Friedrich Christian Lesser, Testaceo-theologia, oder, Gründlicher Beweis des Daseyns und der vollkommnesten Eigenschaften eines göttlichen Wesens (1744)
Kurzbeschreibung
In der Frühen Neuzeit standen Wissenschaft und Religion nicht im Gegensatz, sondern in einem produktiven Verhältnis zueinander. Die Erforschung der Natur wurde insbesondere von lutherischen Theologen als eine Art Gottesdienst begriffen, da man versuchte die göttlichen Schöpfung zu verstehen. Das Studium der Natur wurde auch als Lesen im „Buch der Natur“ begriffen. Die sogenannte Physikotheologie suchte nach göttlichen Erklärungen für Naturphänomene. So wurde etwa das Vorkommen von Fossilien in Bergen als eine Folge der Sintflut begriffen.
Der lutherische Theologe Friedrich Christian Lesser (1692–1754) rechtfertigt in der Einleitung zu seiner Testaceo-theologia das Studium kleiner und gewöhnlicher Naturobjekte, die zuvor als der wissenschaftlichen Betrachtung unwürdig angesehen wurden. Darüber hinaus missachteten selbst Gelehrte die Nützlichkeit kleiner und gewöhnlicher Wesen wie Schnecken und Krebstiere. Laut Lesser war jedoch selbst das kleinste Wesen ein göttliches Wunder, das ein eigenes Studium verdiente.
Quelle
Einleitung
Zu der Testaceotheologia.
§.1. Pfleget die heilige Schrift, wenn sie etwas merckwuͤrdiges von geistlichen Dingen vortraͤgt, oft auszurufen: Wer Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre; so mag ein vernuͤnftiger Christ, wenn er den offenen Schauplatz der Welt, und deren mannigfaltige Geschoͤpfe nach ihren verschiedenen Bewunderns-wuͤrdigen Eigenschaften anschauet, wohl mit Recht ausrufen: Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Denn vernuͤnftige Menschen sind schuldig, die Geschoͤpfe, welche die Weisheit GOttes, als Zeugen ihrer Allmacht, Weisheit und Guͤte ihnen vorgestellet, mit genauer Aufmercksamkeit zu betrachten, weil ja dieselbige nicht deswegen ans Licht gebracht, daß die Menschen ihre Augen davor zuthun sollen, sondern wie man einen Schauplatz deswegen oͤffnet, daß die Zuschauer sehen sollen, was auf demselbigen vorgehet; so hat auch der grosse GOtt die Geschoͤpfe auf die Erde gesetzet, und das Licht aus der Finsterniß herfuͤr gehen heissen, damit sie denen menschlichen Augen entdecket darstuͤnden, und von denenselben des Anschauens gewuͤrdiget wuͤrden. Ob nun wohl die Menschen schuldig sind, auch die allergeringsten Geschoͤpfe GOttes mit genauem Anschauen zu betrachten, so sind doch die meisten unter denenselbigen mit sehenden Augen so blind, daß sie die Geschoͤpfe, so ihnen taͤglich vor die Augen kommen, und die ihnen entweder gering, oder unnuͤtzlich scheinen, nicht allein mit einer strafbaren Unachtsamkeit uͤbergehen, sondern auch, wo sie ihnen ja gezeiget werden, mit einer solchen Unempfindlichkeit und Kaltsinnigkeit anschauen, daß nicht die geringste Bewunderung derselben in ihnen entstehet. Es ist ja zu bewundern, daß so gar viel Menschen uͤber die Geschoͤpfe der Welt, in welchen man die hoͤchste Erkaͤntniß, die mannigfaltige Weisheit, die unumschraͤnckte Allmacht GOttes als in einem Spiegel sehen kan und soll, keine gehoͤrige Betrachtung anstellen. Sie leben in der Welt, und sind doch Fremdlinge drinnen, gleich als ob sie auser der Welt waͤren, und noch nichts darinnen gesehen haͤtten. Sie sind gleich denen Reisenden, welche des Nachts durch eine schoͤne Stadt fahren, aber hernach nicht sagen koͤnnen, wie sie ausgesehen. Und aus diesem Quell ruͤhrt es her, daß die mehresten Menschen die Steinschalichten Thiere, als Schnecken und Muscheln, nicht der geringsten Betrachtung wuͤrdig schaͤtzen, sondern sie, als unnuͤtze Auswuͤrfe der Erden und des Wassers, oder als Spiel-Sachen unvernuͤnftiger Kinder, veraͤchtlich halten.
