Julius Meyer: Ein jüdischer Deutscher vergleicht seine Erfahrungen als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg mit seinen Erfahrungen im und nach dem Pogrom von 1938 (Rückblick)

Kurzbeschreibung

Julius Meyer war ein Jurist aus Frankfurt, der als Jude verfolgt und während des Pogroms von 1938 nach Buchenwald verschleppt wurde. Nach seiner Freilassung floh er mit seiner Frau nach London. Als er seine Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager aufschrieb, verglich er sie mit seiner Zeit als deutscher Soldat in Frankreich während des Ersten Weltkriegs. Die Vorbereitung und Durchführung des Novemberpogroms 1938 erinnerte ihn an entsprechend geplante Geiselnahmen in Frankreich, an die Namen von Honoratioren, die man während des Ersten Weltkriegs parat hatte, um sie bei einem realen oder vermuteten Überfall auf das deutsche Militär zu verhaften oder zur Zwangsarbeit zu deportieren.

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Quelle

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Friedenszeiten. Nur ein paar Herren vom Vorstand ist es anzusehen, dass drauen ab und zu Alarmnachrichten eingehen. Dr. Blau sitzt während des ganzen Abends sinnend auf seinem Platz. Er ahnt oder weiss was kommt. Die Sitzung geht zu Ende. Hugo Hoffmann nimmt mich in seinem Wagen mit. Wir fahren über den Opernplatz. Hier ist eine Versammlung der SS vor dem Opernhaus, der Platz ist abgedunkelt. Man sagt uns, es sei eine Trauer­kundgebung für den ermordeten Gesandtschaftsrat.

Nächster Morgen, 10. November. Um neun Uhr gehe ich von Hause fort, um am Amtsgericht einen Termin wahrzunehmen. In der Nähe des Hauses begegne ich Dr. P.. Ich will mit ihm über gestern abend sprechen. Der sonst in der Unterhaltung sehr wortkarge ist es heute ganz besonders. Kurze, präzise Sätze, aber zu leise gesprochen, für keinen Dritten bestimmt. „Es ist eine neue Verhaftungswelle im Gange.“ Anscheinend ist es auf den Gemeindevorstand und die Gemeindevertretung abgesehen. „Mit Ihrer Wahl in die Gemeindevertretung haben wir Ihnen ein Danaergeschenk gemacht.“ Nach einigen Schritten: „Die Synagogen brennen.“ Er hat es vor sich hingesagt, ich habe ihn nicht deutlich verstanden, bringe auch keinen Zusammenhang zustande zwischen brennen und den Synagogen. Er wiederholt: „Die - - Syna-go-gen ... bren - nen ...“ Jetzt verstehe ich. Jetzt weiss ich, dass ich wieder im Krieg bin. Man hat uns den Krieg erklärt, nachdem man uns schon vorher, seit Jahren, wehrlos gemacht hat. Wir haben keine Presse, wir müssen das Maul halten, sonst setzt der Terror unmittelbar gegen den Einzelnen ein. Jetzt werden die Nerven angespannt, wie nur je im Gefecht. Meinen Gerichtstermin mag heute halten wer will. Zunächst telephonieren wir von einem Telephonautomaten an unsere Freunde. Hierbei ergibt sich, dass die Polizei auch nach einem Kollegen gesucht hat, der früher Mitglied des Gemeindevorstandes war und längst ausgewandert ist. Die Liste, nach der sie arbeitet, war also schon lange vorbe­reitet. Denn andererseits sind Leute noch nicht abgeholt worden, die erst in neuerer Zeit in die Gemeindekörperschaften eingetreten sind.

