Austausch zwischen Jürgen Habermas und Joseph Kardinal Ratzinger über die Gefahr rationaler und religiöser Extremismen (2004)

Kurzbeschreibung

In diesem bemerkenswerten Austausch gelangten einer der berühmtesten deutschen Philosophen der säkularen Gesellschaft und einer der führenden deutschen katholischen Theologen (der kurze Zeit später als Benedikt XVI. Papst wurde) zu einer grundlegenden Einigung in einer in der neueren Wissensgeschichte heftig diskutierten Frage: Wem kommt in der Organisation des öffentlichen Lebens das epistemologische Primat zu – der säkularen Vernunft oder dem religiösen Glauben? Auf ihre eigene Art und Weise argumentieren sowohl Habermas wie Ratzinger, dass säkulare Vernunft und religiöser Glaube in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Beide sind voneinander abhängige kulturelle Ressourcen, die in einer dialogischen und sich gegenseitig respektierenden Beziehung zueinander existieren müssen. Die Säkularisierung des öffentlichen Lebens war ein entscheidendes Merkmal der Moderne. Schenkt man diesen beiden Vertretern ihrer Zunft Glauben, so könnte die postmoderne Welt durchaus anders aussehen.

Quelle

Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechsstaates?

Von Jürgen Habermas

Das für unsere Diskussion vorgeschlagene Thema erinnert an eine Frage, die Ernst Wolfgang Böckenförde Mitte der 60er Jahre auf die prägnante Formel gebracht hat: ob der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann[1]. Darin drückt sich der Zweifel aus, ob der demokratische Verfassungsstaat seine normativen Bestandsvoraussetzungen aus eigenen Ressourcen erneuern kann, sowie die Vermutung, dass er auf autochthone weltanschauliche oder religiöse, jedenfalls kollektiv verbindliche ethische Überlieferungen angewiesen ist. Das würde den zu weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staat zwar angesichts der „Tatsache des Pluralismus“ (Rawls) in Bedrängnis bringen, aber diese Folgerung spricht nicht schon gegen die Vermutung selbst.

Zunächst möchte ich das Problem in zweierlei Hinsicht spezifizieren: In kognitiver Hinsicht bezieht sich der Zweifel auf die Frage, ob politische Herrschaft nach der vollständigen Positivierung des Rechts einer säkularen, das soll heißen einer nichtreligiösen oder nachmetaphysischen Rechtfertigung überhaupt noch zugänglich ist (1). Auch wenn eine solche Legitimation zugestanden wird, bleibt in motivationaler Hinsicht der Zweifel bestehen, ob sich ein weltanschaulich pluralistisches Gemeinwesen durch die Unterstellung eines bestenfalls formalen, auf Verfahren und Prinzipien beschränkten Hintergrundeinverständnisses normativ, also über einen bloßen modus vivendi hinaus stabilisieren lässt (2). Auch wenn sich dieser Zweifel ausräumen lässt, bleibt es dabei, dass liberale Ordnungen auf die Solidarität ihrer Staatsbürger angewiesen sind – und deren Quellen könnten infolge einer „entgleisenden“ Säkularisierung der Gesellschaft im ganzen versiegen. Diese Diagnose ist nicht von der Hand zu weisen, aber sie muss nicht so verstanden werden, dass die Gebildeten unter den Verteidigern der Religion daraus gewissermaßen einen „Mehrwert“ schöpfen (3). Stattdessen werde ich vorschlagen, die kulturelle und gesellschaftliche Säkularisierung als einen doppelten Lernprozess zu verstehen, der die Traditionen der Aufklärung ebenso wie die religiösen Lehren zur Reflexion auf ihre jeweiligen Grenzen nötigt (4). Im Hinblick auf postsäkulare Gesellschaften stellt sich schließlich die Frage, welche kognitiven Einstellungen und normativen Erwartungen der liberale Staat gläubigen und ungläubigen Bürgern im Umgang miteinander zumuten muss (5).

