Erinnerungen eines „volksdeutschen“ Mädchens aus Litzmannstadt [Lodz] (Rückblick, 2004)
Kurzbeschreibung
Das polnische Industriezentrum Lodz—die zweitgrößte Stadt Polens—wurde 1939 erobert und dem Reichsgau Wartheland angegliedert. Mit rund 60.000 „Volksdeutschen“ und 230.000 Juden vor dem Krieg veranschaulichte die Stadt, wie Germanisierung und Holocaust Hand in Hand gingen. Anfang 1940 wurde das erste große Ghetto in Litzmannstadt umbenannt. Diese Quelle stammt aus den Erinnerungen eines Mädchens aus einer der „volksdeutschen“ Familien. Selbst aus der Perspektive eines Kindes war erkennbar, dass Deutschsein denjenigen, die es für sich beanspruchen konnten, einen gewissen sozialen Status verlieh.
Quelle
Episode – September 1939 bis Januar 1945
Kriegszeit, die große Veränderung … und nun hatten wir den Krieg und die deutschen Soldaten im Land! Vom so genannten „Kriegsgetöse“ hörten wir fast nichts mehr. Außer den paar Bomben und Kanoneneinschlägen beim Einmarsch Anfang September ging es verhältnismäßig ruhig zu.
Die deutschen Truppen waren durch unser Lodz in Richtung Warschau gezogen, die Polen verhielten sich ganz ruhig und wir warteten gespannt auf das, was kommen würde.
Und nach ein paar Tagen kam es! Und zwar so schnell, dass wir alle staunten, wie das alles klappte und funktionierte.
An einem Morgen wurden überall Anschlagzettel und Verordnungen in Deutsch und Polnisch angebracht, wo und wann wir uns alle zu melden hätten. Die Schulen und größeren Polizeireviere in den verschiedenen Bezirken waren die Meldestellen. In Scharen strömten wir gemeinsam; denn wir waren alle sehr neugierig. Dort wurden wir in zwei Schlangen aufgestellt, Deutsche und Polen.
Alle Personalien wurden aufgenommen. Das dauerte viele Stunden. Uns wurde mitgeteilt, dass wir in ein paar Tagen unsere Papiere abholen sollten. Als wir dann alle unsere neuen Ausweise in der Hand hatten – die Polen in grün und wir in blau –, fragten wir uns, wie sie es geschafft hatten, so schnell und so viel grünes und blaues Kartonpapier zu beschaffen?
Mit den neuen „Pappen“, wie mein Papa sie gleich umbenannte, gingen wir zu den uns schon bekannten Stellen, um unsere Lebensmittelmarken abzuholen. Ich weiß nicht mehr, wie verschieden und andersfarbig unsere Marken und die der Polen waren. Aber eines haben wir beim Vergleich sofort festgestellt: Sie bekamen von allem fast nur die Hälfte. Na, wieso denn, die hatten doch genau solchen Hunger wie wir?
Am Abend saßen wir wie früher auf unserer Plumpe und sprachen alles gemeinsam durch. Unser Verhältnis zueinander hatte sich erstaunlicherweise wieder etwas gebessert.
Als wir unsere ersten Lebensmittelzuteilungen abholten, gab es so manchen Grund zum Staunen und Wundern. Denn zum ersten Mal im Leben bekamen wir Kunsthonig und Margarine zu sehen und zu schmecken! Das war für uns Kinder ein großer Spaß.
Wir saßen auf der Plumpe und naschten mit den Fingern von unseren mitgebrachten Honigbechern und Margarinewürfeln. Die etwas süßliche Margarine hatte es uns besonders angetan und wir vernaschten gleich den ganzen Würfel.
Mein kleiner Bruder und ich bekamen von unserer Mamusch für unsere Gier eine Ohrfeige. Nachts bekamen wir Bauchschmerzen und mussten mehrmals aufs Plumpsklo!
Am Anfang war das für uns alle erst noch lustig. Aber nach und nach passierten Sachen, die gar nicht mehr so lustig waren. Denn erst einmal wurden alle kleinen polnischen Geschäfte und Kioske geschlossen. Dann kamen die Verbote für alle Polen. Am Kino gab es eine Tafel: „Für Polen verboten“. In den Cafés stand: „Für Polen verboten“. Alle polnischen Schulen wurden verboten und geschlossen.
