Georg Christoph Lichtenberg, Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenerkenntnis (1778)

Kurzbeschreibung

Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) war ein Experimentalphysiker und Aphorist, der für seine elektrischen Experimente ebenso bekannt wurde wie für seine posthum veröffentlichten Aphorismen. In seiner Replik auf Johann Caspar Lavater prangert er die Verbreitung der Physiognomie als eine modische, abergläubische Praxis an, mit der man auf der Stirn der Menschen „die Sterne lesen“ könne. Lichtenberg unterscheidet zwischen Physiognomie (als den reduzierenden Versuch, Charakter und Verhalten mit der physischen Erscheinung in Verbindung zu bringen) und Pathognomie, dem Studium von Affekt, Emotion und Ausdruck. Letzteres habe, so seine Behauptung, einige Stichhaltigkeit, da es dem menschlichen Willen und Verstand Raum lasse.

Quelle

Ueber Physiognomik

Gewiß hat die Zollfreyheit unsrer Gedanken und der geheimsten Regungen unsers Herzens bey uns nie auf schwächern Füssen gestanden als jetzt, wenn man aus der Emsigkeit, der Menge und dem Muth der Helden und Heldinnen, die sich wieder sie auflehnen, auf ihren baldigen Umsturz schliessen darf. Man dringt von allen Seiten auf die zukommlichsten Werke ihrer Befestigung und wo man sonst geheimen Vorrath vermuthet, mit einer Hitze ein, die mehr einem Gotisch=Vandalischen Sturm als einer überdachten Belagerung ähnlich sieht, und viele behaupten, eine förmliche Uebergabe könne schlechterdings nicht mehr weit seyn. Es giebt aber auch eine Menge minder sanguinischer Menschen, die dafür halten, die Seele liege über ihrem geheimsten Schatz noch jetzt so unzukommlich sicher, als vor Jahrtausenden, und lächle über die anwachsenden Babylonischen Werke ihrer stolzen Stürmer, überzeugt, daß sich, lange vor ihrer Vollendung, die Sprachen der Arbeiter verwirren, und Meister und Gesellen aus einander gehen werden.

Die Sache, wovon hier die Rede ist, ist die Physiognomik, und die erwähnten Partheyen kein geringer Theil der guten Gesellschaft unsers Vaterlandes. Nach beyder Grundsätzen lassen sich zerstreute Anmerkungen darüber in einem Taschen=Calender rechtfertigen. Nach ersteren ist es das Epochemachende Weltumschaffende, und nach letzteren Brauchbarkeit für das Jahr 1778 bey der Toilette.

Der Verfasser ist nicht von der Parthey jener Belagerer, und man wird also in nachstehendem Aufsatz keinen förmlichen Unterricht in der Physiognomik erwarten. Es ist auch in der That zu dieser Zeit Unterricht nicht mehr so nöthig, als es die Ermahnung ist, ihn an den bekannten Orten mit Behutsamkeit und selbst mit Mistrauen zu suchen; und diese allein enthält der Aufsatz. Denn ob Physiognomik überhaupt, auch in ihrer grösten Vollkommenheit, je Menschenliebe befördern werde, ist wenigstens ungewiß: daß aber mächtige, beliebte und dabey thätige Stümper in ihr, der Gesellschaft gefährlich werden können, ist gewiß. Indessen alle Aufsuchung Physiognomischer Grund=Regeln hemmen zu wollen, hat der Verfasser so wenig die Absicht als das Vermögen, und ferne sey es von ihm, sich Bemühungen zu widersetzen, die vielleicht, wie die ihnen ähnlichen, den Stein der Weisen zu finden, auf nützlichere Dinge leiten können, als ihr Zweck, ich meine: in diesen traurigen Tagen der falschen Empfindsamkeit Beobachtungsgeist aufwecken, zu Selbsterkenntnis führen und den Künsten vorarbeiten.

Um allem alten Mißverständniß auszuweichen und neuem vorzubeugen, wollen wir hier einmal für allemal erinnern, daß wir das Wort Physiognomik in einem eingeschränkteren Sinn nehmen, und darunter die Fertigkeit verstehen, aus der Form und Beschaffenheit der äusseren Theile des menschlichen Körpers, hauptsächlich des Gesichts, ausschließlich aller vorübergehenden Zeichen der Gemüthsbewegungen, die Beschaffenheit des Geistes und Herzens zu finden; hingegen soll die ganze Semiotik der Affekten oder die Kenntniß der natürlichen Zeichen der Gemüthsbewegungen, nach allen ihren Gradationen und Mischungen Pathognomik heissen. Das letztere Wort ist schon zu diesem Gebrauch vorgeschlagen worden. Es wird hier nicht nöthig seyn ein neues Wort zu machen, das beyde unter sich faßte, oder welches besser wäre, statt des erstern ein anderes zu suchen, und dann Physiognomik zum allgemeinen Ausdruck anzunehmen, wie jetzt gewöhnlich ist, und wie es auch deswegen in der Aufschrift zu diesem Aufsatz genommen worden.

