Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Erster Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815 (1987)
Kurzbeschreibung
1987 erschien der erste Band der fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte des Bielefelder Historikers Hans-Ulrich Wehler (1931–2014). Im Vorwort legt Wehler dar, dass die Arbeit als eine „problemorientierte Analyse wichtiger Prozesse und Strukturen“ angelegt sei, welche die deutsche Gesellschaftsgeschichte der letzten zweihundert Jahre geprägt habe. Als leitende Kategorien seiner Arbeit benennt er in der Einleitung Wirtschaft, Herrschaft, soziale Ungleichheit und Kultur als die zentralen „Basisdimensionen“ oder „Achsen“ an denen sich die Darstellung orientiere. Wehler thematisiert überdies, inwiefern er sich bei dieser Typisierung an Max Weber orientierte.
Quelle
Vorwort
[…]
In diesem Buch geht es um eine problemorientierte Analyse wichtiger Prozesse und Strukturen, die nach meiner Auffassung die deutsche Gesellschaftsgeschichte in den letzten zweihundert Jahren in einem hohen, ja, soweit ich zu sehen vermag, in einem entscheidenden Maße bestimmt haben. Daß mit dieser Behauptung nicht beabsichtigt ist, ausschließlich ihnen Geschichtsmächtigkeit zuzusprechen, wird noch erläutert werden. Wohl aber scheint mir die Annahme begründbar, daß es sich um zentrale Entwicklungen und Kräfte gehandelt hat. […]
Da es bisher noch keine moderne deutsche Gesellschaftsgeschichte gibt, handelt es sich um eine lohnende Aufgabe, wenigstens den Grundriß wichtiger Entwicklungen auszuführen, denn auf absehbare Zeit wird es ungemein schwierig bleiben, eine umfassende, abgerundete Gesamtdarstellung aus dieser Perspektive zu wagen. Die Probleme, die sich dem in den Weg stellen, der einen derartigen Plan auszuführen beginnt, vertreiben mit entmutigender Hartnäckigkeit alle anfänglichen Illusionen. Das hängt in erster Linie mit den eigentümlichen Schwierigkeiten zusammen, die mit dem Vorhaben einer Gesellschaftsgeschichte an sich verbunden sind. In mancher Hinsicht wäre es wahrscheinlich leichter, eine deutsche Politikgeschichte zu schreiben. Aber auch wenn man von dieser besonderen Problematik absieht – dazu gleich mehr in der „Einleitung“ – existieren überhaupt nur sehr wenige Darstellungen einzelner Historiker, welche die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert zu erfassen versuchen, so daß generell jene Synthesen fehlen, an denen man sich, zustimmend oder ablehnend, bei der Vorbereitung einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte orientieren könnte.
[…]
Einleitung
In diesem Werk sollen wichtige Aspekte der Entwicklung der deutschen Gesellschaft in der Zeit vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart analysiert werden. Genauer gesagt schwebt diesem Grundriß der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte als Ziel vor, den komplizierten Transformationsprozeß, der in nicht einmal zweihundert Jahren aus den nahezu zweitausend agrarisch-frühkapitalistischen, aristokratisch-patrizischen, ständisch-absolutistischen Herrschaftsverbänden des alteuropäischen Deutschland die interventionsstaatlich regulierte, republikanisch-demokratisch verfaßte Gesellschaft des hochorganisierten Industriekapitalismus unserer Gegenwart gemacht hat, in wesentlichen Grundzügen zu beschreiben und, wenn eben möglich, diesen Übergang zu einer qualitativ neuartigen Gesellschaftsformation zu erklären.
Im Mittelpunkt stehen fortab nicht Staat und Verfassung, nicht die Politik von Regierungen und Verwaltungen, geschweige denn politische Ereignisabläufe an sich. Vielmehr geht es im folgenden um die Gesellschaft konstituierenden Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in der modernen deutschen Geschichte, und das heißt: um Studien, die auf das Fernziel einer Gesellschaftsgeschichte hin konzipiert und ausgeführt sind. Noch handelt es sich um einen vorläufigen Grundriß, nicht um eine umfassende Gesellschaftsgeschichte selber, denn der Anspruch, der in diesem Begriff programmatisch angemeldet wird, beschreibt ein sehr hoch gestecktes Ziel. Wohl aber gilt diese Gesellschaftsgeschichte ständig als regulative Idee, wenn man so will, als Orientierungspunkt, dem sich die Darstellung streckenweise anzunähern hofft. Der Begriff muß deshalb zuerst erläutert werden.
