Polnische Juden treffen auf einen „Volksdeutschen“ (Januar 1942)

Kurzbeschreibung

Jozef Zelkowicz war ein polnischer Jude, der das Leben im Ghetto von Lodz dokumentierte. Wie viele Holocaust-Überlebende beschreibt er, wie seine „arischen“ polnischen Nachbarn nach dem Einmarsch in Polen 1939 als „Volksdeutsche“ klassifiziert werden konnten. Viele nutzten ihre neu gewonnene Macht zum materiellen Nutzen aus— manche sogar mit mörderischer Wirkung.

Quelle

Fünfundzwanzig lebende Hühner und ein totes Dokument

Durch einen Hahn und eine Henne wurde Tur Malka zerstört.
– Babylonischer Talmud, Traktat Gittin 57a

Die Geschichte neigt dazu, sich zu wiederholen. Nuancen der Wiederholung lassen sich oft in Dokumenten wiederfinden. Dokumenten ist es aber eigen, dass sie entweder zu viel aussagen und dann alles leugnen oder sie sagen zu wenig aus und man muss sie in oraler Tradition ergänzen.

Oft sind Dokumente so lakonisch, so trocken, so nichtssagend, dass man sie nicht selten wegwerfen will, sodass man sich weder an sie erinnert noch ihren Befehlen folgt. Doch seien Sie vorsichtig mit nichtssagendem Papier. Werfen Sie es nicht eher weg bis Sie dieses nicht zuvor ausreichend untersucht und nachgefragt haben.

Ein solch unwichtiges, ein solch gar nichts sagendes Papier, wie zum Beispiel das folgende:

„Auf der Podrzeczna Straße 19, gegen sieben Uhr am Schabbat, wurden 25 lebende Hühner aufgegriffen und zum HIOD[1] gebracht. Nach Absprache mit Rozenblat wurden sie wie folgt verteilt:

13 Hühner behielt man für sich
6 Hühner für die Drewnowska Straße
1 Huhn – Rozenblat
5 Hühner= 20 Portionen unter dem HIOD aufgeteilt.“

… solltest Du, auch wenn es nicht unterschrieben ist, kein Datum trägt und es komplett mit Bleistift geschrieben wurde, nicht wegwerfen. –

Solch ein Papier könnte einmal ein sehr wichtiges Dokument sein.

Ein solches Papier, selbst wenn es gar nichts aussagt, könnte später einmal ein wichtiger Nachweis für den Grundsatz sein: Vox populi, vox dei.[2]

Ein solch trockenes und nichts aussagendes Papier, welches Du zufällig unter all dem unnützen Papier gefunden hast – solltest Du es nur richtig zu lesen und zu verstehen wissen – wird sich Dir als eine der schrecklichsten, als eine der tragischsten Ghetto-Geschichten offenbaren. –

Es ist eine Geschichte von 24 Vogelfreien, eine von für nichts und wieder nichts ermordeten Juden.

Es ist eine Geschichte von vierundzwanzig Menschen, die ihr Leben wie tollwütige Hunde auf der Straße verloren haben.

Es ist eine Geschichte von vierundzwanzig Menschen, die innerhalb weniger Tage von einer Bestie erschossen wurden. –

Das Papier, welches Du zufällig im Ghetto-Archiv gefunden hast, sagt rein gar nichts über vierundzwanzig ermordete Juden aus; es berichtet lediglich von fünfundzwanzig lebenden Hühnern.

Das Statistische Amt berichtet jedoch etwas mehr. Denn dieses Amt hantiert mit Zahlen.

Erschossene im Juli des Jahres 1940: zwanzig Männer und fünfzehn Frauen; zusammen fünfunddreißig Menschen.

Im Detail: Vornamen, Familiennamen, Alter, Beruf und Todesursache, die Du in der Abteilung für Bestattungen der jüdischen Gemeinde ausfindig machen kannst, wenn Du die Todeskarteien von knapp vierzehnhundert im Juli Verstorbenen durchforstest.

Die wahre Geschichte aber sowie die Extraktion aus der Angelegenheit mit den fünfundzwanzig lebenden Hühnern und den Erschossenen, musst Du Dir vom Volksmund erzählen lassen, und sie beginnt mit einem sheygetz[3], einem nicht-jüdischen Bengel aus der Stadt:

Ein nicht-jüdischer Bengel aus der Stadt, der auf dem Grünen Markt[4] geboren und unter Juden aufgewachsen, und der dort – auf dem Grünen Markt – unter dem Namen „Der blonde Janek“ bekannt war, ließ sich dort nieder und drehte seinen Pelz auf links und wurde ein Volksdeutscher.

