Aus Alfred Doves Vorwort zu Leopold von Rankes Weltgeschichte, Teil IX, Abt. 2 (1888)

Kurzbeschreibung

Der Einfluss, den Leopold von Ranke (1795–1886) auf die moderne Geschichtswissenschaft hatte, kann kaum überschätzt werden. Seine quellengestützten Methoden, mit denen er versuchte, die Geschichte als eine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, legte er in vielen wichtigen Werken dar. In diesem Auszug werden verschiedene Schlüsselelemente des Ranke’schen Historismus erwähnt. Darunter finden sich der noch unreflektierte Glaube, dass Ereignisse in der Gegenwart ihren Sinngehalt aus der Vergangenheit in einem ununterbrochenen Kontinuum beziehen, die Forderung, exakte rationale Erkundungen der Vergangenheit durchzuführen sowie das kognitive Wechselspiel des Besonderen und des Allgemeinen oder „Universellen“ beim Versuch, Ereignissen eine eigene Ordnung und Bedeutung zuzuschreiben. Darüber hinaus wird in diesem Abschnitt dem historischen Wissen spezifische Bedeutung für die Herstellung nationaler Identität und Zugehörigkeit zugewiesen – eine Vorstellung, die deutsche Historiker im 19. Jahrhundert zu Repräsentanten nationaler Verantwortlichkeit werden ließ.

Quelle

[] „Gestehen wir ein,“ lauten nunmehr seine Worte, „daß die Geschichte nie die Einheit eines philosophischen Systems haben kann; aber ohne inneren Zusammenhang ist sie nicht. Vor uns sehen wir eine Reihe von aufeinanderfolgenden, einander bedingenden Ereignissen. Wenn ich sage: bedingen, so heißt das freilich nicht durch absolute Notwendigkeit. Das Große ist vielmehr, daß die menschliche Freiheit überall in Anspruch genommen wird: die Historie verfolgt die Scenen der Freiheit; das macht ihren größten Reiz aus. Zur Freiheit aber gesellt sich die Kraft und zwar ursprüngliche Kraft; ohne diese hört jene in den Weltereignissen sowohl, wie auf dem Gebiete der Ideen auf. Jeden Augenblick kann wieder etwas neues beginnen, das nur auf die erste und gemeinschaftliche Quelle alles menschlichen Thuns und Lassens zurückzuführen ist; nichts ist ganz um des anderen willen da; keines geht ganz in der Realität des anderen auf. Aber dabei waltet doch auch ein tiefer, inniger Zusammenhang ob, von dem niemand ganz unabhängig ist, der überall eindringt. Der Freiheit zur Seite besteht die Notwendigkeit. Sie liegt in dem bereits Gebildeten, nicht wieder Umzustoßenden, welches die Grundlage aller neu emporkommenden Thätigkeit ist. Das Gewordene konstituiert den Zusammenhang mit dem Werdenden. Aber auch dieser Zusammenhang selbst ist nichts willkürlich Anzunehmendes; sondern er war auf eine bestimmte Weise, so und so, nicht anders. Er ist ebenfalls ein Objekt der Erkenntnis. Eine längere Reihe von Ereignissen – nacheinander und nebeneinander – auf solche Weise mit einander verbunden, bildet ein Jahrhundert, eine Epoche. Die Verschiedenheit der Epochen beruht darauf, daß aus dem Kampf der Gegensätze von Freiheit und Notwendigkeit andere Zeiten, andere Zustände hervorgehen. Vergegenwärtigen wir uns in diesem Sinne die Reihe der Jahrhunderte, jedes in seiner ursprünglichen Wesenheit, alle in sich verkettet, so werden wir die Universalgeschichte vor uns haben, von Anbeginn bis auf den heutigen Tag. Die Universalgeschichte begreift das vergangene Leben des menschlichen Geschlechts, und zwar nicht in einzelnen Beziehungen und Richtungen, sondern in seiner Fülle und Totalität.