I. Gesellschaftsgeschichte als Versuch einer Synthese: Dimensionen und Ziele
Moderne Gesellschaftsgeschichte versteht ihren Gegenstand als Gesamtgesellschaft, im Sinne von „Society“ und „Societé“; sie versucht mithin, möglichst viel von den Basisprozessen zu erfassen, welche die historische Entwicklung eines gewöhnlich innerhalb staatlich-politischer Grenzen liegenden Großsystems bestimmt haben und vielleicht noch immer bestimmen. Im Anschluß an die „Säkulartheorien“ und Kategorien, die Max Weber für seine universalhistorischen Studien entwickelt hat, um – das war die ursprüngliche Antriebskraft – die Eigenart des okzidentalen Gesellschaftstypus durch den Vergleich mit anderen Kulturkreisen möglichst präzis zu erfassen, lassen sich drei gleichberechtigte, kontinuierlich durchlaufende Dimensionen von Gesellschaft analytisch unterscheiden. Herrschaft, Wirtschaft und Kultur stellen diese drei, in einem prinzipiellen Sinn jede Gesellschaft erst formierenden, sich gleichwohl wechselseitig durchdringenden und bedingenden Dimensionen dar. Mit anderen Worten: Die menschliche Welt wird, blickt man auf die, wortwörtlich genommen, fundamentalen Elemente, durch „Arbeit, Herrschaft und Sprache“ (Habermas) begründet. Jeder dieser Bereiche besitzt eine relativ autonome Geltung und Wirkungsmacht, er kann aus den anderen nicht abgeleitet werden, so sehr auch für die Analyse der historischen Wirklichkeit alles auf die Mischungs- und Interdependenzverhältnisse ankommt. Dabei gilt es zu verfolgen, wie intensiv Herrschaft die Wirtschaft und Kultur, Wirtschaft die Herrschaft und Kultur, Kultur die Herrschaft und Wirtschaft in einem dialektischen Wechselverhältnis bedingen und beeinflussen. Nach meiner Überzeugung gibt es dagegen keine rationalen Entscheidungskriterien, die es gestatten, die überlegene Potenz der einen oder anderen Dimension von vornherein, gewissermaßen abstrakt-definitorisch festzulegen. Nur die exakte historische Konstellationsanalyse ergibt, welche Dimension oder Kombination von Wirkungsfaktoren jeweils am stärksten ausgeprägt ist.
Erkennt man die Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit dieser konstitutiven Dimensionen einmal an, kann man keine von ihnen mehr offen oder insgeheim privilegieren, ihr ein Plus an Geschichtsmächtigkeit oder Erklärungskraft zubilligen. Die Zielvorstellung einer solchen von Weber inspirierten Gesellschaftsgeschichte gleicht dann in der Tat dem, was die französische Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit „Totalgeschichte“ nennt, oder was man ohne die ältere Einschränkung auf Politikgeschichte als „allgemeine Geschichte“ einer Gesellschaft bezeichnen könnte. Nun ist die Auffassung, Totalität tatsächlich erfassen zu können, bereits vom Anspruch her „illegitim“, von der praktischen Überforderung eines jeden Wissenschaftlers ganz zu schweigen. Menschliches Wissen in den Humanwissenschaften bleibt Partialerkenntnis, die an bestimmte Erkenntnisabsichten oder an „Kulturwertideen“ (Weber) gebunden ist und sich mit dem Wandel dieser Ideen selber wieder verändert. Aber als Fluchtpunkt, als Richtwert, als regulative Idee im Sinne Kants bleibt mit dieser Gesellschaftsgeschichte trotzdem eine solche Totalitätsutopie verknüpft, die selbstverständlich während der Arbeit an der Darstellung, mehr oder weniger weitreichend, pragmatisch eingeschränkt wird[1].