Als Volksdeutscher standen ihm für seine Karriere alle Türen der jüdischen Wohnungen offen, wo er frank und frei sowie ungestört das Hab und Gut der Juden plündern konnte.

Als Volksdeutscher konnte er in der Stadt frank und frei Juden für die Arbeit aufgreifen und von ihnen Lösegeld verlangen, wenn sie es ihm denn freiwillig gaben, oder ihre Taschen ausleeren, wenn sie es ihm nicht freiwillig gaben. Als Pole geboren und erzogen, kannte Janek mit Sicherheit das polnische Sprichwort: Nie masz gorszego chama, jak ze sługi pana. (Es gibt nichts Schlimmeres als einen Diener des Meisters). Und mit seinen Taten bemühte er sich, einer alten Volksweisheit nachzukommen: Von einem einfachen Träger auf dem Grüner Markt, von einem Sackschlepper für die Juden, wurde Janek zum Prinzen.

Ständig schluckte er, mit dem Strick über den Schultern, seine Tränen hinunter. Nun konnte es sich Janek, jetzt als Volksdeutscher, sogar unter der Woche erlauben, sich im Sonntagsanzug zu präsentieren und auch, wie sonst nur jeden Sonntag, sogar unter der Woche betrunken zu sein.

Früher schleppte Janek für zwanzig Groschen einen bis zu hundert Kilogramm schweren Sack auf seinen Schultern und nun tummelten sich in seinen Hosentaschen, wie einst die Erbsen, die er aus jüdischen Kellern für seine Tauben gestohlen hatte, Zwanzig-Mark-Scheine. Damals musste Janek für seine Erbsen betteln oder sie gar stehlen. Häufiger musste er sie jedoch stehlen und wenn man ihn dabei ertappte, schlug man ihm eines über die Pfoten und über die Schnauze. Und heute rückte man ihm demütig und freiwillig Zwanzig-Mark-Scheine heraus; und falls man ihm diese nicht freiwillig gab, nahm er sich diese einfach und schlug dabei auf Pfoten und Schnauzen.

Wenn man Janek einmal für seinen Diebstahl schlug, wenn man ihn denn schlug, geschah dies stets gerecht und mit Mitgefühl, machten doch die paar Erbsen, die er hat mitgehen lassen, nichts aus, überhaupt nichts aus – sollte solch ein blonder Hund nur lernen, dass man nichts nehmen durfte. So erhielt er lediglich „trockene“ Klapse und lautlose kleine Patscher – und Janek war zufrieden, dass er mit einer geringen Strafe, so zu sagen mit Flohbissen, davongekommen war und die Juden, bei denen er gestohlen hatte, waren zufrieden – hatten sie doch einen Dieb belehrt. Wenn Janek aber schlägt, kennt er weder Mitgefühl noch Gerechtigkeit. Janek schlägt nicht „trocken“. Janek liebt Blut. Sehr viel Blut.

Eines kann man Janek schon nennen: gradlinig, extrem. Als er noch ein Träger war, schleppte er für wenige Groschen, fraß trockenes Brot und kratzte den Rest seines Verdienstes zusammen – wickelte es in einen Fetzen Stoff, bewahrte ihn bis Sonntag auf und versoff es dann. Als er noch ein Lastenträger war, konnte er keiner Fliege etwas zu Leide tun. Selbst dann nicht, wenn er betrunken war.

Kaum war er jedoch ein Prinz, waren zwanzig Mark für ihn nur einen Dreck wert und einen Patscher oder gar einen Klaps, den er verteilte, musste „nass“ sein, musste mit Blut gefärbt sein. Mit sehr viel Blut.