Dadurch unterscheidet sich die universalhistorische Wissenschaft von der Einzelforschung, daß sie, im einzelnen forschend, doch immer das große Ganze, an dem sie arbeitet, vor Augen hat.

Die Erforschung des Einzelnen, ja eines einzigen Punktes, hat ihren Wert, wenn sie glücklich vollzogen wird. Menschlichen Dingen gewidmet, bringt sie doch immer etwas unmittelbar Wissenswürdiges zu Tage; auch im kleinen geübt ist sie belehrend, denn das Menschliche ist immer wissenswürdig. Aber auch sie wird sich doch allezeit auf einen größeren Zusammenhang beziehen; selbst die lokale Geschichte auf die eines Landes, die Biographie auf die einer größeren Begebenheit in Staat und Kirche, auf eine Epoche der nationalen oder der allgemeinen Geschichte. Alle diese Epochen aber gehören, wie gesagt, wieder dem großen Ganzen an, das wir Universalhistorie nennen. Ihre Erforschung in größerer Umfassung hat einen entsprechend größeren Wert. Das letzte Ziel, ein noch unerreichtes, bleibt immer die Auffassung und Produktion einer Geschichte der Menschheit. Bei dem Gange, den die Studien in unserer Zeit genommen haben und den sie insofern behalten müssen, als sie gründlich erforschte, genau erkannte Dinge darstellen sollen, laufen wir doch Gefahr, das Allgemeine, von jedermann zu erkennen Begehrte, aus dem Auge zu verlieren. Denn nicht allein für die Schule studiert man Historie: die Erkenntnis der Geschichte der Menschheit soll ein Gemeingut der Menschheit sein und vor allem der Nation, der wir angehören und ohne die unsere Studien selbst nicht sein würden, zu gute kommen.

Wir haben nicht zu besorgen, in die vagen Allgemeinheiten zu geraten, mit denen eine frühere Zeit sich begnügte; sie dürften jetzt gar nicht mehr vorgetragen werden: so fruchtbringend und eingreifend haben die emsigen und zugleich energischen Studien gewirkt, die auf jeder Stelle unternommen worden sind. Auch zu den systematischen Kategorien, mit denen man sich dann und wann getragen hat, dürften wir nicht zurückkehren. Eine Anhäufung historischer Notizen mit einem flüchtigen Urteil über Charakter und Moralität führt ebensowenig zu einer gründlichen und befriedigenden Kunde. Meiner Ansicht nach müssen wir auf zwei Direktiven ausgehen: Erforschung der wirksamen Momente der Begebenheiten, und Wahrnehmung ihres allgemeinen Zusammenhanges.

Das Ganze zu umfassen und doch dem Gesetz der Forschung gerecht zu werden, bleibt freilich immer ein Ideal: es würde das Verständnis der gesamten Menschheitsgeschichte auf festem Grund und Boden in sich schließen. Die Erforschung des einen und des anderen Punktes erfordert schon ein tiefes und höchst eindringendes Studium. Heutzutage sind wir indes alle einverstanden, daß Kritik, objektive Auffassung und umfassende Kombination zusammengehen können und müssen. Die Beziehung auf ein Allgemeines kann der Forschung keinen Eintrag thun: ohne jenes würde diese erkalten, ohne diese die Auffassung in ein Hirngespinst ausarten.“

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Quelle: Alfred Dove, „Vorwort“ in Leopold von Ranke, Weltgeschichte, 9. Theil, 2. Abtheilung: Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II. von Bayern gehalten, herausgegeben von Alfred Dove. Nebst Gesammtregister zu Teil I–IX bearbeitet von Georg Winter. Leipzig: Verlag von Dunker und Humblot, 1888, S. XIII–XVI.

Aus Alfred Doves Vorwort zu Leopold von Rankes Weltgeschichte, Teil IX, Abt. 2 (1888), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-139> [01.12.2023].