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Exkurs

Anknüpfungspunkt für den philosophischen Diskurs über Vernunft und Offenbarung ist eine immer wiederkehrende Denkfigur: Die auf ihren tiefsten Grund reflektierende Vernunft entdeckt ihren Ursprung aus einem Anderen, dessen schicksalhafte Macht sie anerkennen muss, soll sie nicht in der Sackgasse hybrider Selbstbemächtigung ihre vernünftige Orientierung verlieren. Als Modell dient hier das Exerzitium einer aus eigener Kraft vollbrachten, zumindest ausgelösten Umkehr, einer Konversion der Vernunft durch Vernunft – gleichviel, ob nun die Reflexion (wie bei Schleiermacher) am Selbstbewusstsein des erkennenden und handelnden Subjekts ansetzt oder (wie bei Kierkegaard) an der Geschichtlichkeit der je eigenen existenziellen Selbstverge­wisserung oder (wie bei Hegel, Feuerbach und Marx) an der provokativen Zerrissenheit sittlicher Verhältnisse. Ohne anfänglich theologische Absicht überschreitet sich auf diesen Wegen eine ihrer Grenzen inne werdende Vernunft auf ein Anderes hin: sei es in der mystischen Verschmelzung mit einem kosmisch umgreifenden Bewusstsein oder in der verzweifelnden Hoffnung auf das historische Ereignis einer erlösenden Botschaft oder in Gestalt einer vorandrängenden Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten, die das messianische Heil beschleunigen will. Diese anonymen Götter der nachhegelschen Metaphysik – das umgreifende Bewusstsein, das unvordenkliche Ereignis, die nicht-entfremdete Gesellschaft – sind für die Theologie leichte Beute. Sie bieten sich dazu an, als Pseudonyme der Dreifaltigkeit des sich selbst mitteilenden persönlichen Gottes dechiffriert zu werden.

Diese Versuche zur Erneuerung einer philosophischen Theologie nach Hegel sind immer noch sympathischer als jener Nietzscheanismus, der sich die christlichen Konnotationen von Hören und Vernehmen, Andacht und Gnadenerwartung, Ankunft und Ereignis bloß ausleiht, um ein propositional entkerntes Denken hinter Christus und Sokrates ins unbestimmt Archaische zurückzurufen. Demgegenüber besteht eine Philosophie, die sich ihrer Fehlbarkeit und ihrer fragilen Stellung innerhalb des differenzierten Gehäuses der modernen Gesellschaft bewusst ist, auf der generischen, aber keineswegs pejorativ gemeinten Unterscheidung zwischen der säkularen, ihrem Anspruch nach allgemein zugänglichen, und der religiösen, von Offenbarungswahrheiten abhängigen Rede. Anders als bei Kant und Hegel verbindet sich diese grammatische Grenzziehung nicht mit dem philosophischen Anspruch, selber zu bestimmen, was von den Gehalten religiöser Traditionen – über das gesellschaftlich institutionalisierte Weltwissen hinaus – wahr oder falsch ist. Der Respekt, der mit dieser kognitiven Urteilsenthaltung Hand in Hand geht, gründet sich auf die Achtung vor Personen und Lebensweisen, die ihre Integrität und Authentizität ersichtlich aus religiösen Überzeugungen schöpfen. Aber Respekt ist nicht alles: Die Philosophie hat Gründe, sich gegenüber religiösen Überlieferungen lernbereit zu verhalten.

4. Säkularisierung als zweifacher und komplementärer Lernprozess

Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wachgehalten worden. Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissens­zwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann – ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge. Aus der Asymmetrie der epistemischen Ansprüche lässt sich eine Lernbereitschaft der Philosophie gegenüber der Religion begründen, und zwar nicht aus funktionalen, sondern – in Erinnerung ihrer erfolgreichen „hegelianischen“ Lernprozesse - aus inhaltlichen Gründen.

Die gegenseitige Durchdringung von Christentum und griechischer Metaphysik hat ja nicht nur die geistige Gestalt theologischer Dogmatik und eine – nicht in jeder Hinsicht segensreiche – Hellenisierung des Christentums hervorgebracht. Sie hat auf der anderen Seite auch eine Aneignung genuin christlicher Gehalte durch die Philosophie gefördert. Diese Aneignungsarbeit hat sich in schwer beladenen normativen Begriffsnetzen wie Verantwortung, Autonomie und Rechtfertigung, wie Geschichte und Erinnerung, Neubeginn, Innovation und Wiederkehr, wie Emanzipation und Erfüllung, wie Entäußerung, Verinnerlichung und Verkörperung, Individualität und Gemeinschaft niedergeschlagen. Sie hat den ursprünglich religiösen Sinn zwar transformiert, aber nicht auf eine entleerende Weise deflationiert und aufgezehrt. Die Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen ist eine solche rettende Übersetzung. Sie erschließt über die Grenzen einer Religionsgemeinschaft hinaus den Gehalt biblischer Begriffe einem allgemeinen Publikum von Andersgläubigen und Ungläubigen. Walter Benjamin war einer, dem solche Übersetzungen manchmal gelangen.

