Johann David Michaelis, Fragen an eine Gesellschaft Gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen (1762)
Kurzbeschreibung
Der Göttinger Professor und Theologe Johann David Michaelis (1717–1791) war einer der angesehensten deutschen Orientalisten des 18. Jahrhunderts. In den 1750er Jahren plante Michaelis eine ausgedehnte Reise zur Erforschung des Vorderen Orients, vor allem um den Wahrheitsgehalt der Bibel mit empirischen Methoden nachzuprüfen. Michaelis verfasste für diese Reise einen Fragenkatalog, der die unterschiedlichsten Themenfelder abdeckte und die Beobachtungen der Expedition systematisch erfassen sollte. An der Reise selbst, die in den 1760er Jahren realisiert wurde, nahm Michaelis nicht teil.
Die Frage Nr. 2 zielt auf die empirische Überprüfung der biblischen Erzählung, nach der es den Israeliten auf der Flucht vor den Ägyptern möglich gewesen sei, das rote Meer zu durchschreiten. Michaelis‘ Hypothese ist, dass es eine Ebbe gab, die durch starke Winde verstärkt wurde. Michaelis gibt den Ort vor, von wo die Beobachtung erfolgen soll, und fordert die Reisenden auf, die Zeiten von Ebbe und Flut genauestens zu notieren. Zum Einholen weiterer Informationen sollten Einheimische, vor allem „Schiffsleute“, befragt werden. Des Weiteren fordert Michaelis die Expedition auf die Frage zu klären, ob es eventuell einen Isthmus aus Korallen gebe, auf dem die Israeliten hätten gehen können, und wie der Meeresboden beschaffen sei, d.h. ob er die Flüchtenden hätte tragen können.
Quelle
II.
Von der Ebbe an der aͤußersten Spitz des rothen Meers, ihrer Zeit, Staͤrke, und der Tiefe, nebst dem Boden des Meers an dem Orte, wo die Israeliten hindurch gegangen sind: desgleichen von Corallen.
Diese ganze Frage, die sich auf den Durchgang der Israeliten durch das rothe Meer beziehet, wird man vollständiger verstehen, wenn man meine Vorrede und Noten zu dem Tractat Essay physiques sur l’ heure des marées dans la mer rouge durchzulesen beliebet. Ihre ganze Absicht ist, mit Gewißheit zu bestimmen, ob durch eine Ebbe uͤber Ebbe, welche ein der Fluth widriger Nord-Nord-West-Wind verursachete, so viel von dem Meer hat ausgetrocknet werden koͤnnen, daß den Israeliten eine Straße durch dasselbe, geöffnet ward.
Der Ort, wo die Beobachtungen von den Reisenden anzustellen sind, ist das Thal Bedea, unweit Suez, als welches fuͤr die Stelle des Durchganges gehalten wird.
Es ist naͤmlich zufoͤrderst gewiß, daß das rothe Meer noch in diesem seinen aͤußersten Winkel bey Bedea Ebbe und Fluth hat: allein die Zeit, da dieselbe eintrit, hat noch kein Reisender angemerkt, und weil dieß kein Ocean, sondern die entlegenste Spitze eines langen und mit Inseln besaͤeten Meerbusens ist, so kann man sie a priori nach dem Lauf des Mondes nicht bestimmen.
Es wird daher gebeten, mit genauer Meldung des Tages, an dem die Beobachtung gemacht ist, die Stunde und Minute aufzuzeichnen, an welcher das hoͤchste und niedrigste Wasser gewesen, und die Ebbe und Fluth wiederum ihren Anfang genommen hat. Am angenehmsten wuͤrde es seyn, wenn die Observation mehrere Tage nach einander wiederhohlet, und dazu einige Tage zwischen dem 17 und 24sten den Mondes (nicht des Monaths, sondern von dem Neumonde an) genommen wuͤrden. Am meisten aber kommt mir auf die beyden Naͤchte vor und nach dem 24sten Tage nach dem Neumond, (es sey in welchem Monathe des Jahrs es wolle) an, weil meiner Meynung nach in einer dieser zwey Naͤchte der Durchgang geschehen seyn muß.