Niemand wird läugnen, daß in einer Welt, in welcher sich alles durch Ursache und Wirkung verwandt ist, und wo nichts durch Wunderwerke geschieht, jeder Theil ein Spiegel des Ganzen ist. Wenn eine Erbse in die Mittelländische See geschossen wird, so könnte ein schärferes Auge als das unsrige, aber noch unendlich stumpfer als das Auge dessen, der alles sieht, die Wirkung davon auf der Chinesischen Küste verspüren. Und was ist ein Lichttheilgen, das auf die Netzhaut des Auges stößt, verglichen mit der Masse des Gehirns und seiner Aeste, anders? Dieses setzt uns oft in den Stand, aus dem Nahen auf das Ferne zu schliessen, aus dem Sichtbaren auf das Unsichtbare, aus dem Gegenwärtigen auf das Vergangene und Künftige. So erzählen die Schnitte auf dem Boden eines zinnenen Tellers die Geschichte aller Mahlzeiten, denen er beygewohnt hat, und ebenso enthält die Form jedes Landstrichs, die Gestalt seiner Sandhügel und Felsen, mit natürlicher Schrift die Geschichte der Erde, ja jeder abgerundete Kiesel, den das Weltmeer auswirft, würde sie einer Seele erzählen, die so an ihn angekettet würde, wie die unsrige an unser Gehirn. Auch lag vermuthlich das Schicksal Roms in dem Eingeweide des geschlachteten Thieres, aber der Betrüger der es darin zu lesen vorgab, sah es nicht darin. Also wird ja wohl der innere Mensch auf dem äusseren abgedruckt seyn? Auf dem Gesicht, von dem wir hier hauptsächlich reden wollen, werden Zeichen und Spuren unserer Gedanken, Neigungen und Fähigkeiten anzutreffen seyn. Wie deutlich sind nicht die Zeichen, die Clima und Handthierung dem Körper eindrücken? und was ist Clima und Handthierung gegen eine immer würkende Seele die in jeder Fiber lebt und schafft? An dieser absoluten Lesbarkeit von allem in allem zweifelt niemand. Auch ist es nicht nöthig, zum Beweiß, daß es eine Physiognomik gebe, Exempel in Menge beyzubringen, wo man aus dem äussern eines Dinges auf das innere zu schliessen pflegt, wie einige Schriftsteller gethan haben. Der Beweiß wird sehr kurz, wenn man sagt: unsere Sinne zeigen uns nur Oberflächen, und alles andere sind Schlüsse daraus. Besonderes Tröstliches folgt hieraus für Physiognomik, ohne nähere Bestimmung, nichts, da eben dieses Lesen auf der Oberfläche die Quelle unserer Irrthümer, und in manchen Dingen unserer gänzlichen Unwissenheit ist. Wenn das innere auf dem äussern abgedruckt ist, steht es deswegen für unsere Augen da? und können nicht Spuren von Wirkungen, die wir nicht suchen, die bedecken und verwirren die wir suchen? So wird nicht verstandene Ordnung endlich Unordnung, Wirkung nicht zu erkennender Ursachen Zufall, und wo zu viel zu sehen ist, sehen wir nichts. Das Gegenwärtige, sagt ein großer Weltweiser[1], von dem Vergangenen geschwängert, gebiert das Künftige. Sehr schön. Aber was für eiteles, elendes Stückwerk ist nicht gleich unsere Wetterweisheit? Und nun gar unsere prophetische Kunst! Trotz den Bänden meteorologischer Beobachtungen ganzer Academien, ist es noch immer so schwer vorher zu sagen, ob übermorgen die Sonne scheinen wird, als es vor einigen Jahrhunderten gewesen seyn muß, den Glanz des Hohenzollerischen Hauses voraus zu sehn. Und doch ist der Gegenstand der Meteorologie, so viel ich weiß, eine blosse Maschine, deren Triebwerk wir mit der Zeit näher kommen können. Es steckt kein freyes Wesen hinter unsern Wetterveränderungen, kein eigensinniges, eifersüchtiges, verliebtes Geschöpf, das um einer Geliebte Willen einmal im Winter die Sonne wieder in den Krebs führte. Entwickelten sich unsere Körper in der reinsten Himmelsluft, bloss durch die Bewegungen ihrer Seelen modificiert, und durch keine äussere Kräfte gestört und bequemte sich die Seele wiederum rückwärts mit analogischer Biegsamkeit nach den Gesetzen, denen der Körper unterworfen ist: so würde die herrschende Leidenschaft, und das vorzügliche Talent, ich läugne es nicht, bey verschiedenen Graden und Mischungen verschiedene Gesichtsformen hervorbringen, so wie verschiedene Salze in verschiedene Formen anschiessen, wenn sie nicht gestört werden. Allein gehört denn unser Körper der Seele allein zu, oder ist er nicht ein gemeinschaftliches Glied sich in ihm durchkreuzender Reihen, deren jeder Gesetz er befolgen, und deren jeder er Gnüge leisten muß? So hat jede einfache Steinart im reinsten Zustand ihre eigne Form, allein die Anomalien, die die Verbindung mit andern hervorbringt, und die Zufälle, denen sie ausgesetzt sind, macht, daß sich auch oft der geübteste irrt, der sie nach dem Gesicht unterscheiden will. So steht unser Körper zwischen Seele