Aufgrund dieser Erfahrung der säkularisierenden Entbindung religiös verkapselter Bedeutungspotentiale können wir dem Böckenförde-Theorem einen unverfänglichen Sinn geben. Ich habe die Diagnose erwähnt, wonach die in der Moderne eingespielte Balance zwischen den drei großen Medien der gesellschaftlichen Integration in Gefahr gerät, weil Märkte und administrative Macht die gesellschaftliche Solidarität, also eine Handlungskoordinierung über Werte, Normen und verständigungsorientierten Sprachgebrauch aus immer mehr Lebensbereichen verdrängen. So liegt es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen den kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusst­sein und die Solidarität von Bürgern speist. Dieses konservativ gewordene Bewusstsein spiegelt sich in der Rede von der „postsäkularen Gesellschaft.“[2]

Damit ist nicht nur die Tatsache gemeint, dass sich die Religion in einer zunehmend säkularen Umgebung behauptet und dass die Gesellschaft bis auf weiteres mit dem Fortbestehen der Religionsgemeinschaften rechnet. Der Ausdruck „postsäkular“ zollt den Religionsgemein­schaften auch nicht nur öffentliche Anerkennung für den funktionalen Beitrag, den sie für die Reproduktion erwünschter Motive und Einstellungen leisten. Im öffentlichen Bewusstsein einer postsäkularen Gesellschaft spiegelt sich vielmehr eine normative Einsicht, die für den politischen Umgang von ungläubigen mit gläubigen Bürgern Konsequenzen hat. In der postsäkularen Gesellschaft setzt sich die Erkenntnis durch, dass die „Modernisierung des öffentlichen Bewusstseins“ phasenverschoben religiöse wie weltliche Mentalitäten erfasst und reflexiv verändert. Beide Seiten können, wenn sie die Säkularisierung der Gesellschaft gemeinsam als einen komplementären Lernprozess begreifen, ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit dann auch aus kognitiven Gründen gegenseitig ernstnehmen.

5. Wie gläubige und säkulare Bürger miteinander umgehen sollten

Auf der einen Seite ist das religiöse Bewusstsein zu Anpassungsprozessen genötigt worden. Jede Religion ist ursprünglich „Weltbild“ oder „comprehensive doctrine“ auch in dem Sinne, dass sie die Autorität beansprucht, eine Lebensform im Ganzen zu strukturieren. Diesen Anspruch auf Interpretationsmonopol und umfassende Lebensgestaltung musste die Religion unter Bedingungen der Säkularisierung des Wissens, der Neutralisierung der Staatsgewalt und der verallgemeinerten Religionsfreiheit aufgeben. Mit der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme trennt sich auch das Leben der religiösen Gemeinde von ihren sozialen Umgebungen. Die Rolle des Gemeindemitglieds differenziert sich von der des Gesellschaftsbürgers. Und da der liberale Staat auf eine politische Integration der Bürger, die über einen bloßen modus vivendi hinausgeht, angewiesen ist, darf sich diese Differenzierung der Mitgliedschaften nicht in einer kognitiv anspruchslosen Anpassung des religiösen Ethos an auferlegte Gesetze der säkularen Gesellschaft erschöpfen. Vielmehr müssen die universalistische Rechtsordnung und die egalitäre Gesellschaftsmoral von innen her so an das Gemeindeethos angeschlossen werden, dass eins aus dem anderen konsistent hervorgeht. Für diese „Einbettung“ hat John Rawls das Bild eines Moduls gewählt: Dieses Modul der weltlichen Gerechtigkeit soll, obgleich es mithilfe weltanschaulich neutraler Gründe konstruiert worden ist, in die jeweils orthodoxen Begründungszusammenhänge hineinpassen.[3]

Die normative Erwartung, mit der der liberale Staat die religiösen Gemeinden konfrontiert, trifft sich mit deren eigenen Interessen insofern, als sich diesen damit die Möglichkeit eröffnet, über die politische Öffentlichkeit einen eigenen Einfluss auf die Gesellschaft im Ganzen auszuüben. Zwar sind die Folgelasten der Toleranz, wie die mehr oder weniger liberalen Abtreibungsregelungen zeigen, nicht symmetrisch auf Gläubige und Ungläubige verteilt, doch kommt auch das säkulare Bewusstsein nicht kostenlos in den Genuss der negativen Religionsfreiheit. Von ihm wird die Einübung in einen selbstreflexiven Umgang mit den Grenzen der Aufklärung erwartet. Das Toleranzverständnis von liberal verfassten pluralistischen Gesellschaften mutet nicht nur den Gläubigen im Umgang mit Ungläubigen und Andersgläubigen die Einsicht zu, dass sie vernünftigerweise mit dem Fortbestehen eines Dissenses zu rechnen haben. Auf der anderen Seite wird dieselbe Einsicht im Rahmen einer liberalen politischen Kultur auch Ungläubigen im Umgang mit Gläubigen zugemutet.

