Lebens widerspricht sich selber. Man leistet sich Gesellschaft; Gemeinschaft kann niemand dem andern leisten. In die religiöse Gemeinschaft wird man aufgenommen; Religions-Gesellschaften sind nur, gleich anderen Vereinigungen zu beliebigem Zwecke, für den Staat und für die Theorie, welche außerhalb ihrer stehen, vorhanden. Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens; aber Gesellschaft des Erwerbes, der Reise, der Wissenschaften. So sind insonderheit die Handelsgesellschaften bedeutend; wenn auch unter den Subjekten eine Vertraulichkeit und Gemeinschaft vorhanden sein mag, so kann man doch von Handels-Gemeinschaft kaum reden. Vollends abscheulich würde es sein, die Zusammensetzung Aktien-Gemeinschaft zu bilden. Während es doch Gemeinschaft des Besitzes gibt: an Acker, Wald, Weide. Die Güter-Gemeinschaft zwischen Ehegatten wird man nicht Güter-Gesellschaft nennen. So ergeben sich manche Unterschiede. Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer die gesamte Menschheit umfassenden Gemeinschaft reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche Gesellschaft wird als ein bloßes Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen verstanden. Wenn man daher neuerdings, in wissenschaftlichem Begriffe, von der Gesellschaft innerhalb eines Landes, im Gegensatze zum Staate, handelt, so wird dieser Begriff aufgenommen werden, aber erst in dem tieferen Widerspruch gegenüber den Gemeinschaften des Volkes seine Erläuterung finden. Gemeinschaft ist alt, Gesellschaft neu, als Sache und Namen. Dies hat ein Autor erkannt, der sonst nach allen Seiten die politischen Disziplinen lehrte, ohne in ihre Tiefen einzudringen. „Der ganze Begriff der Gesellschaft im sozialen und politischen Sinn (sagt Bluntschli, Staatswörterbuch IV) findet eine natürliche Grundlage in den Sitten und Anschauungen des dritten Standes. Er ist eigentlich kein Volks-Begriff, sondern immerhin nur ein Drittenstands-Begriff . . . seine Gesellschaft ist zu einer Quelle und zugleich zum Ausdruck gemeinsamer Urteile und Tendenzen geworden . . . wo immer die städtische Kultur Blüten und Früchte trägt, da erscheint auch die Gesellschaft als ihr unentbehrliches Organ. Das Land kennt sie nur wenig.“ Dagegen hat aller Preis des Landlebens immer darauf gewiesen, daß dort die Gemeinschaft unter den Menschen stärker, lebendiger sei: Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefakt verstanden werden soll.

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Erster Abschnitt
THEORIE DER GEMEINSCHAFT