Mit der Vorentscheidung für eine derart allgemein verstandene Gesellschaftsgeschichte ist gleichzeitig der Verzicht auf eine andere Art von theoretisch und empirisch ebenfalls möglicher Gesellschaftsgeschichte verbunden, die auf spezifisch deutsche Traditionen zurückverweist. Dieses andere Verständnis von Gesellschaftsgeschichte ist seit den 1820er Jahren durch jene einflußreiche deutsche Sozialtheorie geprägt worden, die seit Hegel, Stein und Marx Gesellschaft als „Sphäre zwischen Staat und Individuum“ begriffen hat, als ein eigenständiges „System der Bedürfnisse“ – wie es in der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt –, als ein System von Interessen und Abhängigkeiten der vom Staat scharf abgesetzten „bürgerlichen Gesellschaft“, die in engster Wechselwirkung mit der modernen kapitalistischen Wirtschaft aufgestiegen war und sich rasch weiter entfaltete. Insofern ist diese Vorstellung von „Gesellschaft“ und ihrer Geschichte an die neuzeitliche Trennung von gebietsherrschaftlichem Anstaltsstaat und Societas Civilis bzw. Wirtschafts- und Staatsbürgergesellschaft gebunden. Von dem dynamischen sozioökonomischen Kernbereich des Gesamtsystems ausgehend, wird diesem Modernisierungszentrum von den hegelianisch-marxistischen Denkschulen – und den an sie, gleichwie vermittelt, anknüpfenden Gesellschaftswissenschaften – tendenziell eine, wie der alte Engels vorsichtig meinte, „in letzter Instanz“ überlegene Wirkungskraft zuerkannt, die eine strukturprägende Macht auf andere Wirklichkeitsbereiche ausübe.
Von dieser Hierarchie der historischen Potenzen a priori auszugehen, setzt jedoch einen Glaubensakt voraus. Mit ausschließlich rationalen Argumenten ist ihre Überlegenheit nicht überzeugend zu beweisen. Demgegenüber befindet sich der Historiker, wenn er von der Gleichrangigkeit der drei Fundamentaldimensionen Herrschaft, Wirtschaft und Kultur ausgeht, auf einem ungleich zuverlässigeren Boden, er hat dadurch eine unnötige Präjudizierung der Ausgangsposition vermieden. Diese argumentative Distanzierung von einer einflußreichen Tradition der deutschen Gesellschaftstheorie und Sozialwissenschaft – von der ich ursprünglich auch einmal in einer frühen Phase vor der Niederschrift dieses Buches ausgehen wollte, ehe mich die Beschäftigung mit der Vielzahl der historischen Probleme immer eindeutiger auf die Webersche Konzeption hingelenkt hat – schließt es selbstverständlich keineswegs aus, das Schwergewicht durchaus einmal auch an erster Stelle in den Bereich der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Evolution zu verlagern. Aber erst aus der historischen Analyse ergibt sich, ob überhaupt – und in welchen unterschiedlichen Zeitabschnitten – solche Schwerpunkte oder die von Herrschaft und Kultur bevorzugt anerkannt werden müssen. In der Phase der Früh- und Hochindustrialisierung besitzt z. B. die „soziale Frage“ des Proletariats eine andere Bedeutung in der alltäglichen Lebenswelt wie auch in der Politik der Regierungen als die Lage der Industriearbeiterschaft in der Epoche des staatlich regulierten Kapitalismus, des sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus, der auf ganz andere Steuerungserfahrungen und Entspannungsmaßnahmen zurückgreifen kann.