und der übrigen Welt in der Mitte, Spiegel der Wirkungen von beyden; erzählt nicht allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Clima, Krankheit, Nahrung und tausend Ungemach, dem uns nicht immer unser eigner böser Entschluß, sondern oft Zufall und oft Pflicht aussetzen. Sind die Fehler, die ich in einem Wachsbilde bemerke, alle Fehler des Künstlers, oder nicht auch Wirkungen ungeschickter Betaster, der Sonnenhitze oder einer warmen Stube? Aeusserste Biegsamkeit des Körpers, Perfektibilität und Corruptibilität desselben, deren Grenze man nicht kennt, kommt hierinn dem Zufall zu statten. Die Falte die sich bey dem einen erst nach tausendfacher Wiederholung derselben Bewegung bricht, zeigt sich bey dem andern nach weniger; was bey dem einen eine Verzerrung und Auswuchs verursachet, den selbst die Hunde bemerken, geht dem andern unbezeichnet, oder doch menschlichen Augen unmerkbar hin. Dieses zeigt, wie biegsam alles ist, und wie ein kleiner Funke das Ganze in dem auffliegen macht, der in dem andern kaum einen versengten Punkt zurückläßt. Bezieht sich denn alles im Gesicht auf Kopf und Herz? Warum deutet ihr nicht den Monat der Geburt, kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten der Kindheit aus den Nasen? Was bey dem Manne Farbe wirkt, wirkte bey dem Kind Form, grünes Holz wirft sich bey dem Feuer an dem ein trocknes blos braun wird. Daher vermuthlich die regelmässigeren Gesichtszüge der Vornehmen und Großen, die sicherlich weder an Geist noch Herz Vorzüge besitzen, die wir nicht auch erreichen könnten. Oder ist Versehen der Seele und der Amme einerley, und wird die erstere nach der Verdrehung ihres Körpers ebenfalls verdreht, daß sie nun grade einen solchen Körper bauen würde, wenn sie wieder einen zu bauen kriegte? Wie? Oder füllt die Seele den Körper etwa wie ein elastisches Flüssige, das allzeit die Form des Gefäßes annimmt: so daß, wenn eine platte Nase Schadenfreude bedeutet, der schadenfroh wird, dem man die Nase platt drückt? Ein rohes Beispiel, aber mit Fleiß gewählt. In unserm Körper selbst und den Säften desselben liegen hundert Quellen von gleich merklichen, aber minder gewaltsamen Veränderungen. Ferner, ihr läugnet nicht, daß lange nach Formirung der festen Theile des Körpers der Mensch einer Verbesserung und Verschlimmerung fähig ist. Aber überzieht sich die blanke Stirne mit Fleisch, oder stürzt die convexe ein, wenn das Gedächtnis verschwindet? Mancher kluge Kerl fiel auf seinen Kopf und wurde ein Narr, und ich erinnere mich in den Memoiren der Pariser Academie gelesen zu haben, daß dort einmal ein Narr auf den Kopf stürzte und klug wurde. In beyden Fällen wünschte ich das Schattenbild des Antecessors neben dem Schattenbild seines Successors zu sehen, um die Lippen und Augen-Knochen beider zu vergleichen. Die Beyspiele sind freylich gesucht. Allein wolt ihr denn bestimmen, wo Gewaltthätigkeit anfängt und Krankheit aufhört? Die Brücke die zwey Ideen Reihen verbindet, kan so gut einstürzen, wenn ich mich erkälte, als wenn ich auf den Kopf falle, und am Ende wäre wohl gar Mensch seyn so viel als krank seyn. Ich habe in meinen Leben etwa 8 Sektionen vom menschlichen Gehirn beygewohnt, und aus wenigstens fünfen wurden die falschen Schlüsse wie roten Fäden herausgezogen und die Lapsus memoriae wie Sandkörner. Also schon hieraus (unten wird mehreres vorkommen) sieht man, wie unvorsichtig es ist, aus Aehnlichkeit der Gesichter Aehnlichkeit der Charactere zu schliessen, auch wenn diese Aehnlichkeit vollkommen wäre; allein wer ist denn der Richter über sie? Ein hinfälliger Sinn, dessen Eindruck durch vorgreifende Schlüsse und associierte Vorstellungen so leicht geschwächt und verdreht wird, daß es noch in weit einfacheren Fällen als dieser, wo keine Leidenschaften mitwirken, und selbst nach erwiesenem Irrthum, fast unmöglich ist, Urtheil von Empfindung zu trennen.

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Anmerkungen

[1] Leibnitz.

Quelle: Georg Christoph Lichtenberg, Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenerkenntniß. Göttingen: bey Johann Christian Dieterich, 1778, S. 21–32. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10255391-2

Carl Niekerk, „Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie: Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung“. Studien zur deutschen Literatur, Bd. 176. Tübingen: Niemeyer, 2005.

Georg Christoph Lichtenberg, Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenerkenntnis (1778), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-19> [22.10.2024].