Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775)

Kurzbeschreibung

Johann Caspar Lavater (1741–1801) war ein schweizerischer Pastor und Autor zahlreicher religiöser und mystischer Schriften – und patriotischer Gedichte. Die Methode, den Charakter des Einzelnen auf der Grundlage äußerer anatomischer Eigenschaften zu bewerten, hat ihre Wurzeln in der griechischen Antike und wurde durch Lavaters Werk wiederbelebt. Er prahlte damit, dass seine verschwenderisch illustrierten Physiognomische Fragmente (seiner Behauptung nach das teuerste bis zu diesem Zeitpunkt je gedruckte Buch) nicht für den gemeinen Mann gedacht waren. Das Werk löste eine Flut an Reaktionen aus – sowohl Lob wie auch Kritik und Häme. Es ist in der Tat „fragmentarisch“, da es keine kohärente physiognomische Theorie liefert.

Quelle

Zweytes Fragment.

Von der Physiognomik.

Da dieses Wort so oft in dieser Schrift vorkmmt, so muß ich vor allen Dingen sagen, was ich darunter verstehe: Nmlich — die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen; das, was nicht unmittelbar in die Sinne fllt, vermittelst irgend eines natrlichen Ausdrucks wahrzunehmen. In so fern ich von der Physiognomik als einer Wissenschaft rede — begreif' ich unter Physiognomie alle unmittelbaren Aeußerungen des Menschen. Alle Zge, Umrisse, alle passive und active Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menschlichen Krpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Mensch unmittelbar bemerkt werden kann, wodurch er seine Person zeigt — ist der Gegenstand der Physiognomik.

Im weitesten Verstand ist mir menschliche Physiognomie — das Aeußere, die Oberflche des Menschen in Ruhe oder Bewegung, sey's nun im Urbild oder irgend einem Nachbilde. Physiognomik, das Wissen, die Kenntnisse des Verhltnisses des Aeußern mit dem Innern; der sichtbaren Oberflche mit dem unsichtbaren Innhalt; dessen was sichtbar und wahrnehmlich belebt wird, mit dem, was unsichtbar und unwahrnehmlich belebt; der sichtbaren Wirkung zu der unsichtbaren Kraft.

Im engern Verstand ist Physiognomie die Gesichtsbildung, und Physiognomik Kenntniß der Gesichtszge und ihrer Bedeutung.

Da nun der Mensch so verschiedene Seiten hat, deren jede sich besonders beobachten und beurtheilen lßt, so entstehen daher so vielerley Physiognomien— so mancherley Physiognomik.

Man kann zum Exempel die Bildung des Menschen insbesondere betrachten — die Proportion, den Umriß, die Harmonie seiner Gliedmaßen, seine Gestalt — nach einem gewissen Ideal von Ebenmaß, Schnheit, Vollkommenheit — Und die Fertigkeit, diese richtig zu beurtheilen, und mit diesem Urtheil das Urtheil ber seinen Hauptcharacter zu verbinden — Fundamental-Physiognomik heißen; oder, wenns nicht mißtnend und ungeschickt ausgedrückt wre, die physiologische.

Man kann durch die Zergliederung Theile des Menschen zu Oberflchen machen — gewisse innere Theile knnen besonders beobachtet werden, entweder durch ußere Endungen, oder durch Aufschließung der Krper. Die Fertigkeit von diesen Aeußerlichkeiten auf gewisse innere Beschaffenheiten zu schließen, wre die anatomische Physiognomik; diese beschfftigt sich mit der Beobachtung und Beurtheilung der Knochen und Gebeine, der Muskeln, der Eingeweyde; der Drsen, der Adern und Gefße, der Nerven; der Banden der Gebeine.

Man kann die Blutmischung, die Constitution, die Wrme, die Klte, die Plumpheit oder Feinheit, die Feuchtigkeit, Trockenheit, Biegsamkeit, Reizbarkeit eines Menschen wiederum insbesondere betrachten: Und die Fertigkeit in solchen Beobachtungen und daraus hergeleiteten Urtheilen ber seinen Character — könnte man Temperamentsphysiognomik heißen.