Auch wird anzumerken seyn, wie hoch das Wasser bey der Fluth perpendiculariter steige, und wie tief es bey der Ebbe falle. Koͤnnte man noch bey der Ebbe die zunehmende Geschwindigkeit des Fallens anzeigen, so wuͤrde dieß der Observation eine neue Brauchbarkeit geben; weil man daraus einiger maßen berechnen koͤnnte, wie viel das Wasser fallen muͤßte, wenn wegen eines der Fluth widrigen Windes, den Moses zu beschreiben scheint, Ebbe uͤber Ebbe entstuͤnde, und mit Ausbleibung der Fluth das Wasser 19 Stunden an einander abnaͤhme.
Hierbey wollte ich wohl bitten, die am rothen Meer wohnende, und andere Kenner desselben, z. B. Schiffsleute, fleißig zu fragen: ob nicht bisweilen, wenn ein heftiger Nord-Nord-West-Wind wehet, der das Wasser des rothen Meers dem Indianischen Ocean zutreibt, und die Fluth abhaͤlt bey Babelmandeb einzudringen, Ebbe uͤber Ebbe entstehe? Wie tief wohl dabey das Wasser, und zwar in wie viel Stunden gesunken sey? desgleichen, ob sie wohl bey starkem Suͤd-Suͤd-Ost-Winde Fluth auf Fluth erlebt haben, und wie hoch da das Wasser gestiegen sey? sonderlich zur Zeit der Springfluth?
Soll uͤbrigens durch eine außerordentliche und sonder Exempel starke Ebbe uͤber Ebbe der Boden des Meers entbloͤßt seyn, so muß die Stelle nicht gar tief gewesen, und diese Untiefe von einem Ufer bis zum andern hinuͤber gereicht haben. Ich will dieß aus Unkunde der Schiffersprache einen Isthmum unter dem Meere nennen, und frage: ob in der Gegend Bedea ein solcher Isthmum unter dem Meere entdeckt werden koͤnne?
Zu beyden Seiten dieses Isthmi muͤßte Wasser stehen geblieben seyn, welches nach Mosis Erzaͤhlung den Israeliten zu Mauern gedient, d. i. die Aegypter gehindert hat, ihnen in die Flanque zu fallen. Soll dieß seyn, so muß die See zu beyden Seiten des Isthmi so tief gewesen seyn, daß sie ihr Wasser nicht voͤllig verlohr. Finden sich Tiefen zu beyden Seiten des von mir vermutheten Isthmi?
Wie breit ist etwan der eben erwaͤhnte Isthmus? Denn wenn er zu schmahl und ein spitzer Ruͤcken eines unterseeischen Huͤgels waͤre, so wuͤrden 600000 Mann, mit zwey Millionen Weibern und Kindern, in einer Nacht ihn nicht haben passiren koͤnnen. Da man dieß, und noch daruͤber gegen die Moͤglichkeit des Durchganges eingewandt hat, daß der Boden einer See schlammicht, und mit unzaͤhligen ein Heer aufhaltenden Seegewaͤchsen bedeckt sey: so bitte ich auch hierauf zu merken, und den Boden der See, so viel moͤglich zu beschreiben, wie er bey Bedea ist. Vermuthlich ist er nicht schlammicht, sondern oben mit Corallen bedeckt, die in einer gewißen Tiefe schon zu Stein geworden seyn werden. Sind diese Corallen hart genug, Menschen zu tragen?
Quelle: Johann David Michaelis, Fragen an eine Gesellschaft Gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königes von Dännemark nach Arabien reisen. Frankfurt am Mayn, bey Johann Gottlieb Garbe, 1762, S. 4–9. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10411996-7
Weiterführende Inhalte
Tilman Nagel und Carola Klaus, „Forschungsreisen nach Arabien“, in Tilman Nagel und Carola Klaus, Hrsg., Begegnung mit Arabien. 250 Jahre Arabistik in Göttingen. Göttingen: Wallstein, 1998, S. 19–24.
Maike Rauchstein, Fremde Vergangenheit: zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717–1791). Bielefeld: transcript, 2017.