Bravo, Janek! – Aut Caesar, aut nihil![5]

Bravo Janek! – Du verfügst über alle Attribute, um ein echter, ein wahrer Deutscher zu sein! …

Bravo Janek! – Hast Dich zu einem guten, zu einem ausgezeichneten jungen Gesetzlosen dressieren lassen. Von einem Hund, der nimmt, was man ihm gibt und der stiehlt, wenn man ihm nichts gibt, zu einem Hund, der nach Blut lechzt –

Bravo Janek! – Hast dich zum musterhaften Deutschen gewandelt! Und – ach und weh Dir, Janek! – da Du nun mal ein dressierter junger Gesetzloser geworden bist, hat man Dir gleich einen Zaum um die Schnauze gelegt …

Ach und weh Dir, Janek! – Da Du ein musterhafter Deutscher geworden bist, unterwirfst Du Dich der deutschen wirtschaftlichen Konsequenz. Du unterwirfst Dich dem deutschen Wirtschaftssystem, in dem nicht der geringste Müll und nicht der kleinste Abfall liegen gelassen wird. Sogar Mist kann vermarktet werden!

In früheren Tagen war Janek noch zu nichts fähig, schon gar nicht um Säcke zu schleppen. Damals war Janek nicht mehr als ein streunender, ein räudiger Hund. Nun ist er aber noch gut genug, ein Hund der deutschen Ordnung zu werden... und –

Sogar dieser Hund hatte Schultern, denen man ein Gewehr umhängen konnte, sogar er besaß einen Kopf, dem man eine Polizeimütze aufsetzen konnte –

So wurde aus Janek ein deutscher Polizist. So wurde aus Janek ein Wächter über das jüdische Leben im Ghetto.

Als deutscher Polizist wurde Janek (selbstverständlich nannte er sich nun Johann) dazu abkommandiert, eine der Ghetto-Grenzen zu bewachen, damit kein Jude die Grenze überqueren konnte.

Janek, der es zuvor nur gewohnt war, Lumpen zu tragen, fühlte sich unbehaglich in dieser feinen Uniform, die man ihm über den Leib streifte. Kein Hund fühlte sich wohl damit, wenn man ihm Hundegeschirr um die Schnauze legte. Die Zwanzig-Mark-Scheine erhielt er schon lange nicht mehr. Die Juden vertrieb man in ein Ghetto und es war niemand mehr da, von dem man hätte etwas nehmen können. Janek musste mit dem mageren Lohn auskommen, den er für seine Polizeidienste erhielt. Saufen durfte man nicht und man musste dastehen und bewachen. – Stehen und bewachen, wie ein Hund, gebunden an der Kette.

Janek war dies nicht gewohnt. War Janek doch ein streunender Hund.

Streunende Hunde hassen Ketten um ihren Hals. Und wenn sie dann einmal in Ketten an einen Ort gebunden werden, zerren sie so lange daran, bis die Kette reißt oder – wenn die Kette stärker ist als sie, zerren so lange daran, bis sie verrückt werden.

Auch Janek zerrte an dieser Kette. Janek sträubte sich dagegen. Und da er seine Auflehnung nicht offen zeigen konnte, hätte man ihn doch wie einen tollwütigen Hund erschossen, sammelte sich seine bittere Galle im Maul an. So war ihm das alltägliche Leben ständig bitter, wurde die Welt für ihn immer enger.

Er, Janek, der dort auf jener anderen Seite stand und der die ganze freie Welt zur Verfügung hatte – ihm war seine freie Welt viel enger als die Welt jener, die auf der anderen Seite waren und die für sich nur ein Fitzelchen, nur ein begrenztes Bröckchen, nur ein kleines Stückchen Abfall von der Welt besaßen.

Janek, der es gewohnt war, leicht an Geld heranzukommen und für den es noch leichter war, das Geld zu versaufen, war – seitdem man ihn in eine feine Uniform gesteckt hatte – ständig durstig. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen und in seinem mit Galle gefüllten Maul fühlte sie sich an wie ein ausgetrocknetes Stück Lehm. Galle und Lehm.

In Janek gor es und er lechzte nach Freiheit. Janek sehnte sich nach den Zwanzig-Mark-Scheinen, von denen er vor nicht allzu langer Zeit noch so viele besaß und die ihm leicht zugänglich waren. Mit seinem tumben Verstand, mit seinen kleinen blauen Schweineäuglein suchte er nun die Zwanzig-Mark-Scheine auch dort. Auch dort, neben seiner Bude, an der man ihn wie einen Hund an die Kette gelegt hatte. Auch dort, an der Grenze des Ghettos.

Eines Tages, als er mit herausgestreckter, vertrockneter Zunge dastand wie ein durstiger Hund, bemerkte er den rotblonden Leyzer.