Das alles kommt mir so bekannt vor: 1917 in Douai bekam ich einmal den Auftrag, eine Liste von etwa vierzig Notabeln der Stadt aufzustellen. Sie wurde befehlsgemäss zusammengetragen, mit Hilfe der städtischen Beamten, die mich sehr eifrig bei der Arbeit unterstützten und sehr stolz darauf waren, mir so viele bedeutende Mitbürger nennen zu können. Die Liste ruhte dann monatelang in der Schublade - - bis eines Tages der Befehl kam: Es sind zwanzig Notabeln nach dem Lager Milejgany, zwischen Kowno und Wilna, zu schicken; es handelt sich um eine Repressalie gegenüber Massnahmen, die die Franzosen im Elsass getroffen haben. Damals wurde aus unserer Notabeln-Liste eine Trauer-Liste der zwanzig „Geiseln“ ausgezogen. Das Herz wurde einem schwer dabei, denn man kannte doch den grössten Teil der Betroffenen. Nach Möglichkeit suchte der Chef jüngere Leute oder solche Personen heraus, die unbeschäftigt waren. Ich entsinne mich noch, wie ich zum Friseur kam und wie dort ein Mann bedient wurde, der von den übrigen Anwesenden mit achtungsvoller Scheu angesehen wurde. Der Friseur sagte mir dann, dass er einer der Geiseln sei. Drei Wochen später war er im Lager gestorben, an Lungenentzündung, und seine Familie erhielt eine Photographie seines Grabes, und in Douai gab es wieder zwei Frauen, die still und wortlos, aber mit stolz erhobenem Kopf schwarz verschleiert durch die Stadt gingen. Und der andere, der nicht mehr von Milejgany zurückkam, war ein Senatspräsident am Appellationsgericht. Er war blasenleidend und er war der einzige, für den ein Gesuch eingereicht wurde, ihn von der Fahrt zu befreien. Persönlich kam damals sein Chef zur Kommandantur, um sich für ihn einzusetzen, aber vergeblich, denn der Kommandanturarzt, der den Patienten untersuchte, war der Ansicht, katheterisieren könne dieser sich auch selbst. Aber die Anderen, die nach Milejgany zogen, kamen nach einigen Wochen wieder zurück, nach­dem der Zweck der Repressalie erreicht war. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie stolz darauf waren, dabei gewesen zu sein. Ich weiss auch noch, wie alle Kommandaturleute, die mit der Sache befasst waren, froh waren, als die Geiseln endlich gesund sich wieder zurückmeldeten; wie deutlich damals der Unterschied zum Ausdruck kam, zwischen denen, die vom grünen Tisch aus politische Massnahmen trafen, bei denen über eine Anzahl von Nummern verfügt wurde, die in diesem Fall lebende Menschen waren, und andererseits denen, die diese Menschen als einzelne Persönlichkeiten sahen, die nur zufällig der feindlichen Nation angehörten, die aber gerade weil sie im besetzten Gebiet wohnten und augenblicklich keinen politischen Rückhalt hatten, mehr oder weniger als Schutzbefohlene angesehen wurden. Wie lebhaft doch diese Erinnerung angeregt wird, als uns die Erkenntnis kam, dass die Liste der heute Festzunehmenden schon lange vorbereitet gewesen sein musste und dass die Behörde nur auf den Druck auf den Knopf wartete, der die Wirkung auslösen musste. Und zugleich fällt mir noch eine andere Aktion ein, die ich miterlebt habe: Das war die Zusammenstellung von Zivilarbeiter-Bataillonen im besetzten Frankreich. Das Arbeitsamt der Kommandantur hatte Listen von solchen Männern zusammengestellt, die ihm von der Stadtverwaltung als vorbestraft gemeldet waren oder die sich arbeitslos herumdrückten. Irgend ein Genie, das am Verwaltungstisch sass, musste auf die geistvolle Idee verfallen sein, dass man dieser Leute nur mit Zwang und einer Art plötzlichen Überfall habhaft werden könne, und deshalb erging der Befehl, dass Soldatentrupps die Leute nachts abzuholen hätten. Das wollte ich auch mit ansehen und ich erhielt die Erlaubnis, einen solchen Trupp zu begleiten, der nach der Vorstadt Dorignies ging. Jedem dieser Trupps war ein französischer Polizeibeamter zugeteilt, der die Leute aus den Betten zu holen hatte. Bei unserem Trupp war der Brigadier Ledoux und es klingt mir noch in den Ohren, wie er in dem harten Dialekt der Leute des französischen Nordens vor einem der Häuser, dessen Bewohner herausrief: „Geniteau“— die letzte Silbe lang hingezogen von einem offenen O in ein U ausklingend. Ich hab's noch vor Augen, wie die verschlafenen Menschen, aus dem Schlummer aufgeschreckt, zu Fenstern und Türen herausblickten und das Schauspiel, das sich ihnen da bot, gar nicht verstehen konnten: Dass plötzlich der und jener aus ihrer Mitte hier ausgehoben wurde und mitziehen musste; wie der Trupp der Ausgehobenen anwuchs; wie die gleichförmig gebauten Häuser der Grubenarbeitersiedelung dunkel im Schein der Fackeln dastanden, mit den hohen, ohne Unterbrechung aussen am Haus nach oben führenden Treppen; wie ich mit dem Brigadier eine dieser Treppen hinaufging und ein Schlafzimmer betrat in dem sich der Festzunehmende im Bett aus den Armen seiner Frau losriss . ..; wie er sich anzog und wie die Frau still weinte und nicht begreifen konnte ...

