Aufruf zur Gründung einer jüdischen Bibliothek und Lesehalle, Hamburg (1905)

Kurzbeschreibung

Das dichte Netz von Bibliotheken und Lesehallen in Deutschland stand einer Bürgerschaft mit der höchsten Alphabetisierungsrate der Welt zur Verfügung und bezeugte den hohen Stellenwert des Lesens im deutschen Alltagsleben. Die deutsche Bibliothekskultur, die aus den berühmten Lesegesellschaften des späten 18. Jahrhunderts hervorging und die nach der Gründung des Deutschen Reiches auch von staatlicher Seite gefördert wurde, zog Interessierte aus allen sozialen Schichten an. Das schloss auch Juden mit ein, die in der wilhelminischen Ära den tiefen Bildungshunger ihrer Gemeinschaft nach Büchern und anderen Druckerzeugnissen erkannten, gleichzeitig aber auch das Bedürfnis hatten, gängige Lesegewohnheiten in bestimmte Richtungen zu lenken. Aus diesem Grund riefen Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Hamburg zur Gründung einer jüdischen Bibliothek und einer Lesehalle auf, die „gesunde“ Bücher für Bildung und Unterhaltung bereithalten und so das Seelenleben der Benutzer anregen sollten. Es war beabsichtigt, solche Werke zu sammeln, die jüdische Errungenschaften in Vergangenheit und Gegenwart bezeugten: Dadurch sollte die Bibliothek nicht nur ein Ort des Wissens, sondern auch der Identitätsstiftung werden.

Quelle

HAMBURG, Oktober 1905.

Die Idee der Volksbücherei hat nach den grossartigen Vorbildern Amerikas und Englands auch in Deutschland derartig sich eingebürgert, dass jede Gründung einer Bibliothek und in Verbindung damit einer dem Publikum zugängigen Lesehalle besonderer Rechtfertigung nicht bedarf. In jedem solchen Falle ist der leitende Beweggrund, die Qualität der geistigen Kost der verschiedensten Bevölkerungsschichten zu erhöhen und das stets vorhandene Lesebedürfnis richtig zu lenken. Jeder Einzelne soll die ihm zusagende gesunde Nahrung finden, woran er den in des Lebens Kampf leicht ermattenden inneren Menschen zu erfrischen und zu stärken vermag.

Neben den allgemeinen Charakter tragenden Institutionen sind aber auch solche erforderlich, die den besonderen Bedürfnissen Rechnung tragen. Dem jüdischen Teil des Publikums muss es ermöglicht sein, sich Kenntnis zu verschaffen über die grossen weltbewegenden jüdischen Ideen, über die vieltausendjährige Geschichte und die eigenartigen Geschicke seines Stammes, über literarische, wissenschaftliche und künstlerische Erzeugnisse der Vergangenheit und Gegenwart, die von Juden ausgegangen oder für jüdische Kreise bestimmt sind.

Frei von jeder Tendenz und Beeinflussung sollen jüdische Bibliothek und Lesehalle

Bildung und idealen Genuss unter der Bevölkerung verbreiten. Mehrere der unterzeichneten Vereine stellen für diesen Zweck ihre Büchersammlungen und das Israelitische Gemeinschaftsheim wie bisher fernerhin, seine Räume, Hartungstrasse 9 II, zur Verfügung. Es ist indess erforderlich, dass die Bücherei wesentlich verstärkt und dauernd vervollständigt, dass eine grosse Zahl von Zeitungen ausgelegt und auch dass mancherlei Verwaltungskosten beschafft werden.

Die unterzeichneten Vorstände sprechen deshalb nicht nur im besonderen Interesse der von ihnen vertretenen Vereine, sondern in dem unseres gesamten jüdischen Publikums die Bitte aus, die Institution, die unter dem Namen

Jüdische Lesehalle

zur Verfügung gestellt ist und zu deren Benutzung wir freundlichst und dringend einladen, durch dauernde Beiträge gütigst zu unterstützen.

Zu letzterem Zwecke wird die Anmeldung durch Ausfüllung und Uebersendung des angehefteten Formulars höflichst erbeten.

Israelitisches Gemeinschaftsheim

Henry Jones-Loge U.O.B.B.

Israelitisch-humanitärer Frauen-Verein.

Israelitischer Jugendbund.

Verein für jüdische Geschichte und Literatur.

Gesellschaft für jüdische Volkskunde.

Hamb. Zionistische Vereinigung.

Quelle: Aufruf zur Gründung einer jüdischen Bibliothek und Lesehalle, Hamburg, Oktober 1905, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-21.de.v1. Aus dem Staatsarchiv Hamburg; StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, Nr. 887.

Aufruf zur Gründung einer jüdischen Bibliothek und Lesehalle, Hamburg (1905), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-169> [06.12.2024].