Sie erkannten sich kaum wieder: Der blonde Janek, in feine Uniform hineingesteckt, war nun gar eine völlig andere Erscheinung. Damals, als der rotblonde Leyzer noch sein Mehl-Lager auf dem Grünen Markt besaß, kannte er den blonden Janek als abgerissenen und verschlissenen Träger, ein sheygetz, der zerrissene Lumpen trug, der ständig barfuß lief und von dessen trockenen Wangen rote steife Schweineborsten hervorstachen. Sonntags, wenn sich Janek seinen einzigen schwarzen Festtagsanzug überstreifte, den er sich vor vier Jahren von der Stange in der Altstadt gekauft hatte; sonntags, wenn Janek sich über seine nackten Füße ein paar hohe rote Schuhe überzog, sonntags wenn sein Kinn frisch rasiert war und die rötlichen steifen Schweineborsten wie mit Nägeln befestigt zum Scheitel gezogen auf seinem patschigen Kopf lagen – hatte der rotblonde Leyzer Janek nicht gesehen, da sonntags sein Geschäft geschlossen war. Deshalb konnte sich der rotblonde Leyzer nicht vorstellen, dass solch ein Schurke, dieser polnische rotblonde, stets den Tränen nahe sheygetz, sich zu einem deutschen Söldner wandeln konnte, mit dem Gewehr über der Schulter, der nun dort stand und über ihn wachte.

Der rotblonde Leyzer wiederum, der sein Mehl-Lager auf dem Grünen Platz besaß, hatte damals einen dicken Bauch. Im Sommer trug er eine glänzende Robe aus Alpaka, die wie ein geputzter Spiegel funkelte. An den Füßen trug er ein paar leichte Chamois-Stiefel mit kurzen geschmeidigen Stiefelspitzen. Im Winter kleidete ihn einen Biberpelz mit weitem aus Stinktierpelz gefütterten Kragen. An den Füßen trug er mit Filz gefütterte Stiefel, darüber Galoschen und stets trug er einen roten glänzenden Bart, ordentlich zurechtgestutzt. Deswegen kam es dem blonden Janek nicht in den Sinn, dass dieser verschlissene, dieser heruntergekommene Jude mit der zerfetzten Kleidung auf seinem mageren Leib, mit dem seltsamen, roten, ausgerissenen und ausgezupften Bärtchen, dass dieses neben ihm stehende Jüdchen der rotblonde Leyzer vom Grünen Markt war.

Sie begegneten sich und erkannten sich nicht. Aber beide suchten einander zu intensiv, sodass, als sie sich letzten Endes trafen, sie sich nicht erkennen konnten.

„Beide suchten sich“ bedeutet aber nicht, dass der rotblonde Leyzer den blonden Janek im Speziellen gesucht hätte sowie der blonde Janek den rotblonden Leyzer im Speziellen suchte. – Der rotblonde Leyzer war auf der Suche nach einem unverfrorenen deutschen Söldner, der so aussah, als würde er nach dem Prinzip „leben und leben lassen“ handeln, einem Söldner, der sich, wie man auf dem Markt sagte, „vergiften“ ließ und mit dem man Geschäfte machen konnte. Und der blonde Janek wiederum suchte einen Juden, der ihm wie früher einst, es ist nicht lange her, Zwanzig-Mark-Scheine geben sollte.

Und als sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, der rotblonde Leyzer dort auf der einen Seite und der blonde Janek auf der anderen Seite, blickten sie sich eine längere Zeit an. Genau so wie sich in der Nacht auf einer einsamen Straße ein Mann und eine Frau auf der jeweils gegenüberliegenden Seite betrachteten und der Mann sich nicht traute, sie aufzureißen, da er sich nicht sicher war, ob sie zu der Sorte Frau gehörte, die sich aufreißen ließe. Und sie hingegen dort in wartender Pose stand, da, wenn er sie doch aufreißen würde, sie von ihm einen höheren Preis verlangen konnte.

Nachdem beide sich gegenseitig ausreichend still und leise bewundert hatten, – Leyzer betrachtete Janeks Aufstieg und Janek Leyzers Fall, schaute Janek sich um, schaute hinter sich und sah in beide Richtungen und als er sich vergewisserte, dass niemand hinsah, gab er Leyzer ein Zeichen, dass er näher kommen sollte: „Jak się masz, Leyzer. Chodź nie bój się. – Wie geht es dir, Leyzer? Komm, hab keine Angst.“ So war die Situation nun. Janek spürte Leyzers einstige himmelhohe Erhabenheit auf seinen Schultern lastend und so begann er mit einem Male seinen früheren Hausherrn und Arbeitgeber zu duzen.