Da sowieso noch Ferien waren, kam man erst gar nicht so dahinter, was das für alle bedeutete. Außerdem hofften wir, dass alles sich noch etwas normalisieren würde. Aber es blieb so bis zum Ende.
Am übelsten waren unsere jüdischen Mitbürger dran. Nicht nur, dass sie von allem enteignet wurden und von großen in kleinere Wohnungen umziehen mussten. Es erging an sie der Befehl, sich mit einem gelben Stern zu „schmücken“.
Das war für Polen und Deutsche erst einmal zum Lachen. Aber dann gab es nichts mehr zum Lachen! Wir hörten nämlich so hintenherum, daß sich etwas zusammenbraute und im Gange war. Aber das wurde erst Anfang 1941 in die Tat umgesetzt.
Wir selber hatten auch erst einmal viel zu tun, um mit den Veränderungen in unserem kleinen Familienkreis fertig zu werden. Da unser Papa doch arbeitslos war und jeden Tag zum Arbeitsamt ging, kam er eines Tages mit einer großen Neuigkeit wieder. Er sollte sich am nächsten Tag beim neu besetzen Polizeirevier melden und nun Polizist werden.
Unser Papusch in einer Uniform? Na, was das wohl werden würde! Als er dann aber in seiner Polizeiuniform erschien, waren wir doch platt. Schick sah er aus! Wenn wir es nicht schon immer gewusst hätten, jetzt wurde es ganz offenbar: Unser Papa war ein Bild von einem Mann!
Auch die polnischen Nachbarn sagten ihm, wie gut er ausschaute. Er war stolz wie ein Pfau! Einen Haken hatte die Sache ja. Da er nicht lesen und schreiben konnte, war er für Büroarbeiten nicht zu gebrauchen. Also wurde er zur Polizeistreife eingeteilt. Aber nie alleine, sondern immer mit einem Kollegen, der schreiben konnte.
Das hat ihn natürlich gewurmt und er bedauerte es sehr, dass er keine Schule hatte. Doch sein Ärger hielt nicht lange an. Da er immer gute Laune hatte und voller Witze steckte, war er bei seinen Kameraden sehr beliebt und jeder wollte mit ihm auf Streife gehen.
Aber die Uniform begann ihn auch langsam zu verändern und schaffte einen großen Abstand zu unseren Nachbarn. Unsere Mama und wir Kinder gingen wie immer mit ihnen um.
Mitte Oktober ging es wieder los mit der Schule. Als wir mit unseren Schulranzen auf dem Rücken loszogen und die Polen zu Hause bleiben mussten, war das doch etwas eigenartig. Erst mal beneidete ich sie, weil die nicht hinbrauchten und ich hinmusste!
Aber die Neugierde war doch stärker. Was würden wir für Lehrer kriegen? Wie würde es ohne Polnisch sein? Wer würde der neue Schuldirektor sein? Fragen über Fragen! Aber alles war schon geregelt. Beim Einmarsch mussten die Deutschen wohl schon die Pläne für alle Fälle in der Schublade gehabt haben. Die größte Überraschung für mich war aber der neue Oberlehrer!
Wer begrüßte uns im großen Schulsaal als Direktor? Unser früherer Deutschlehrer, dieser Eklak, der uns immer wegen kleiner Vergehen in der Ecke auf Erbsen knien ließ! Mir wurde vor Wut ganz schlecht! Der erste Schultag war mir schon vermiest!
Dafür waren, wie es aussah, die anderen Lehrer alle in Ordnung. Es waren auch ein paar neue Gesichter dabei. Zwei schicke junge Männer aus Deutschland in einer gelben Uniform. Ich kam, wie vorausgesehen, nochmals in die vierte Klasse, da ich ja sitzen geblieben war.
Danach fragte aber niemand mehr und alles ging besser, als ich dachte. Ja, es ging sogar so gut, dass ich mich selbst über mich wunderte. Da jetzt nur alles in Deutsch war, wurde es auf einmal ganz einfach.