Theoretisch-systematisch bleibt es jedoch, um diesen Punkt wegen seiner Bedeutung noch einmal nachdrücklich zu unterstreichen, die einzige auf die Dauer haltbare und mangels überzeugender Präferenzkriterien von der intellektuellen Redlichkeit gebotene Position, von der prinzipiellen Gleichberechtigung der Hauptdimensionen moderner Gesellschaftsgeschichte auszugehen. Freilich: Die Rede von solchen Dimensionen ist letztlich nur eine hilfreiche Metapher, um einen komplexen, realhistorisch dicht verschränkten Wirkungszusammenhang analytisch zerlegen und dann empirisch besser, glaubwürdiger erfassen zu können. Hierbei gilt unverändert, daß mir jedenfalls keine trennscharfen verläßlichen Kriterien zur Verfügung stehen, um für meine Zwecke definitiv entscheiden zu können, ob etwa die rationale Kultur des Okzidents den Industriekapitalismus erst ermöglicht und dann entwicklungsfähig erhalten hat; ob die eigentümlichen sozialen Strukturen Europas die entscheidende Bedingung für den Durchbruch der industriellen und politischen Revolutionen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts gebildet haben; ob die kapitalistische Wirtschaft den folgenreichsten Entwicklungsstrang dargestellt hat oder ob die spezifischen politischen Herrschaftsordnungen des Westens die conditio sine qua non seiner historischen Einzigartigkeit begründet haben. Die Kristallisierung dieser Elemente zu einer einzigartigen Gesamtkonstellation hat, wie sich herausstellen wird, den Ausschlag gegeben.
Eine so weit ausgreifende Gesellschaftsgeschichte in der Nachfolge Webers und die Gleichrangigkeit ihrer drei Basisdimensionen wirft mit ungemilderter, vergleichsweise sogar mit gesteigerter Schärfe das Auswahlproblem auf. Welche Problemwahl, und Auswahl bleibt ja ohnehin stets unvermeidbar, läßt sich innerhalb dieser Konzeption mit ihrem umfassenden Anspruch überhaupt noch überzeugend legitimieren? Dafür ist der Begriff der „Dimensionen“ und ihr jeweiliger Inhalt zuerst einmal etwas genauer zu bestimmen, ehe auf die vorherrschenden erkenntnisleitenden Interessen und die mit ihnen verbundenen Selektionspräferenzen ausführlicher eingegangen wird.
Wenn man vor der Komplexität der historischen Realität nicht kapitulieren will, indem man sich ganz auf die überschaubare monographische Forschung, im Extremfall auf positivistische Miniaturarbeit, zurückzieht, sondern in einer Synthese die dominierenden Elemente eines Zeitalters in ihrem Zusammenhang erfassen möchte, ist es unvermeidbar, sie einem abstrakten Ordnungsschema zu unterwerfen. Dazu dient die bereits mehrfach genannte Unterscheidung von zentralen Dimensionen oder auch „Achsen“, welche das Gesellschaftsgefüge durchziehen. „Achse“ bedeutet hier zweierlei: sowohl einen – zumindest unterstellten – verdichteten realhistorischen Wirkungszusammenhang als auch ein heuristisches Hilfsmittel, das die genauere historische und systematische Untersuchung erleichtern soll. Gesellschaftsgeschichte hat es wesentlich mit der Verfassung des Binnenbereichs einer Gesamtgesellschaft zu tun, ihn kann man auch ihre „Sozialstruktur“ nennen. Mit dieser Kategorie gewinnt man einen allgemeinen Sammelbegriff für das ganze innergesellschaftliche Gefüge, das bestimmt wird durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Lage der sozialen Schichten, die politischen Einrichtungen, auch durch gesellschaftliche Organisationen wie Parteien und Interessenverbände, durch Familie, Bildungssystem und Kirche – mit andern Worten: durch eine Vielzahl von Institutionen und vorstrukturierten Handlungsfeldern, nicht zuletzt auch durch kulturelle Normen, religiöse Wertvorstellungen und die wechselnde Deutung der sozialen Lebenswelt. So gesehen ist Gesellschaftsgeschichte über weite Strecken Sozialstrukturgeschichte. Auch gegenüber einem solchen Komplexphänomen wie Sozialstruktur in dem hier bezeichneten Sinn empfiehlt es sich, auf gliedernde und aufschlüsselnde Begriffe wie „Achse“ zurückzugreifen[2].