Leyzer war keineswegs über diese Respektlosigkeit schockiert. Er war sogar über diesen familiären Ton, über dieses Verhalten, das jemand an den Tag legte, der dem Königreich nahestand, recht zufrieden. Er war weiterhin ein stadtbekannter sheygetz – unser sheygetz – ein Bauernknecht. Und so kam Leyzer näher, ohne Angst zu verspüren.

Janek, auf jüdischem Boden aufgewachsen, einer, der schon immer unter Juden und von Juden gelebt hatte, hatte sich etliche jiddische Wörter angeeignet wie mamele, tatele, a shlak, a kholere, a kapore[6] und dergleichen. Um sich Leyzer anzubiedern, begann er mit diesen Wörtern zu operieren:

„Siehst Du, Leyzer. Die Juden wurden von a kholere geschnappt! – Alle hier schön hineingestellt. Jeder Sack Mehl auf dem Zielony Rynek, jetzt unserer – alles unseres. Die ganze Welt unsere sein wird. Ich nun, Johann – ein Herr, Du Leyzer, ein gemeiner Jud[7] – ein Bauernknecht.“

Leyzer sah schon, dass wenn Janek ihn weiterhin so provozieren würde, er sich schwertun würde, sich zurückzuhalten. Ihm mit Beleidigungen zu antworten könnte ihn das Leben kosten. Er musste mit ihm diplomatisch reden; ein wenig schweigen, ein bisschen den Kopf heben und den Kopf ein wenig neigen; so war es ihm möglich, eine Weile nicht zu antworten und nur einen tiefen Seufzer auszustoßen, der so viel bedeutete wie:

„Du hast Recht, Janek, wir stecken in großen Schwierigkeiten.“ Und erst später sprach er zu ihm:

Nie bój się, Janek! – Tam, gdzie woda byla, woda będzie, a gówniarz – gówniarzem się zostaje (– Habe keine Angst Janek! – Dort, wo einst Wasser war, wird es wieder Wasser geben, und der Abschaum – bleibt Abschaum). So wird es sein, Janek. – Wer Geld besaß, wird es wieder besitzen und wer einst ein Schwein war, wird ein räudiges Schwein bleiben.

Und so wurde sich hindurch geredet, mit ein wenig Hinhören durch Leyzer und ein wenig Provokation durch Janek, bis folgende Abmachung geschlossen wurde: Janek wird alles durch den Stacheldraht hineinwerfen, was er in der Stadt noch auftreiben konnte. Die Ware wird Leyzer im Ghetto verkaufen und den Gewinn wird man sich teilen:

– Du verstehst, Janek! – Leben und leben lassen!...

– Tak jest, panie Leyzer. Tam, gdzie woda byla, tam i będzie. (Ja, Herr Leyzer. Wo das Wasser war, dort wird es sein und bleiben.) Geld kommt zum Geld! – Du wirst es haben, ich werde es haben. Jak kiedyś, pamięta Leyzer?!... (Wie einst einmal, erinnerst Du Dich, Leyzer?!)

Das Ghetto wurde gerade erst verriegelt. Die Bevölkerung konnte noch nicht ahnen, welche Gräuel noch auf sie wartete. Die Bevölkerung befand sich noch, sozusagen, in den Wonnemonaten des Ghetto-Lebens und sie fühlte sich wie in der Erprobungsphase eines jungen Mannes in den Dreißigern, der sich noch nicht darin bewiesen hatte, die Mittel zu vergeuden und der derweil eine Münze nach der anderen tauschte – und aß.

Deswegen war im Ghetto so gut wie alles Ware. Alles, was der Magen nur verdauen konnte.