Gleich beim ersten Diktat, Mitte Dezember, bekam ich eine Eins. Und es ist nicht gelogen, wenn ich sage, dass ich im Laufe der nächsten Jahre, vor allem im Aufsatzschreiben, die Beste der Klasse wurde. In fast allen Fächern hatte ich gute und sehr gute Noten. Nur mit dem Rechnen hatte ich eben wie früher große Schwierigkeiten.
Aber unser neuer Klassenlehrer erkannte meine Not! Er bestrafte mich nicht dafür, wenn ich die immer schwieriger werdenden Aufgaben nicht begriff, sondern gab mir bei sich zu Hause nach der Schule kostenlose Nachhilfestunden. Das war eine Freude!!! Ich brauchte nun wegen Rechnen nie mehr die Schule zu schwänzen! Nun machte das Zur-Schule-Gehen richtig Spaß!
Jetzt konnte ich mich sogar bei meinen Mitschülern, die mir früher bei den Rechenaufgaben geholfen hatten, revanchieren. Wenn wir als Hausaufgabe einen Aufsatz zu schreiben hatten und sie den nicht hinkriegten, wandten sie sich immer an mich. Wir trafen uns dann an dem „Aufsatztag“ eine Stunde eher im Klassenzimmer. Ich diktierte ihnen – es waren manchmal drei oder vier Schüler – zum gleichen Thema, aber in verschiedenen Ausführungen die Aufsätze.
Es ging auch immer gut, und die Lehrer kamen nie dahinter. Ich freute mich jeden Tag auf die Schule und wurde jedes Jahr mit einem sehr guten Zeugnis versetzt. Außer im Rechnen, da fielen die Noten immer etwas schlechter aus. Aber bei den vielen „Gut“ und „Sehr gut“ gingen die Vierer wegen des blöden Rechnens einfach unter. Bei der Schulentlassungsfeier 1943 wurde ich von dem ehemaligen Ekel, jetzt Direktor, vor allen gelobt! Ich war das glücklichste Mädchen der Welt!
Auch in unserer Familie gab es nun viele Veränderungen. Da mein Papa bei der Polizei gut verdiente, musste unsere Mama nicht mehr mitarbeiten und war immer für uns da. Zu Weihnachten 1939 teilte uns unser Papa mit, dass wir nächstes Jahr ein Geschwisterchen bekommen würden. Wir Kinder freuten uns sehr.
Ich wunderte mich aber auch sehr über meinen Vater, als er eine ganz eigenartige Bemerkung machte. Er sagte: „Hoffentlich wet des a Junge. Mia missn uns ranhaltn, denn de Adolf braucht jetze viel Soldaten.“
Wir Kinder konnten mit diesem Ausspruch nichts anfangen, und unsere Mama schüttelte nur den Kopf. Nun wurde eine größere Wohnung beantragt und auch sofort bewilligt. Aber mit sofort war es nix. Es dauerte noch recht lange. Mein kleiner Bruder wurde im Mai 1940, noch in der alten kleinen Wohnung, geboren.
Die polnischen Nachbarinnen leisteten, wie früher, bei jeder Entbindung Hilfsdienste und kümmerten sich um uns Kinder und um den Haushalt. Erst Ende September 1940 bekamen wir eine größere Wohnung. Aber wo?
Es war ein riesiger Klassenraum in einer ehemaligen polnischen Schule. Wir kamen uns nach der gewohnten Enge ganz verloren darin vor. Unsere Möbel sahen wie Puppenspielzeug darin aus! Die Nachbarn halfen uns beim Umzug. Wir waren sehr bedrückt und nahmen traurig Abschied von unserer kleinen Stube, von unseren langjährigen Nachbarn und unserer geliebten Plumpe. Nur unser Vater freute sich auf die neue Umgebung und den großen „Saal“.
Es hieß, dies sei alles nur vorübergehend, bis etwas Schöneres und Größeres frei geworden wäre. Weihnachten 1940 feierten wir noch in dem Riesenzimmer, und es war überhaupt nicht gemütlich! Erst im Januar bekamen wir die Nachricht, dass ein Haus für uns frei geworden wäre und wir es uns ansehen sollten.
Wenn wir nur geahnt hätten, was da auf uns zukam! Als wir dort zur Besichtigung ankamen, zogen die Polen, denen das kleine Häuschen gehörte, gerade aus. Wir waren platt! Die wurden rausgeschmissen, nur wegen uns? Aber es war schon alles organisiert. Die mussten jetzt mit ihren drei Kindern in eine kleine Stube ziehen, und zwar nur drei Straßen weiter.