Ob man nun Dimension oder „Achse“ verwendet, beide bedürfen, wie gesagt, einer ersten inhaltlichen Bestimmung. Um eine vorläufige terminologische Absprache zu treffen, soll gelten, daß Wirtschaft das Feld derjenigen Tätigkeiten absteckt, die Menschen im „Stoffwechsel mit der Natur“ zur Gewinnung ihres materiellen Lebensunterhalts betreiben.[3] In der hier behandelten Zeit wird die wirtschaftliche Struktur – als jenes institutionalisierte Regelsystem, das natürliche Ressourcen, menschliche Kooperation und technologische Ausrüstung für die Herstellung von Gütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen dauerhaft kombiniert – in zunehmendem Maße durch die Funktionsfähigkeit von Märkten für Boden und Waren, Kapital und Arbeit, durch den technischen Fortschritt als Treibstoff für den Motor der Industrialisierung sowie durch neuartige Verkehrs- und Kommunikationssysteme bestimmt, bis der Organisierte Kapitalismus und der moderne Interventionsstaat zusätzliche Steuerungsimperative einführen.
Politische Herrschaft bezeichnet in der Tradition Max Webers sozial strukturierte und das heißt stets: organisierte und normierte Macht, die – sei's in der Regierung oder Lokalverwaltung, sei's im Parlament oder auf dem Rittergut – Herrschaftsträgern von unterschiedlicher Legitimationsbasis aus die Chance zur Durchsetzung ihres Willens oder Auftrags eröffnet, vielleicht sogar gewährleistet. Von der öffentlich-politischen Herrschaft sind die ebenfalls zur Debatte stehenden Formen privater Herrschaft, etwa in der Familie oder im Betrieb, zu unterscheiden, auch wenn ihre rechtliche Sanktionierung von politischen Entscheidungen abhängen mag.
Kultur soll, dem weiten Begriff der Kulturanthropologie folgend, die ideellen und institutionellen Traditionen, Werte und Einstellungen, die Denkfiguren, Ideologien und Ausdrucksformen, jene symbolisch verschlüsselte Erfassung und Deutung von Wirklichkeit umfassen, mit deren Hilfe nicht nur sprachlich-schriftliche, sondern schlechterdings jede Art von Kommunikation unterhalten und gespeichert wird, so daß alles Verhalten und Handeln in diesen Komplex symbolischer Interaktion eingebettet bleibt, durch ihn angeleitet wird.
Natürlich wäre es eine arge Illusion zu glauben, daß sich diese Dimensionen in der Wirklichkeit derart säuberlich getrennt auffinden ließen. Vielmehr „durchwachsen“ sie gemeinsam, wenn auch mit einem stets wechselnden Ausmaß an Einfluß, fast alle menschlichen Institutionen – so ist etwa der adlige Gutsbesitz immer Herrschaftsverband, ökonomischer Betrieb und Ort kultureller Hegemonie zugleich. Aber sowohl ihre relative Autonomie als auch der Gewinn an analytischer Klarheit bei der Gliederung der Probleme und des Stoffs legten es nahe, in der Darstellung einer derart überschaubaren Einteilung zu folgen und die Interdependenzen jeweils am richtigen Ort zu betonen.
Obwohl bei theoretisch-systematischen Überlegungen Sparsamkeit im Umgang mit Kategorien vorteilhaft ist, können aus pragmatischen Gründen noch weitere wichtige Achsen einer Gesamtgesellschaft hervorgehoben werden, zumal man bei der Analyse häufig mit ihnen arbeitet. So besitzt beispielsweise das System der sozialen Ungleichheit in jeder Gesellschaft eine so hervorragende Bedeutung, daß es berechtigt erscheint, dieses System sogar – wie das in diesem Buch geschieht – als eine der Zentralachsen zu behandeln. Man muß sich jedoch klar machen oder dessen bewußt bleiben, daß soziale Ungleichheit – um ein unten noch ausführlicher zu entwickelndes Argument vorwegzunehmen – strenggenommen ein Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung darstellt. Deshalb bleibt sie ein Resultat der Überschneidung der drei systematisch vorgeordneten Dimensionen. Als ubiquitäres Phänomen, dessen Konsequenzen die Lebenschancen der Gruppen und Individuen bis in die abgelegenste Nische des Alltags hinein sichtbar oder insgeheim beherrschen, verdient es die soziale Ungleichheit jedoch, bereits an dieser Stelle genannt zu werden[4].
