Chronik des Ghettos von Lodz über die Ankunft der deutschen Juden aus Hamburg (7. Mai 1942)

Kurzbeschreibung

Die Deutschen organisierten Ghettos nicht nur, um Juden von „Ariern“ (sowohl Deutschen als auch Polen) zu isolieren, sondern auch, um die Arbeitskraft der Menschen im Ghetto auszubeuten und Wertgegenstände zu enteignen. Die Zustände, welche die 160.000 polnischen Juden im Ghetto Lodz ertragen mussten, wurden noch verschärft, als im Herbst 1941 etwa 20.000 deutsche, österreichische, tschechische und luxemburgische jüdische Deportierte eintrafen. Diese Neuankömmlinge wurden von den Einheimischen oft als zu deutsch oder ausländisch empfunden, und das Stigma des Deutschseins hielt an, bis sie im folgenden Frühjahr erneut deportiert wurden, diesmal in Vernichtungslager. Diese Quelle aus dem Jahr 1942 dokumentiert die Ankunft eines Transportes von deutsch-jüdischen Deportierten aus Hamburg, die bei den Ghettobewohnern einen wohlhabenden Eindruck machten.

Quelle

Randnotizen zur Aussiedlung des Hamburger Transports[1]

Kaum ein halbes Jahr …

Kaum ein halbes Jahr ist vergangen, seit sie ins Getto kamen …

Damals zogen lange Reihen von vorwiegend fein gekleideten Menschen durch das Getto, deren äußere Erscheinung sich so sehr von unserem heimischen Elend unterschied. Elegante Sportanzüge, feines Schuhwerk, Pelze und verschiedenfarbige Umhänge der Frauen sprangen uns ins Auge. Man gewann öfter den Eindruck, als wären diese Menschen auf einer Erholungsreise oder eher zum Wintersport gekommen, denn die Mehrheit hatte Skianzüge an. Das Aussehen dieser Menschen zeugte nicht gerade vom Krieg, und da sie trotz der empfindlichen Kälte ohne Mäntel vor den Unterkünften ihrer „Transporte“ und sogar durch die Stadt spazieren gingen, bewies dies am deutlichsten, dass sie ihre Fettschicht ausgezeichnet vor der Kälte schützte.

Mit sonderbarem Abscheu – vielleicht auch nicht unbegründet – begegneten sie den außergewöhnlich schlechten sanitären Bedingungen, unter denen sie untergebracht waren; sie schrieen, empörten sich und ließen sich von keinen Argumenten überzeugen. Es interessierte sie damals nicht, dass aufgrund ihrer Ankunft der gesamte bescheidene Transportapparat zum Erliegen kam und dass folglich das für die gesamte Winterzeit zugeteilte Gemüse in Marysin erfror. Sie beschäftigten sich nicht näher damit, dass die Unterbringung von ca. 20 000 Ankömmlingen auf solch einem knappen Gettogebiet nur auf Kosten der Fläche, die von der alteingesessenen Bevölkerung bewohnt war, vonstatten gehen konnte. Die Wahrheit ist, dass dieses Problem in der Folge nicht hinreichend gelöst und zum größten Übel wurde; man muss aber ehrlich zugeben, dass seine Lösung – auch unter den besten Bedingungen – eine gewisse Zeit beansprucht hätte. Sie waren aber sehr ungeduldig und fluchten, was das Zeug hielt!

Irgendwo hat sie irgendwer irregeführt … Man hatte sie nicht informiert, wohin sie fahren und was mit ihnen geschehen würde. Sie hatten gehört, dass sie in irgendein Industriezentrum reisen würden, wo jeder von ihnen eine entsprechende Beschäftigung finden würde, und deshalb waren sie enttäuscht, als sie gänzlich andere Bedingungen vorfanden. Manche fragten sogar, ob sie nicht in irgendeinem Hotel wohnen könnten. Es gab zwar unter ihnen hochmütige und grobe Menschen, aber im Grunde genommen waren sie durch ihre Desorientierung klein und hilflos. Bei der Abreise durften sie nur 50 kg Gepäck pro Person mitnehmen (was nicht überall der Fall war!), aber kaum jemand hielt sich an diese Norm und so war die Transportabteilung mehrere Wochen lang mit der Beförderung ihres Gepäcks von Ort zu Ort beschäftigt.

Fast alle brachten Lebensmittelvorräte mit und diejenigen, die dies aus irgendwelchen Gründen nicht tun konnten, trafen hier auf ein großes Angebot an Brot, Margarine und anderen Produkten, die von der alteingesessenen Bevölkerung zum Verkauf angeboten wurden. Die neue Kundschaft war ein reicher Markt, der täglich das gesamte Angebot aufsog. Die Preise stiegen von Stunde zu Stunde und der Preis für einen Laib Brot stieg in kurzer Zeit auf 25 Mk., während unter den früheren Bedingungen ein Preis von 10 Mk. schon astronomisch erschien.