Zurück in die Gegenwart:

Ein Trupp von Männern kommt die Strasse herunter, erkennbar geteilt in solche, die führen und solche, die in deren Mitte geführt werden. Wir begegnen dem Bürodirektor der Israelitischen Gemeinde. Er eilt nach Hause und erzählt nur so ganz schnell: „Sie“ sind ins Gemeindehaus gekommen, haben alle Männer, die zufällig dort waren aufgesammelt und mitgenommen. Ihn haben sie losgelassen, weil er schwer zuckerkrank ist. Den Vorsitzenden der Gemeinde haben sie wegen seines hohen Alters nicht mitgenommen. Nun haben wir also den ersten Augenzeugen gesprochen. Wir können auch, wenn es uns gelüstet, sofort selbst Augenzeuge sein: Denn gerade an der gegenüberliegenden Strassenecke ist das Café Falck, eines der paar jüdischen Cafés, denen die Bewirtung jüdischer Kundschaft gestattet ist. Es muss allerhand dort los sein. Vor dem Haus stehen etwa zwanzig Leute, zum Teil wohl Neugierige. Sie bilden also hier die „erregte Volksmenge“, die in solchen Fällen nötig ist, wie sie schon Nero kannte, wie sie die Bonapartes für ihre Zwecke stets bereit hielten und die sich in den Zeitungsberichten dann herrlich schön schildern lässt. Für uns ist es aber zweckmässiger, sie nicht zu vergrössern und uns dabei, wie wir eben gelernt haben, der Gefahr des Abgeschnapptwerdens auszusetzen. Also weiter um die nächste Strassenecke.

Da drüben wird mein Nachbar Kaufmann zur Polizei geführt. Er scheint nicht zu wissen, was eigentlich los ist, er ist wohl unmittelbar aus seiner Wohnung abgeholt worden.

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Quelle: “Eyewitness account by Julius Meyer of the November Pogrom in Berlin and his experiences in Buchenwald concentration camp.” Collection Reference: 1656. Reference Number: 1656/2/4/77; abgedruckt in From the “Seizure of Power” to the Outbreak of War (1933–39): The November Pogrom. Eyewitness Accounts. Collection: Testaments to the Holocaust. Documents and Rare Printed Material from the Wiener Library, London, S. 6–9. Mit freundlicher Genehmigung von der Wiener Holocaust Library.

Alon Confino, A World without Jews. The Nazi Imagination from Persecution to Genocide. New Haven and London: Yale University Press, 2014.

Martina Kessel, Gewalt und Gelächter. „Deutschsein“ 1914-1945. Stuttgart: Steiner, 2019.

Julius Meyer: Ein jüdischer Deutscher vergleicht seine Erfahrungen als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg mit seinen Erfahrungen im und nach dem Pogrom von 1938 (Rückblick), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-210> [07.12.2024].