Die Beschreibung der ersten Tage der sowjetischen Besetzung Berlins durch eine anonyme deutsche Frau (Rückblick, 1950er Jahre)

Kurzbeschreibung

Als sowjetische Truppen 1945 Ostdeutschland, einschließlich Berlin, besetzten, beteiligten sie sich an der grassierenden sexuellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Der Bericht einer deutschen Frau, die anonym bleiben wollte, befasst sich unter anderem mit der Art und Weise, wie das Deutschsein geschlechtsspezifische Auswirkungen hat. Sie beschreibt außerdem bestimmte „deutsche“ gegenüber „russischen“ (oder „sowjetischen“) Werten und deren jeweiligen Ausdruck in der Vorstellung von Männlichkeit.

Das Buch wurde 1954 erstmals in englischer Sprache veröffentlicht und war in den Vereinigten Staaten ein großer Erfolg. Eine erste deutsche Ausgabe erschien 1959 in der Schweiz, aber die deutsche Öffentlichkeit lehnte das Buch als eine Schande für deutsche Frauen weitgehend ab. Im Jahr 2003 erschien eine neue deutsche Ausgabe, die schnell zu einem kommerziellen Erfolg wurde und 2008 zu einer Verfilmung führte. Der Journalist Jens Bisky stellte jedoch die Authentizität des Berichts in Frage und enthüllte die Identität der anonymen Autorin als die der Journalistin Marta Hillers (die 2001 gestorben war). Jüngste Recherchen anhand der Manuskripte der Autorin und anderer Quellen haben Hillers als die Autorin bestätigt, haben aber gleichzeitig ergeben, dass sie ihren Bericht in den 1950er Jahren vor seiner ersten Veröffentlichung erheblich redigiert hat.

Quelle

Mittwoch, 2. Mai 1945, mit Dienstagrest

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Gegen Abend gab es eine Störung. Jemand trat und schlug gegen die Vordertür. Ich öffnete bei versperrter Kette, sah etwas Weißes und erkannte den Bäcker von Dienstag früh in seiner Kittelmontur. Er wollte herein. Ich wollte nicht, tat so, als sei Anatol drinnen. Da forderte er von mir ein anderes Mädel, irgendeins, eine Adresse, einen Hinweis, wo eines sei – er wolle dem Mädel Mehl dafür geben, viel Mehl, und auch mir Mehl für die Vermittlung. Ich weiß kein Mädel für ihn, will keins wissen. Da wurde er lästig, zwängte seinen Fuß in den Türspalt, riß an der Verschlußkette. Ich drückte ihn mühsam hinaus, knallte zu.

Ja, die Mädels sind allmählich verknappte Ware. Man kennt jetzt die Zeiten und Stunden, in denen die Männer auf die Weibsjagd gehen, sperrt die Mädel ein, steckt sie auf die Hängeböden, packt sie in den gut gesicherten Wohnungen zusammen. An der Pumpe wurde eine Flüsterparole weitergegeben: Im Luftschutzbunker hat eine Ärztin einen Raum als Seuchenlazarett eingerichtet, mit großen Schildern in Deutsch und Russisch, daß Typhuskranke in dem Raum untergebracht seien. Es sind aber lauter blutjunge Mädels aus den Häusern ringsum, denen die Ärztin mit ihrem Typhustrick die Jungfernschaft rettet.

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Die Russen um die Pumpe herum musterten uns Wasserholerinnen immer nur flüchtig. Die haben schon kapiert, daß aus den Häusern in erster Linie die Krummen und Alten zur Pumpe geschickt werden. Ich runzle dort auch meine Stirn, ziehe die Mundwinkel abwärts, kneife die Augen zusammen, um recht alt und mies zu erscheinen.

Anfangs, als ich noch nicht so bekannt war wie ein bunter Hund, haben unsere russischen Gäste mich oft nach meinem Alter gefragt. Sagte ich dann, ich sei bereits vor einiger Zeit dreißig geworden, so gab es ein Gegrinse und die Antwort: „Hehe, die macht sich älter, die Schlaue.” Meinem Ausweis, den ich nun zückte, mußten sie freilich glauben. Die kennen sich mit uns nicht aus, sie sind ihre viel gebärenden, früh verbrauchten Russinnen gewöhnt, lesen uns die Jahre nicht vom Körper ab – so elend und kümmerlich die meisten von uns auch jetzt im Vergleich zu Friedenszeiten wirken mögen.

Ein rotbackiger Russe spazierte, auf einem Akkordeon spielend, an unserer Reihe entlang. Er rief uns zu: „Gitler kaputt, Goebbels kaputt. Stalin gutt.“ Er lacht, kräht einen Mutterfluch, schlägt einem Kameraden auf die Schulter und ruft auf russisch, obwohl man das in der Pumpenschlange gar nicht versteht: „Den seht euch an! Das ist ein russischer Soldat. Der ist von Moskau nach Berlin gezogen!“ Sie platzen aus allen Knopflöchern vor Siegerstolz. Offenbar staunen sie selber darüber, daß sie es so weit gebracht haben. Wir schlucken alles, stehen und warten.