Medicinische Physiognomik diejenige, die sich mit Erforschung der Zeichen der Gesundheit und Krankheit des menschlichen Körpers beschfftigt.

Die moralische, die die Gesinnungen und Krfte des Menschen Gutes oder Bses zu wirken, oder — zu leiden, aus ußern Zeichen erforscht.

Die intellectuelle, die sich mit den Geisteskrften des Menschen, in so fern sie durch seine Bildung, Gestalt, Farbe, Bewegungen, kurz durch sein ganzes Aeußeres, erkennbar sind, beschfftigt.

Und so verschiedene besondere Seiten der Mensch haben mag, so vielerley Arten der Physiognomik sind mglich.

Wer bloß nach den ersten Eindrcken, welche das Aeußere eines Menschen auf uns macht, richtig von seinem Character urtheilt — ist ein natrlicher Physiognomist; — wer bestimmt die Zge, die Aeußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die ihm Character sind, ein wissenschaftlicher; und ein philosophischer der, der die Grnde von diesen so und so bestimmten Zgen und Ausdrcken, die innern Ursachen dieser ußern Wirkungen zu bestimmen im Stande ist.

Aus dem wenigen, was bisher gesagt ist, erhellet, wie unendlich weitluftig die Physiognomik, und wie schwer es ist — ein ganzer Physiognomiste zu seyn.

Ich glaube, es ist unmglich, daß Einer es werden knne. Wol dem, der nur Eine Seite des Menschen so kennt, wie es ihm und der menschlichen Gesellschaft ntzlich ist, sie zu kennen.

Es ist keines Menschen, keiner Akademie, keines Jahrhunderts Werk eine Physiognomik zu schreiben.

Zugabe.

Man wird sich fters nicht enthalten knnen, die Worte Physiognomie, Physiognomik in einem ganz weiten Sinne zu brauchen. Diese Wissenschaft schließt vom Aeußern aufs Innere. Aber was ist das Aeußere am Menschen? Warlich nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Geberden, die seine innern Krfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Besitzthmer, Kleider, alles modificirt, alles verhllt ihn. Durch alle diese Hllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden Bestimmungen feste Punkte zu finden, von denen sich auf sein Wesen sicher schließen lßt, scheint ußerst schwer, ja unmglich zu seyn. Nur getrost! Was den Menschen umgiebt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurck auf selbiges, und indem er sich modificiren lßt, modificirt er wieder rings um sich her. So lassen Kleider und Hausrath eines Mannes sicher auf dessen Character schließen. Die Natur bildet den Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natrlich; er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzunt, ummauert sich eine kleine drein, und staffirt sie aus nach seinem Bilde.

Stand und Umstnde mgen immer das, was den Menschen umgeben muß, bestimmen, aber die Art, womit er sich bestimmen lßt, ist hchst bedeutend. Er kann sich gleichgltig einrichten wie andere seines gleichen, weil es sich nun einmal so schickt; diese Gleichgltigkeit kann bis zur Nachlßigkeit gehen. Eben so kann man Pnktlichkeit und Eifer darinnen bemerken, auch ob er vorgreift, und sich der nchsten Stufe über ihm gleichzustellen sucht, oder ob er, welches freylich hchst selten ist, eine Stufe zurck zu weichen scheint. Ich hoffe, es wird niemand seyn, der mir verdenken wird, daß ich das Gebiet des Physiognomisten also erweitere. Theils geht ihn jedes Verhltniß des Menschen an, theils ist auch sein Unternehmen so schwer, daß man ihm nicht verargen muß, wenn er alles ergreift, was ihn schneller und leichter zu seinem großen Zwecke fhren kann.

Quelle: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig und Winterthur: Bey Weidmanns Erben und Reich, und Heinrich Steiner und Compagnie, 1775, S. 13–16. Online verfügbar unter: http://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/38

Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-20> [05.12.2024].