§1

Die Theorie der Gemeinschaft geht solchen Bestimmungen gemäß von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch dieselbe hindurch, sich erhalte, je nach der notwendigen und gegebenen Beschaffenheit der Verhältnisse zwischen verschieden bedingten Individuen mannigfach gestaltet. Die allgemeine Wurzel dieser Verhältnisse ist der Zusammenhang des vegetativen Lebens durch die Geburt; die Tatsache, daß menschliche Willen, insofern als jeder einer leiblichen Konstitution entspricht, durch Abstammung und Geschlecht miteinander verbunden sind und bleiben, oder notwendigerweise werden; welche Verbundenheit als unmittelbare gegenseitige Bejahung in der am meisten energischen Weise sich darstellt durch drei Arten von Verhältnissen; nämlich 1. durch das Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem Kinde; 2. durch das Verhältnis zwischen Mann und Weib als Gatten, wie dieser Begriff im natürlichen oder allgemein-animalischen Sinne zu verstehen ist; 3. zwischen den als Geschwister, d. i. zum wenigsten als Sprossen desselben mütterlichen Leibes sich Kennenden. Wenn in jedem Verhältnisse von Stammverwandten zueinander der Keim oder die in den Willen begründete Tendenz und Kraft zu einer Gemeinschaft vorgestellt werden mag, so sind jene drei die stärksten oder am meisten der Entwicklung fähigen Keime von solcher Bedeutung. Jedes aber auf besondere Weise: A) das mütterliche ist am tiefsten in reinem Instinkte oder Gefallen begründet; auch ist hier der Übergang von einer zugleich leiblichen zu einer bloß geistigen Verbundenheit gleichsam handgreiflich; und diese weist um so mehr auf jene zurück, je näher sie ihrem Ursprunge ist; das Verhältnis bedingt eine lange Dauer, indem der Mutter die Ernährung, Beschützung, Leitung des Geborenen obliegt, bis es sich allein zu ernähren, zu beschützen, zu leiten fähig ist; zugleich aber verliert es in diesem Fortschreiten an Notwendigkeit, und macht Trennung wahrscheinlicher; diese Tendenz kann aber wiederum durch andere aufgehoben oder doch gehemmt werden, nämlich durch die Gewöhnung aneinander und durch Gedächtnis der Freuden, die sie einander gewährt haben, zumal durch die Dankbarkeit des Kindes für mütterliche Sorgen und Mühen; zu diesen unmittelbaren gegenseitigen Beziehungen treten aber gemeinsame und indirekt verbindende zu Gegenständen außer ihnen hinzu: Lust, Gewohnheit, Erinnerung an Dinge der Umgebung, die ursprünglich angenehm, oder angenehm geworden sind; so auch an bekannte, hilfreiche, liebende Menschen; als der Vater sein mag, wenn er mit dem Weibe zusammenlebt, oder Brüder und Schwestern der Mutter oder des Kindes usw. B) Der Sexual-Instinkt macht nicht ein irgendwie dauerndes Zusammenleben notwendig; auch führt er zunächst nicht so leicht zu einem gegenseitigen Verhältnisse, als zu einseitiger Unterjochung des Weibes, welches, von Natur schwächer, zum Gegenstande des bloßen Besitzes oder zur Unfreiheit herabgedrückt werden kann. Daher muß das Verhältnis zwischen Gatten, wenn es unabhängig von der Stammesverwandtschaft und von allen darin beruhenden sozialen Kräften betrachtet wird, hauptsächlich durch Gewöhnung aneinander unterstützt werden, um als ein dauerndes und als ein Verhältnis gegenseitiger Bejahung sich zu gestalten. Hierzu kommen auf eine verständliche Weise die übrigen schon erwähnten Faktoren der Befestigung; besonders das Verhältnis zu den erzeugten Kindern als gemeinsamem Besitz; sodann überhaupt zu gemeinsamer Habe und Wirtschaft. C) Zwischen Geschwistern herrscht kein so ursprüngliches und instinktives Gefallen und keine so natürliche Erkenntnis voneinander, als zwischen der Mutter und ihrem Kinde, oder zwischen verwandten Wesen ungleichen Geschlechtes. Zwar kann dieses letztere Verhältnis mit dem geschwisterlichen zusammenfallen, und es gibt vielen Grund, für wahr zu halten, daß dieses in einer frühen Epoche des Menschentums bei manchen Stämmen ein häufiger Fall gewesen ist; wobei jedoch erinnert werden muß, daß dort, und gerade so lange, als die Abstammung nur nach der Mutter gerechnet wird, Name und Empfindung des Geschwistertums auf die gleichen Grade der Vetterschaft ausgedehnt sich findet, so allgemein, daß der beschränkte Sinn, wie in vielen andern Fällen, erst einer späten Konzeption eigen ist. Jedoch durch eine gleichmäßige Entwicklung in den bedeutendsten Völkergruppen, schließen Ehe und Geschwistertum, sodann (in der exogamischen Praxis) zwar nicht Ehe und Blutsverwandtschaft, aber doch Ehe und Klanverwandtschaft, einander vielmehr mit voller Bestimmtheit aus; und so darf die schwesterlich-brüderliche Liebe als die am meisten menschliche, und doch in der Blutsverwandtschaft noch durchaus beruhende, Beziehung von Menschen aufeinander hingestellt werden. Dieses tut sich — in Vergleichung zu den beiden anderen Arten der Verhältnisse — auch darin kund, daß hier, wo der Instinkt am schwächsten, das Gedächtnis am stärksten zur Entstehung, Erhaltung, Befestigung des Bandes der Herzen mitzuwirken scheint. Denn wenn es gegeben ist, daß (wenigstens) die Kinder derselben Mutter, weil mit der Mutter, so auch miteinander Zusammenleben und bleiben, so verbindet sich — wenn von allen solche Tendenzen hemmenden Ursachen der Feindseligkeit abgesehen wird — notwendigerweise, in der Erinnerung des einen, mit allen angenehmen Eindrücken, Erlebnissen, die Gestalt und das Tun des andern; und zwar um so eher und stärker, je enger, und etwa auch, je mehr nach außen hin gefährdet, diese Gruppe gedacht wird, und folglich alle Umstände auf ein Zusammenhalten und gemeinsames Kämpfen und Wirken hindrängen. Woraus dann wiederum Gewohnheit solches Leben immer leichter und lieber macht. Zugleich darf unter Brüdern auch, in möglichst hohem Grade, Gleichheit des Wesens und der Kräfte erwartet werden, wogegen dann die Unterschiede des Verstandes oder der Erfahrung, als der rein menschlichen oder mentalen Momente, um so heller sich abheben können.