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Ich versuche mir vorzustellen, wie den Russen angesichts all des schutzlos und herrenlos herumliegenden Gutes zumute sein muß. In jedem Haus gibt es verlassene Wohnungen, die ihnen völlig preisgegeben sind. Jeder Keller mit allem darin verstauten Kram steht ihnen offen. Nichts in dieser Stadt, was ihnen, wenn sie wollen, nicht gehörte. Es ist einfach zuviel. Sie übersehen die Fülle nicht mehr, greifen lässig nach blinkenden Dingen, verlieren oder verschenken sie wieder, schleppen manches Stück ab, das sie nachher als zu lästig wieder von sich werfen. Zum ersten Mal sah ich hier Knaben, die ein solch ordentliches Postpaket aus ihrer Beute formten. Gewöhnlich sind sie ungeschickt im Verwerten, haben keine Ahnung von Qualität und Preis, schnappen sich das Erstbeste, das ihnen in die Augen sticht. Woher soll es auch kommen? Die haben ihr Leben lang Zugeteiltes auf ihrem Körper getragen, wissen nicht zu sichten und zu wählen, ahnen nicht, was gut und teuer ist. Wenn sie zum Beispiel Bettzeug klauen, so nur, um sich gleich draufzulegen. Ob Eiderdaunen oder Reißwolle, sie sehen keinen Unterschied. Und über jeder anderen Plünderbeute steht ihnen der Schnaps.

Die Buchhändlerin teilt uns, während sie an der Leinwand stichelt, von ihren Neuigkeiten aus. Ja, Stinchen, die Achtzehnjährige, wird von ihrer Mutter immer noch auf dem Hängeboden gehalten, bleibt neuerdings auch tagsüber dort, seit einmal mit den Wasserholern sich zwei Russen in die Wohnung gedrängt, mit Revolvern herumgefuchtelt und ein Loch in das Linoleum des Fußbodens geschossen haben. Sie sieht käsig aus, die Kleine. Kein Wunder. Dafür ist sie noch heil. Die Buchhändlerin weiß von neuen Hausbewohnern zu berichten, zwei jungen Schwestern, die eine ist Kriegerwitwe, hat einen dreijährigen Jungen. Sie sind in eine der leerstehenden Wohnungen eingerückt und feiern drinnen mit Soldaten, mal am Tag, mal in der Nacht; es soll sehr lustig bei ihnen zugehen. Weiter erfahren wir, daß eine Frau im Hause gegenüber aus dem dritten Stock auf die Straße ge­sprungen ist, als Iwans hinter ihr her waren. Auf dem Rasenplatz vor dem Kino ist sie begraben worden. Es sollen noch mehr Menschen dort liegen. Ich weiß es nicht, mein Pumpenweg führt in eine andere Richtung. Und sonst macht man ja jetzt draußen keine Wege.

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Donnerstag, 5. Mai, mit Rest von Mittwoch

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Mit ziemlicher Selbstüberwindung hat die Witwe das Geschenk zurückgewiesen, hat Petka mitsamt seinem Koffer wieder auf die Reise geschickt. Übrigens nicht aus moralischen Hemmungen! „Wie komm’ ich dazu“, meint sie, die aus gutem deutschem Bürgerhause stammt. „Meinen Koffer hat man ja auch verschleppt.“ Ihre Bedenken waren rein praktischer Art. „Ich kann die Sachen ja doch nicht anziehen“, so sagt sie. „Der Koffer stammt aus einem der Häuser hier herum; und wenn ich mich in Kleidern daraus zeige, muß ich riskieren, daß ich der wirklichen Besitzerin in die Finger laufe.“ Bloß zwei Paar Schuhe hat sie sich herausgefischt, da konnte sie nicht widerstehen, es war genau ihre Schuhgröße. Es sind braune Straßenschuhe, Allerweltsmuster, außerdem, so sagt die Witwe, lassen sie sich leicht schwarz kremen und sind dann gut getarnt. Sie will mir ein Paar von den Schuhen überlassen, ich könnte sie auch gebrauchen, hab nur das Paar an meinen Füßen. Leider sind die Schuhe mir zu klein.

Den ganzen Nachmittag über war Ruhe; wir sahen keinen von unseren Bekannten mehr, weder Anatol noch Petka, Grischa, Wanja, Jascha oder den Schullehrer Andrej. Dafür erschien bei Anbruch der Dämmerung pünktlich der Major, mit seinem pummeligen usbekischen Schatten und mit noch jemand – gottlob nicht der düsterblonde Leutnant an seinem Stock. Nein, ein kleines, rotbäckiges Bürschlein in blauem Matrosenanzug, achtzehn Jahre alt, Sowjetmarine. Es scheint, dass sie Berlin auch vom Wasser her erobert haben. Seen haben wir ja genug. Das Matröslein sieht aus wie ein Schuljunge und lächelt treuherzig über beide Backen, als er mich halblaut fragt, ob er mich um etwas bitten dürfte.