Meine Mama wollte erst nichts wissen davon. Doch dann erfuhren wir, dass in der ganzen Straße die kleinen Häuser von den Polen für die Deutschen geräumt werden mussten. Na, die waren vielleicht wütend und hätten uns am liebsten mit Blicken getötet. Was die Soldaten beim Einmarsch nicht geschafft hatten – jetzt war der blanke Hass da.
Doch es blieb uns nichts anderes übrig als anzunehmen. Sonst hätten eben andere die Wohnung bekommen. Und wir wollten doch so schnell wie möglich aus dem „Saal“ raus.
Da zu dem Häuschen ein kleiner Garten gehörte, versprach meine Mama den Leuten, später vom geernteten Obst und Gemüse etwas abzugeben. Das besänftigte die Familie etwas und sie sahen uns etwas freundlicher an. Nun zogen wir also in die neue Wohnung und fühlten uns nach kurzer Zeit auch recht wohl darin.
Aber nun kamen auf einmal so viele Veränderungen auf uns zu, dass wir aus dem Staunen nicht herauskamen.
Unser Familienname gefiel den Behörden plötzlich nicht mehr! Er klang zu polnisch!
Wir wurden umbenannt. Aus Bradatsch wurde Brade. Ich wurde von Aurelia auf Aurelie umgeschrieben! Na, die hatten vielleicht Sorgen!
Es mussten neue Papiere beantragt werden. Die Schwester meiner Mama, die mit einem Polen glücklich verheiratet war, sollte sich von ihm scheiden lassen. Das hat sie natürlich nicht getan, bekam deshalb keine blaue Volksliste und wurde als Polin behandelt.
Da die Polen auf ihre Marken viele Lebensmittel nicht oder viel weniger bekamen als wir, war es zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Unsere Mama hat ihrer Schwester und ihrer Familie die ganzen Jahre über geholfen, so viel sie konnte, über die Runden zu kommen.
Meinem Vater hat das gar nicht gefallen und er hat oft mit unserer Mama gezankt. Aber diese Hilfen hatten doch etwas Gutes. Als die Russen 1945 einmarschierten, haben unsere Verwandten uns geholfen, über die erste schlimme Zeit zu kommen. Doch darüber schreibe ich später noch.
Im September 1941 bekamen wir noch ein Brüderchen. Mein Vater wollte wohl seine Drohung wahr machen und selbst eine ganze Kompanie für Adolf aufstellen?
Ich bekam auch den ersten großen Streit mit meinem früher so geliebten Papusch, als ich nicht im BDM (Bund deutscher Mädchen) bleiben wollte. Mir gefielen das dauernde Marschieren, das fortwährende Strammstehen und die dauernde Geschichtslitanei über den „Führer“ nicht, die wir an jedem Heimabend immer wieder runterleiern mussten.
Als ich ein paarmal den Heimabend schwänzte, kam von der Leiterin eine Drohung ins Haus. Und ich bekam dafür von meinem Vater nicht nur ein paar gewöhnliche Ohrfeigen, sondern mit 13 Jahren die erste große Tracht Prügel meines Lebens!!! Mein geliebter Papusch, wie hast du dich verändert! Wie konnte es nur dazu kommen?
Ich fing an, diese Zeit zu hassen!
Quelle: Aurelia Scheffel, Lodz-Geschichte(n): Erinnerungen. Norderstedt: Books on Demand GmbH, 2004, S. 84-92. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Aurelia Scheffel.
Weiterführende Inhalte
Doris L. Bergen, „The Nazi Concept of ‚Volksdeutsche‘ and the Exacerbation of Anti-Semitism in Eastern Europe, 1939-45“, Journal of Contemporary History 29, Nr. 4 (1994), S. 569-82.
Doris L. Bergen, „Tenuousness and Tenacity: The Volksdeutschen of Eastern Europe, World War II, and the Holocaust“, in The Heimat Abroad: The Boundaries of Germanness, herausgegeben von Krista O'Donnell, Renate Bridenthal und Nancy Reagin. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 2005, S. 265-86.
Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität: Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen. Hamburg: Hamburger Edition, 2012.