[…]
§. 7. Gleichwohl finden sich aus angefuͤhrten Ursachen sehr viele, welche vor vielen Geschoͤpfen unachtsam vorbey gehen, und sie nicht einmahl eines Ansehens, geschweige denn einiges Nachsinnen wuͤrdigen. Und so geht es auch mit denen Steinschalichten Thieren oder Schnecken. Es waͤre diese Kaltsinnigkeit dem unverstaͤndigen Poͤbel noch zu vergeben, theils, weil viele in Laͤndern wohnen, so von der See weit entfernet sind, mithin keine Gelegenheit haben, die mancherley Arten derselben zu sehen, (wiewohl sie doch allerhand Erd- und Fluß-Schnecken, wenn sie ihnen vorkaͤmen, genauer ansehen koͤnten,) theils, weil sie diese Thiere geringer, als andere Erd- und Wasser-Thiere halten koͤnnen; wenn nur nicht Leute, die sich vor andern vor klug halten, bey ihrer Einbildung diejenigen, welche sich genauer um diese Thierlein bekuͤmmern, als Leute von niedertraͤchtiger Seele ansaͤhen, und laͤcherlich zu machen suchten. Mir ist dasselbige mehr denn einmahl begegnet, daß vermeinte Gelehrte, wenn sie diese und andere natuͤrlichen Geschoͤpfe in meiner kleinen Naturalien-Cammer gesehen, sich gewundert, warum ich solche Sachen aufhuͤbe?[1] Allein diese bedencken nicht, daß das veraͤchtlichste Thierlein als ein natuͤrliches Wunderwerck (wenn ich so reden darf) anzusehen, und mit solchen Eigenschaften und kuͤnstlichen Gliedern begabet sey, die nichts anders, als eine unendliche Macht und Weisheit verfertigen koͤnnen. Die kleineste Schnecke, welche kaum eines Nadel-Kopfes, oder Gersten-Kornes groß, ist so unvergleichlich verfertiget, von so zarten und kuͤnstlichen Gliedern, von einer so Regel-maͤßigen Abtheilung, daß weder der groͤsseste Monarch, mit allen seinen Macht-Spruͤchen und Befehlen dergleichen zuwege bringen, noch der geschickteste Kuͤnstler dergleichen in allen Stuͤcken nachahmen kan.[2] Es hat ja der grosse GOtt alle und jegliche Geschoͤpfe, folglich auch die Schnecken denen vernuͤnftigen Menschen als Spiegel und Zeugen seiner unendlichen Macht und unerforschlichen Weisheit zu vernuͤnftiger Betrachtung vorgestellet. Alle andere Creaturen koͤnnen die Wercke des Schoͤpfers nicht beurtheilen. Die Sonne beleuchtet zwar mit ihren guͤldenen Strahlen den Erdboden, aber sie weiß davon nichts. Die Thiere wachsen und leben, aber sie stellen keine Gedancken an uͤber den, von welchem sie Leben und Odem haben. Ein Loͤwe kennet nicht seine Staͤrke, eine Nachtigal nicht ihre Stimme, ein schoͤner Butter-Vogel nicht seine Schoͤnheit, und eine fressende Raupe nicht denjenigen, der ihr ihre Nahrung giebt. Daher soll ja billig der Mensch, welcher von dem grossen GOtt mit Verstand begabt ist, solchen auch darzu anwenden, daß er alle Geshoͤpfe desselben zum Preise des Schoͤpfers betrachte.
[…]
Anmerkungen
Quelle: Friedrich Christian Lesser, Testaceo-theologia, oder, Gründlicher Beweis des Daseyns und der vollkommensten Eigenschaften eines göttlichen Wesens aus natürlicher und geistlicher Betrachtung der Schnecken und Muscheln zur gebührender Verherrlichung des grossen Gottes und Beförderung des ihm schuldigen Dienstes ausgefertiget. Leipzig, 1744, S. 1–10.
Weiterführende Inhalte
Anne-Charlott Trepp, „Matters of Belief and Belief that Matters: German Physico-Theology, Protestantism and the Materialised Word of God in Nature“, in Religion and Science in Europe (1650–1750): Physico-Theology, herausgegeben von Ann Blair und Kaspar von Greyerz. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2020
Anne-Charlott Trepp, „Zwischen Inspiration und Isolation. Naturerkundung als Frömmigkeitspraxis in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, zeitenblicke 5, Nr. 1 (2006).