Sie sahen das Elend der hiesigen Bevölkerung und sie wussten, dass sie dank ihrer finanziellen Überlegenheit die Möglichkeit hatten, ihren Brüdern aus dem Osten den letzten Bissen Brot aus dem Mund herauszureißen; das schreckte sie aber nicht. Eine ganze Reihe von Menschen verkaufte ihre Ration zu Spottpreisen an den Ständen weiter; am Anfang für ein paar Dutzend Pfennige. Mit Abscheu beäugten sie die Suppen, die man ihnen brachte, und in kaum einem Transport konnte man – wenigstens am Anfang – Ankömmlingen begegnen, die die Kost aus den Gemeindeküchen konsumierten. Man gab sie für verschiedenartige Dienste und Gefälligkeiten unseren Elenden ab.

Im Gebäude des Kinos „BAJKA“, ul. Franciszkańska 33, wurde ein Teil des Hamburger Transports untergebracht. Dies geschah am Donnerstagabend, dem 20. November, und am Freitagmorgen kam der Präses, um die Gäste zu begrüßen. Sie hatten es sich auf dem Fußboden bequem gemacht, sie schliefen auf ihren Bündeln und Alte und Frauen saßen auf Stühlen an den Wänden.

Auf eine Anordnung hin erhoben sie sich und der Präses richtete an sie eine kurze – vielleicht sogar die kürzeste – Rede im Getto. Sie enthielt nur einige wenige Sätze, aber sie war so warmherzig und herzlich, dass sich nicht nur die Frauen, sondern auch viele ernste Männer vor Rührung Tränen aus den Augen wischten. Es war eine wahrhaft brüderliche Begrüßung mit der Versicherung, dass er mit ihnen sein bescheidenes Dach und Brot teilen werde.

Am selben Abend arrangierten die festlich gekleideten Ankömmlinge aus Hamburg den Freitagsgottesdienst. Bei vielen angezündeten Kerzen fanden ihre ersten Gebete zu Gott in einer sonderbar unheimlichen Ruhe und in gehobener Stimmung statt. Diejenigen, die schon lange vom Judentum abgekommen waren, und sogar solche, deren Väter bereits jegliche Verbundenheit mit den Urvätern verleugnet hatten, waren heute festlich angetan in einer ernsten und gehobenen Stimmung, Trost und Erlösung im Gebet suchend. Und als sie nach dem Ende des Gebetes in die Halle hineinkamen, erhob sich der gleiche Satz aus vielen Mündern: „Jetzt sehen wir, dass wir alle gleich sind, alle Söhne desselben Volkes, alle Brüder.“

Es war eine Schmeichelei, vielleicht ein Kompliment gegenüber der alteingesessenen Bevölkerung oder vielleicht nur eine Vorahnung der nicht fernen Zukunft.

Die Ereignisse schritten schneller voran als die Zeit; die Menschen veränderten sich sichtbar, zuerst äußerlich, später körperlich und schließlich, insofern sie nicht völlig verschwanden, zogen sie wie Schatten durch das Getto …

Wruken und Rüben, die sie am Anfang so verschmäht hatten, kauften sie jetzt für teures Geld und jene von ihnen so verschmähten Suppen wurden zum Gipfel ihrer Träume. Früher trieben sich andere, jetzt aber sie selbst in der Stadt umher mit kleinen, angebundenen Töpfen oder Kochgeschirr und schnorrten etwas Suppe bei den anderen. Und die Bedingungen haben sich in dieser kurzen Zeit enorm verändert; eine Küchensuppe ist zum Luxus geworden, der Preis einer solchen Suppe ist bis zu 15 Mk. gestiegen und keiner gibt sie gerne her, auch wenn sie den Suppen von vor einem halben Jahr nicht gleichkommt. Sie verkauften die Reste ihrer Habe, um sich eine leidliche Kost zu sichern, in der sie ihre letzte Rettung vor dem Verderben sahen.

Und doch war es nur ein halbes Jahr, nur sechs Monate, die sich für sie als eine ganze Ewigkeit erwiesen haben! Eine solche Metamorphose hätte man sich bei manchen sogar im Traum nicht ausmalen können … Schatten, Skelette mit Geschwülsten im Gesicht und an den Gliedmaßen, zerlumpt und ausgemergelt, gehen jetzt auf eine weitere Wanderung, auf die sie nicht einmal einen Rucksack mitnehmen dürfen.

Alles, was an den trügerischen europäischen Glanz erinnerte, wurde ihnen entrissen

und es blieb nur der Jude, der ewige Wanderer …

Ihre Vorahnung an diesem ersten Freitag im Getto hat sie nicht getäuscht …

„Kl“

Anmerkungen

[1] Dieser Einzelbericht bezieht sich auf die Deportation der Hamburger Juden, von der in der Tageschronik vom 7. Mai 1942 (Eintrag: Der 4. Tag der Aussiedlungen) berichtet wird.

Quelle: „Randnotizen zur Aussiedlung des Hamburger Transportes“. [Dieser Einzelbericht bezieht sich auf die Deportation der Hamburger Juden, von der in der Tageschronik vom 7. Mai 1942 (Eintrag: Der 4. Tag der Aussiedlungen) berichtet wird]; abgedruckt in Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1942, herausgegeben von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, und Jörg Riecke. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 160-62.

Chronik des Ghettos von Lodz über die Ankunft der deutschen Juden aus Hamburg (7. Mai 1942), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-214> [01.12.2023].