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Zweiter Abschnitt
THEORIE DER GESELLSCHAFT

§ 19

Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten. Folglich finden hier keine Tätigkeiten statt, welche aus einer a priori und notwendigerweise vorhandenen Einheit abgeleitet werden können, welche daher auch insofern, als sie durch das Individuum geschehen, den Willen und Geist dieser Einheit in ihm ausdrücken, mithin so sehr für die mit ihm Verbundenen als für es selber erfolgen. Sondern hier ist ein jeder für sich allein, und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen. Die Gebiete ihrer Tätigkeit und ihrer Macht sind mit Schärfe gegeneinander abgegrenzt, so daß jeder dem anderen Berührungen und Eintritt verwehrt, als welche gleich Feindseligkeiten geachtet werden. Solche negative Haltung ist das normale und immer zugrundeliegende Verhältnis dieser Macht-Subjekte gegeneinander, und bezeichnet die Gesellschaft im Zustande der Ruhe. Keiner wird für den anderen etwas tun und leisten, keiner dem anderen etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet. Es ist sogar notwendig, daß sie ihm willkommener sei, als was er hätte behalten können, denn nur die Erlangung eines Besser-Scheinenden wird ihn bewegen, ein Gutes von sich zu lösen. Wenn aber ein jeder solchen Willens teilhaftig ist, so ist durch sich selber deutlich, daß zwar die Sache a für das Subjekt B besser sein kann als die Sache b, und ebenso die Sache b für das Subjekt A besser als die Sache a; aber nicht ohne diese Relationen zugleich a besser als b und b besser als a. Es macht nun die Frage sich geltend, in welchem Sinne überhaupt von Güte oder Wert von Sachen, der von solchen Relationen unabhängig sei, geredet werden könne. Worauf zu antworten: in der hier gebotenen Vorstellung werden alle Güter als getrennte vorausgesetzt, wie ihre Subjekte — was einer hat und genießt, das hat und genießt er mit Ausschließung aller übrigen; es gibt kein Gemeinsam-Gutes in Wirklichkeit. Es kann solches geben, durch Fiktion der Subjekte; welche aber nicht anders möglich ist, als indem zugleich ein gemeinsames Subjekt und dessen Wille fingiert oder gemacht wird, worauf dieser gemeinsame Wert bezogen werden muß. Solche Fiktionen werden aber nicht ohne zureichenden Grund erfunden. Zureichender Grund dafür ist schon in dem einfachen Akte der Hingabe und Annahme eines Gegenstandes vorhanden, insofern als dadurch eine Berührung und Entstehung eines gemeinsamen Gebietes stattfindet, das von beiden Subjekten gewollt wird und während der Zeitdauer der „Transaktion“ beharrt; welche Dauer sowohl als eine verschwindende oder gleich Null gesetzt werden, als auch in der Vorstellung zu beliebiger Länge ausgedehnt werden kann. In dieser Zeit hat solches aus dem Gebiete, sage des A sich ablösende Stück aufgehört, ganz und gar unter diesem Willen oder dieser Herrschaft zu stehen; es hat noch nicht angefangen, ganz und gar unter dem Willen und der Herrschaft, sage des B zu stehen: es steht noch unter einer partiellen Herrschaft des A und schon unter einer partiellen Herrschaft des B. Es ist abhängig von beiden Subjekten, insofern als ihre Willen in