Nach der Panik in der Stadt, nach den Erschießungen in den Wohnungen während der „planmäßigen Übersiedlung“, nach dem Aufgreifen auf den Arbeitsstellen, nach Angst und Schrecken vor den bevorstehenden Tagen, vor den bevorstehenden Stunden, gab sich die Bevölkerung im Ghetto, wo Juden unter ihresgleichen waren, der Dolce fare niente[8] hin. Man sammelte sich auf den Straßen und erzählte sich gute Nachrichten. Man saß auf dem Hof und spielte Karten, man tauschte das wenige Bargeld, welches man aus der Stadt hinüberretten konnte und kaufte davon Lebensmittel. Die Preise stiegen von Tag zu Tag. Aber, da der Teufel so viel gestohlen hatte, dass man einen Berg aus dem vielen jüdischen Vermögen hätte anhäufen können, da die Hochzeit so viel kostete – Verzeihen Sie, es kostet noch ein paar Mark mehr! – Für Lebensmittel, wenn man sie denn auftreiben konnte und sie ergatterte, und dies konnte nur von der anderen Seite des Stacheldrahtes aus geschehen, zahlte man den aktuellen Tagespreis. Es war die Zeit der „Prosperität“ im Ghetto. Prosperität im umgekehrten Sinne: Es war nicht die Bevölkerung, die verdiente und das Einkommen ausgab. Es waren lediglich einzelne, diejenigen, die pfiffig waren und etwas riskierten und Schmuggel mit jener Seite des Stacheldrahtes betrieben. Und die Bevölkerung, die über kein Einkommen verfügte, gab das letzte Geld aus und kaufte alles Mögliche ein: ob es Seife, Nägel, Zucker, Mehl, Toilettenpapier, Fleisch oder gar lebendige Hühner waren …

Lebende Hühner, deren Kapital wie von selbst Tag für Tag im Wert steigt, und sie dabei jeden Tag Gewinn bringen – ein Ei. Ein Ei im Ghetto, Herr im Himmel, das bedeutete doch jeden Tag ein frisches Vermögen von zwei oder zweieinhalb Mark! War es doch selbstverständlich, dass der rotblonde Leyzer so stark insistierte:

– Janek, achte um Himmels Willen darauf, Hühner! – Keine Gänse, keine Truthähne, Hühner!...

Janek besaß fürwahr einen Kopf und den besten Verstand – schließlich trug er auf ihm eine Polizeimütze. Aber der Kopf diente ihm, ähnlich wie das Geländer einer Treppe, schon immer nur als Stütze für den Sack, den er auf seinen Schultern schleppte. Deswegen verstand er Leyzers Intention nicht, interpretierte es gar für sich auf seine Weise:

„Ha-Ha, die Jüdchen müssen im Ghetto ihren Appetit zügeln: keine Gänse mehr, keine Truthähne mehr für sie, sie müssen sich nun mit Hühnern begnügen.“... Und so konnten sich nur die Bäuerinnen, die ihr Federvieh in der Stadt verkauften, von Janek „requirieren“ lassen. Janek selbst war, was die Ware betraf, nicht sonderlich wählerisch. Laut Bestellung besorgte er für Leyzer nur Hühner. Darunter konnten sich aber auch Hähne befinden, denn im Detail wurde beim Abschluss der Transaktion keine Regel für Reklamationen ausgemacht. –

Und als in den Ghetto-Läden plötzlich Eier zum Preis von zweieinhalb Mark pro Stück auftauchten und man in den Straßen des Ghettos geviertelte Hühner auf Tellern zum Preis von fünfzehn Mark kaufen konnte; als hie und da ein lebendiges Huhn gesichtet wurde und die Tagesanbrüche durchdrungen waren mit Hahnengeschrei, ließ dies alles der jüdischen Polizei keine Ruhe:

„Ist es denn die Möglichkeit?! – Hühner im Ghetto, Eier im Ghetto und dies ohne ihr Wissen?... Man schmuggelt Federvieh ins Ghetto hinein, Menschen werden dabei reich und sie haben keinen Anteil daran?... Welch Chuzpe[9] sich einige Juden erlauben! – Solche Juden musste man entfernen, sie entwurzeln!“ Und wer konnte nicht besser suchen als die jüdische Polizei? – Sie suchten so lange, bis sie auf den rotblonden Leyzer stießen und bei ihm fünfundzwanzig lebende Hühner fanden. Fünfundzwanzig lebende Hühner, die der blonde Janek ihm besorgt hatte.

Was mit diesen fünfundzwanzig Hühnern geschah, erzählt das bereits erwähnte Dokument: Nach dem 50/50-Prinzip gab man 13 Hühner an den rotblonden Leyzer zurück und den Rest – keine Sorge – ging an den jüdischen Hilfsordnungsdienst, der seinen Namen ebenfalls nach Muster der deutschen Polizei wie Kripo, Schupo und dergleichen mit HIOD abkürzte.