Wenn man von der soeben umrissenen weiten Definition von Gesellschaftsgeschichte ausgeht, bleibt sie mithin der Absicht verpflichtet, von den strukturprägenden, epochaltypischen Grundzügen möglichst viel in einer Synthese einzufangen. Sie zielt in diesem, gewissermaßen ein unerreichbares Optimum anvisierenden Verständnis auf eine an Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, an Bevölkerung, Politik und sozialer Ungleichheit orientierte Geschichte einer Gesamtgesellschaft in einem festgelegten Zeitraum. So läßt sich jedenfalls der Tendenztypus der Darstellung noch einmal formelartig kennzeichnen.
Da es sich hier jedoch noch immer eher um eine Vorarbeit zu einer künftigen vielseitigeren, noch mehr wichtige Aspekte gleichermaßen berücksichtigenden Gesellschaftsgeschichte im vollen Wortsinn handelt, läßt sich wohl auch eine gewisse Bevorzugung der Dimensionen oder Achsen von Wirtschaft, Herrschaft und sozialer Ungleichheit vertreten. Im Hinblick auf die Dimension der Kultur, wo ich die Grenzen der Sachkompetenz am stärksten spüre, habe ich mich vorrangig auf die soziopolitischen Bedingungen und Entwicklungstendenzen von Kultur konzentriert. In diesem eingeschränkten Rahmen werden Kirchen, Schulen und Universitäten, werden Pressewesen, literarisch-publizistischer Markt und Wissenschaftsaufstieg ebenso behandelt wie der Linkshegelianismus, die Politische Romantik oder andere Ideologien von Eliten und Klassen. Insofern wird kulturellen Faktoren durchaus Rechnung getragen. Nirgendwo wird jedoch beansprucht, daß Kultur im Sinne von Philosophie-, Architektur-, Musikgeschichte usw. gleich gewichtig und gleich ausführlich wie die anderen Dimensionen behandelt wird. Sie wird zwar insgesamt hoffentlich deutlicher zur Geltung kommen, als dieser Vorbehalt zunächst vermuten läßt, dennoch sei aus dem, was ich selber als mißliches Defizit empfinde, kein Hehl gemacht.[5]
Trotz dieser Einschränkungen sind die verbleibenden Aufgaben sowohl schwierig als auch lohnend genug, bleibt Gesellschaftsgeschichte ein auch dem Provisorium noch zumutbarer Zielwert. Es ist eine der Grundannahmen dieser Arbeit, daß sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine beispiellose universalgeschichtliche Zäsur im Westen angebahnt hatte. Dadurch wurde auch in Deutschland eine neuartige Konstellation heraufgeführt, für deren Verständnis der gesellschaftshistorische Ansatz besonders ergiebig zu sein verspricht. Sein Erklärungspotential und die Grenzen, die mit einer solchen Präferenzentscheidung gewöhnlich verknüpft sind, werden noch besprochen. Dem naheliegenden Einwand, daß derjenige, der die staatliche Politik, die internationalen Beziehungen oder die Macht ideeller Überzeugungen nicht vorrangig behandle, die Geschichte von vornherein verzerre, braucht daher an dieser Stelle nur die Behauptung entgegengesetzt zu werden, daß von der Staatspolitik der traditionellen Politikgeschichte oder von den Ideen der traditionellen Geistesgeschichte her ein weniger erfolgversprechender Zugang zur inneren Dynamik des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden ist. Den Beweis für diese Schlüsselthese zu führen, obliegt letztlich der gesamten Darstellung.
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Anmerkungen
Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, 2. Aufl., München: Verlag C.H. Beck, 1989, S. 1–2, 6–12. Mit freundlicher Genehmigung von C.H. Beck.