bezug darauf gleichgerichtet sein mögen, wie es der Fall ist, so lange als der Wille des Gebens und Empfangens dauert; es ist gemeinsames Gut, sozialer Wert. Der darauf bezogene, verbundene und gemeinsame Wille kann nun als ein einheitlicher gedacht werden, welcher bis zur Ausführung des zwiefachen Aktes von jedem fordert, ihn zu vollenden. Er muß als eine Einheit gedacht werden, insofern er als Subjekt begriffen oder ihm ein Subjekt gegeben wird; denn etwas als Seiendes oder als Ding denken, und es als Einheit denken, ist einerlei. Hier aber möge mit Sorgfalt unterschieden werden, ob und wie lange solches ens fictivum nur für die Theorie, also im wissenschaftlichen Denken vorhanden sei; oder, und wann, auch im Denken seiner eigenen Subjekte, für bestimmten Zweck von ihnen gesetzt (was voraussetzt, daß sie schon ohnehin gemeinsamen Wollens und Tuns fähig sind); denn wiederum ein anderes ist es, wenn sie nur als Teilnehmer an der Urheberschaft des im wissenschaftlichen Sinne Objektiven vorgestellt werden (insofern als es dasjenige ist, was unter gegebenen Bedingungen „alle“ denken müssen). Und es muß allerdings verstanden werden, daß jeder Akt des Gebens und Empfangens, in der angezeigten Weise, einen sozialen Willen implicite mitsetzt. Nun aber ist sothane Aktion nicht denkbar ohne ihren Grund oder Zweck, d. i. die angenommene Gegengabe, und folglich, da diese Aktion ebenso bedingt ist, so kann keine der anderen Vorgehen, sie müssen in der Zeit zusammenfallen, oder — denselben Gedanken anders auszudrücken —: die Annahme ist gleich der Hingabe eines angenommenen Ersatzes; so daß der Tausch selber, als vereinigter und einziger Akt, Inhalt des fingierten Sozial-Willens ist. In bezug auf denselben Willen sind die ausgetauschten Güter oder Werte gleich. Die Gleichheit ist sein Urteil und ist gültig für die beiden Subjekte, insofern als sie, in ihrer Einigkeit, es gesetzt haben; daher auch nur für die Dauer des Tausches, nur in bezug auf den Zeitpunkt des Tausches. Damit es, auch in dieser Beschränkung, objektiv oder allgemein-gültig werde, so muß es als von „allen“ gefälltes Urteil erscheinen. Alle müssen daher diesen einzigen Willen haben; der Tauschwille verallgemeinert sich; alle nehmen teil an dem einzelnen Akte und bestätigen ihn, er wird absolut-öffentlich. Im Gegenteile kann die Allgemeinheit diesen einzelnen Akt verneinen; sie erklärt: a ist nicht = b, sondern > b oder < b; d. i. die Sachen sind nicht nach ihrem wahren Werte ausgetauscht. Der wahre Wert ist der Wert in bezug auf alle, als allgemeines gesellschaftliches Gut gedacht. Es wird konstatiert, wenn niemand die eine Sache in der anderen höher oder niedriger schätzt. Es ist aber nur das Vernünftige, Richtige, Wahre, in bezug worauf alle nicht auf zufällige, sondern auf notwendige Weise übereinstimmen; so daß sie in bezug darauf einig sind, und konzentriert gedacht werden in dem messenden, wägenden, wissenden Richter, welcher das objektive Urteil fällt. Dieses müssen alle anerkennen, müssen danach sich richten, insofern, als sie selber Vernunft oder ein objektives Denken haben, also denselben Maßstab gebrauchen, mit derselben Waage wägen.