Sechs dieser Hühner, wie im Weiteren das Dokument berichtet, wurden zur Drewnowska Straße gebracht. Da der Adressat auf der Drewnowska Straße nicht angegeben ist, kann vermutet werden, dass damit das Spital auf der Drewnowska Straße gemeint war. Jedoch fällt es schwer, die Annahme zu bestätigen, dass die Kranken die sechs Hühner je bekommen haben. Eher ist man geneigt, die Wahrheit darin zu sehen – wenn das Gesetz richtig ausgelegt wird, was wahrscheinlicher ist –, dass das führende Personal die Hühner schneller verdauen konnte als die infizierten Kranken, die zu jener Zeit dort lagen...

Ein Huhn wurde dem Kommandanten des jüdischen Ordnungsdienstes zugeführt, dem obersten Hüter der Gerechtigkeit im Ghetto, damit er bewilligte, dass aus den restlichen fünf Hühnern zwanzig Portionen gemacht wurden, die unter der Mannschaft des HIOD aufgeteilt werden sollten.

Und so geschah es, dass endlich einmal das Prinzip „einer für alle“ durchgeführt wurde.

„Einer für alle“. Ein rotblonder Leyzer war so in der Lage, mit seinen wenigen fünf Hühnern ein ganzes Spital, eine ganze Abteilung der jüdischen Polizei mit dem Kommandanten an der Spitze zu befriedigen.

Den zweiten Teil des erwähnten Prinzips „alle für einen“ führte auf seiner Seite der blonde Janek konsequent durch. Jedoch gibt es darüber kein offizielles Dokument. Dieses Detail ergänzt wieder der Volksmund:

Für die zwölf beschlagnahmten Hühner wollte der rotblonde Leyzer Janek nicht bezahlen. Janek verdross der Verlust des Geldes nicht so sehr wie die Chuzpe dieser Juden-Bande, die sich ohne seine Erlaubnis der gleichen Beschlagnahmungs-Methode bedienten wie er selbst. Und so dachte er bei sich:

„Gut, die verfluchten Judenbengel stahlen ihm zwölf Hühner, wird er sich für jedes Huhn zwei Juden nehmen... Die verfluchten Judenbengel entschieden sich für Fifty/Fifty, er wird sich dazu entscheiden zu verdoppeln – zwölf Hühner – vierundzwanzig Juden... soll das verfluchte Judengesindel wissen, wer Janek ist!“...

Sollte das Ghetto wissen, wer Janek war, der blonde sheygetz, den man in eine Polizeiuniform gesteckt hatte. Den einfachen Träger-sheygetz, der sich wie ein räudiger streunender Hund hatte dressieren lassen und der deswegen gut genug war, um ihm ein Gewehr um die Schulter zu hängen und ihn als Wache an der Grenze des Ghettos abzustellen.

Sollte das Ghetto wissen, wer der blonde Janek war, der nach zwei Monaten und zwei Tagen, nachdem das Ghetto abgeriegelt wurde, konsequent damit begann, für nichts und wieder nichts vierundzwanzig Juden abzuknallen.

Und dies sind sie; diejenigen, die durch den blonden Janek wie tollwütige streunende Hunde auf der Straße erschossen wurden:

Am zweiten Juli des Jahres 1940 schoss er einem fünfzehnjährigen Mädchen durch das Herz.

Drei Tage später, am fünften Juli, als man ihn wieder auf seinen Posten stellte, erschoss er einen neunundzwanzigjährigen jungen Mann sowie ein einundzwanzig Jahre altes Mädel.

Nach einer Unterbrechung von fünf Tagen, am zehnten Juli, schoss er einer dreißigjährigen Frau in den Kopf.

Am elften Juli – war es ein dreiunddreißigjähriger junger Mann.

Am zwölften Juli schoss er einem siebenundsechzigjährigen Alten das Gehirn aus dem Schädel.

Am sechzehnten Juli legte er eine fünfzigjährige Frau und einen sechzehnjährigen wohlerzogen Jungen um.

Am achtzehnten Juli schoss er einer neunundsechzigjährigen Frau in den Kopf.

Am neunzehnten jagte er einem zweiundsechzigjährigen Juden eine Kugel durch das Herz.