Für den religiös unmusikalischen Bürger bedeutet das die keineswegs triviale Aufforderung, das Verhältnis von Glauben und Wissen aus der Perspektive des Weltwissens selbstkritisch zu bestimmen. Die Erwartung einer fortdauernden Nicht-Übereinstimmung von Glauben und Wissen verdient nämlich nur dann das Prädikat „vernünftig“, wenn religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist. In der politischen Öffentlichkeit genießen deshalb naturalistische Weltbilder, die sich einer spekulativen Verarbeitung wissenschaftlicher Informationen verdanken und für das ethische Selbstverständnis der Bürger relevant sind[4], keineswegs prima facie Vorrang vor konkurrierenden weltanschaulichen oder religiösen Auffassungen.

Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiert, ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht. Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.[5]

Was die Welt zusammenhält.
Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates

Von Joseph Ratzinger

Was also ist zu tun? Hinsichtlich der praktischen Konsequenzen finde ich mich in weitgehender Übereinstimmung mit dem, was Jürgen Habermas über eine postsäkulare Gesellschaft, über die Lernbereitschaft und die Selbstbegrenzung nach beiden Seiten hin ausgeführt hat. Meine eigene Sicht möchte ich in zwei Thesen zusammenfassen und damit schließen.

1. Wir hatten gesehen, dass es Pathologien in der Religion gibt, die höchst gefährlich sind und die es nötig machen, das göttliche Licht der Vernunft sozusagen als ein Kontrollorgan anzusehen, von dem her sich Religion immer wieder neu reinigen und ordnen lassen muss, was übrigens auch die Vorstellung der Kirchenväter war.[6] Aber in unseren Überlegungen hat sich auch gezeigt, dass es (was der Menschheit heute im allgemeinen nicht ebenso bewusst ist) auch Pathologien der Vernunft gibt, eine Hybris der Vernunft, die nicht minder gefährlich, sondern von ihrer potentiellen Effizienz her noch bedrohlicher ist: Atombombe, Mensch als Produkt. Deswegen muss umgekehrt auch die Vernunft an ihre Grenzen gemahnt werden und Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit lernen. Wenn sie sich völlig emanzipiert und diese Lernbereitschaft, diese Korrelationalität ablegt, wird sie zerstörerisch.

Kurt Hübner hat kürzlich eine ähnliche Forderung formuliert und gesagt, es gehe bei einer solchen These unmittelbar nicht um „Rückkehr zum Glauben“, sondern darum, „dass man sich von der epochalen Verblendung befreit, er (d.h. der Glaube) habe dem heutigen Menschen deswegen nichts mehr zu sagen, weil er seiner humanistischen Idee von Vernunft, Aufklärung und Freiheit widerspreche“[7]. Ich würde demgemäß von einer notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen.

2. Diese Grundregel muss dann praktisch, im interkulturellen Kontext unserer Gegenwart, konkretisiert werden. Ohne Zweifel sind die beiden Hauptpartner in dieser Korrelationalität der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität. Das kann und muss man ohne falschen Eurozentrismus sagen. Beide bestimmen die Weltsituation in einem Maß wie keine andere der kulturellen Kräfte. Aber das bedeutet doch nicht, dass man die anderen Kulturen als eine Art „quantite negligeable“ beiseite schieben dürfte. Dies wäre nun doch eine westliche Hybris, die wir teuer bezahlen würden und zum Teil schon bezahlen. Es ist für die beiden großen Komponenten der westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelationalität auch mit diesen Kulturen einzulassen. Es ist wichtig, sie in den Versuch einer polyphonen Korrelation hineinzunehmen, in der sie sich selbst der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube öffnen, so dass ein universaler Prozess der Reinigungen wachsen kann, in dem letztlich die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, so dass wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt Zusammenhalt.

Anmerkungen

[1] E.W. Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/Main 1991, S. 92ff. hier: S. 112.
[2] K. Eder, „Europäische Säkularisierung – ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft?“
Berliner Jour­nal für Soziologie, Heft 3 (2002), S. 331-43.
[3] J. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/Main 1998, S. 76ff.
[4] als Beispiel W. Singer, „Keiner kann anders sein, als er ist. Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2004, S. 33
[5] J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt/Main, 2001.
[6] Das habe ich in meinem Buch Glaube - Wahrheit - Toleranz näher darzustellen versucht; vgl. auch M. Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum (Paderborn 2001).
[7] K. Hübner, Das Christentum im Wettstreit der Religionen (Tübingen 2003), S. 148.

Quelle: Habermas Jürgen, Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, Über Vernunft und Religion © 2018 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br. [S. 15–16, 29–36, 56–57]

Austausch zwischen Jürgen Habermas und Joseph Kardinal Ratzinger über die Gefahr rationaler und religiöser Extremismen (2004), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-30> [23.10.2024].