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Anhangsweise
Ergebnis und Ausblick

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§7

Zwei Zeitalter stehen mithin, um diese gesamte Ansicht zu beschließen, in den großen Kulturentwicklungen einander gegenüber: ein Zeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft. Dieses ist durch den sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion bezeichnet, jenes durch den sozialen Willen als Konvention, Politik, öffentliche Meinung. Und solchen Begriffen entsprechen die Arten des äußeren Zusammenlebens, welche ich zusammenfassend folgendermaßen unterscheiden will:

A) Gemeinschaft
1. Familienleben = Eintracht. Hierin ist der Mensch mit seiner ganzen Gesinnung. Ihr eigentliches Subjekt ist das Volk.
2. Dorfleben = Sitte. Hierin ist der Mensch mit seinem ganzen Gemüte. Ihr eigentliches Subjekt ist das Gemeinwesen.
3. Städtisches Leben = Religion. Hierin ist der Mensch mit seinem ganzen Gewissen. Ihr eigentliches Subjekt ist die Kirche.

B) Gesellschaft
1. Großstädtisches Leben = Konvention. Diese setzt der Mensch mit seiner gesamten Bestrebung. Ihr eigentliches Subjekt ist die Gesellschaft schlechthin.
2. Nationales Leben = Politik. Diese setzt der Mensch mit seiner gesamten Berechnung. Ihr eigentliches Subjekt ist der Staat.
3. Kosmopolitisches Leben = öffentliche Meinung. Diese setzt der Mensch mit seiner gesamten Bewußtheit. Ihr eigentliches Subjekt ist die Gelehrten-Republik.
An jede dieser Kategorien knüpft sich ferner eine überwiegende Beschäftigung und herrschende Tendenz damit verbundener Geistesrichtung, welche demnach so zusammengehören:

A):
1. Hauswirtschaft: beruht auf Gefallen: nämlich auf Lust und Liebe des Erzeugens, Schaffens, Erhaltens. In Verständnis sind die Normen dafür gegeben.
2. Ackerbau: beruht auf Gewohnheiten: nämlich regelmäßig wiederholter Arbeiten. In Bräuchen wird dem Zusammenarbeiten Maß und Richtung gewiesen.
3. Kunst: beruht auf Gedächtnissen: nämlich empfangener Lehre, eingeprägter Regeln, eigener Ideen. Im Glauben an Aufgabe und Werk verbinden sich die künstlerischen Willen.

B):
1. Handel beruht auf Bedachten: nämlich Aufmerksamkeit, Vergleichung, Rechnung ist die Grundbedingung alles Geschäftes: Handel ist die reine (willkürliche) Handlung. Und Kontrakt ist Brauch und Glaube des Handels.
2. Industrie: beruht auf Beschlüssen: nämlich vernünftiger produktiver Anwendung von Kapital und des Verkaufes von Arbeitskraft. Satzungen beherrschen die Fabrik.
3. Wissenschaft: beruht auf Begriffen: wie von selber evident. In Lehrmeinungen gibt sie sich ihre eigenen Gesetze und stellt ihre Wahrheiten und Ansichten dar, die in die Literatur, die Presse und somit in die öffentliche Meinung übergehen.

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Quelle: Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887). Sechste und siebente Auflage. Berlin: Verlag Karl Curtius, 1926, S. 1–5, 8–10, 39–41, 247–48.

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-163> [28.11.2023].