Am zwanzigsten ermordete er ein sechzehnjähriges Mädchen.

Ganz präzise fuhr er sein Morden am Morgen des einundzwanzigsten fort. An jenem Tag knallte er ganze fünf Opfer ab: Ein Mädchen von siebzehn Jahren; einen Jungen von zwanzig Jahren; zwei einundzwanzigjährige Jungen und einen jungen Mann von dreißig Jahren.

Am zweiundzwanzigsten ermordete er einen dreizehnjährigen Jungen sowie einen achtunddreißigjährigen Juden.

Am vierundzwanzigsten – zwei ältere Frauen.

Am sechsundzwanzigsten schoss er einem siebzehnjährigen Jungen in den Kopf.

Am siebenundzwanzigsten – war es ein vierundvierzigjähriger Jude und –

Am achtundzwanzigsten – seine letzten beiden Opfer: ein siebzehnjähriges Mädchen und eine fünfzigjährige Frau.

Die Details, wie Vornamen, Familiennamen, Alter sowie Adresse der Erschossenen, finden sich, wie bereits erwähnt, in den offiziellen Dokumenten der Abteilung für Bestattungen. Jedoch haben offizielle Dokumente oft den Nachteil, dass sie entweder zu viel reden, wie die Zigeunerin beim Kartenlegen, und nur manchmal trifft etwas davon zu und den Rest leugnen sie, ebenso wie die Zigeunerin, oder sie schweigen gänzlich:

Die offizielle Statistik weist zum Beispiel auf, dass im Juli 1940 fünfunddreißig Menschen erschossen wurden. Und sie vergisst dabei darauf hinzuweisen, dass von den fünfunddreißig elf beiseite genommen werden müssen, die am dreiundzwanzigsten Juli erschossen wurden, und dies in keinster Weise durch den blonden Janek, sondern durch einen anderen Hüter der deutschen Gerechtigkeit –

Der blonde Janek erschoss nach diesen vierundzwanzig keinen einzigen Juden mehr. Vierundzwanzig erschoss er mit deutscher Genauigkeit. Keinen einzigen Juden mehr. Aber über diese rein rechnerisch vierundzwanzig erschossenen Juden, wie schon gesagt, berichtet kein einziges offizielles Dokument, mit keinem einzigen Wort. So wie keines dieser Dokumente zum Beispiel darüber berichtet, ob das Huhn, welches der Kommandant der Ordnung und Hüter der Gerechtigkeit im Ghetto erhielt, ihm wohl bekam oder – Gott behüte! – nicht …

Ghetto, Januar 1942.

Anmerkungen

[1] Abk. für Hilfsordnungsdienst
[2] Lat. Volkes Stimme ist Gottes Stimme.
[3] Nicht-jüdischer Junge, ein kleiner Teufel, Witzbold
[4] Poln. Zielony Rynek
[5] Lat. Entweder Cäsar oder nichts!
[6] Jidd. für Mamma, Pappa, eine schlechte Wendung (oder mieses Geschäft), eine Verfluchung, umgangssprachlich in etwa „vergiss es!“
[7] Poln. Żyd [ʒɨt]= Jude, auch durchaus abwertend gemeint.
[8] Ital. Süßes Nichtstun
[9] Jidd. Frechheit, Unverschämtheit

Quelle: Josef Zelkowicz, Reportage aus dem Ghetto Lodz (Januar 1942), Nachman Zonabend Collection, 1939-1945, Folder No. 880, Record Group No. 241, Microfilm MK 537, YIVO Archives, YIVO Institute for Jewish Research, New York, NY.

Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche: Susan Hiep

Doris L. Bergen, „The Nazi Concept of ‚Volksdeutsche‘ and the Exacerbation of Anti-Semitism in Eastern Europe, 1939-45“, Journal of Contemporary History 29, Nr. 4 (1994), S. 569-82.

Doris L. Bergen, „Tenuousness and Tenacity: The Volksdeutschen of Eastern Europe, World War II, and the Holocaust“, in The Heimat Abroad: The Boundaries of Germanness, herausgegeben von Krista O'Donnell, Renate Bridenthal und Nancy Reagin. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 2005, S. 265-86.

Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität: Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen. Hamburg: Hamburger Edition, 2012.

Polnische Juden treffen auf einen „Volksdeutschen“ (Januar 1942), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-213> [29.11.2023].