Bitte sehr! Und ich winke ihn zum Fenster hin, durch das noch immer Brandgeruch hereinweht. Der Matrose ersucht mich dann höflich, ganz kindlich, ich möchte doch so gut sein und ihm ein Mädchen besorgen – aber ein sauberes und ordentliches müßte es sein, ein gutes und liebes – er würde ihm auch zu essen bringen.

Ich starre den Knaben an, habe Mühe, nicht mit Gelächter herauszuplatzen. Das ist denn doch die Höhe. Jetzt fordern sie von ihren besiegten Lustobjekten bereits Sauberkeit und Bravheit und einen edlen Charakter! Fehlt bloß noch ein polizeiliches Führungszeugnis, ehe man sich für sie hinlegen darf! Aber der Kleine blickt so hoffnungsfroh drein, hat die so zarte Haut eines guten Mutterkindes, daß ich ihm nicht böse sein kann. Ich schüttle also mit dem nötigen Bedauern mein Haupt, sage ihm, daß ich erst seit kurzer Zeit in diesem Hause wohne, kaum Leute kenne und ihm leider nicht sagen kann, wo ein gutes, braves Mädchen für ihn zu finden sei. Er nimmt es betrübt zur Kenntnis. Mir zuckt es in den Fingern, ihm hinter die Ohrlöffel zu fahren und nachzufühlen, ob er dort schon trocken ist. Aber ich weiß, daß auch der scheinbar sanfteste Russe jäh zum wilden Tier werden kann, wenn man ihn oder sein Selbstgefühl antastet. Bloß wissen möchte ich, warum ich mir immerfort Kuppelpelze verdienen soll. Wahrscheinlich, weil ich hier herum die einzige bin, die ihre Wünsche sprachlich versteht.

Mein Matrose verzog sich wieder, nachdem er mir dankend seine Kinderpfote gereicht hatte. Warum bloß diese Knäblein so emsig hinter Weiblichem her sind? Daheim würden sie damit wohl noch warten, obwohl sie früher heiraten als unsere Männer. Wahrscheinlich wollen gerade diese Soldatenknaben, wie ja auch der sechzehnjährige Wanja, der Treppenschänder, sich unter ihren älteren Kameraden als vollgültige Männer ausweisen.

Tja, mit dem wilden Drauflosschänden der ersten Tage ist es nichts mehr. Die Beute ist knapp geworden. Und auch andere Frauen sind, wie ich höre, inzwischen genau wie ich in festen Händen und Tabu. Über die beiden Sauf- und Jubelschwestern hat die Witwe inzwischen Genaueres vernommen; danach sind bei ihnen bloß Offiziere zugelassen, die es Nichtberechtigten oder gar Hundsgemeinen schwer verübeln, wenn sie Einbrüche in ihr Bettrevier machen. Allgemein versucht ein jeder, der nicht schon zum Abmarsch bereitsteht, etwas Festes, ihm Gehöriges zu finden, und ist bereit, dafür zu zahlen. Daß es bei uns mit dem Essen elend bestellt ist, haben sie begriffen. Und die Sprache von Brot und Speck und Heringen – ihren Hauptgaben – ist international verständlich.

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Noch ein Photo zeigt mir der Major, das Porträt eines sehr gut aussehenden, streng gescheitelten Mädchens, Tochter eines polnischen Universitätsprofessors, bei dem der Major im letzten Winter in Quartier lag.

Als der Major meine familiären Verhältnisse anbohrt, weiche ich aus, mag davon nicht sprechen. Er will dann wissen, welche Schulbildung ich genossen habe, vernimmt achtungsvoll, was ich ihm vom Gymnasium und den gelernten Fremdsprachen und meinen Reisen kreuz und quer durch Europa berichte. Er sagt anerkennend: „Du hast eine gute Qualifikation.“ Wundert sich dann unvermittelt, daß die deutschen Mädchen alle so schlank und fettlos seien – ob wir so wenig zu essen bekommen hätten? Er malt sich dann aus, wie es wäre, wenn er mich mitnähme nach Rußland, wenn ich seine Frau wäre, seine Eltern kennenlernte... Er verspricht, mich dort mit Hühnchen und Sahne dickzufüttern, denn vor dem Krieg habe man bei ihm daheim recht gut gelebt ... Ich lasse ihn spinnen. Fest steht, daß meine „Bildung“ – die er freilich nach bescheidenem Russenmaßstab mißt – ihm Achtung einflößt, mich in seinen Augen begehrenswert macht. Gewiß ein Unterschied zu unseren deutschen Männern, für die nach meinen Erfahrungen Belesenheit keineswegs den Reiz einer Frau erhöht. Im Gegenteil, instinktiv hab ich mich stets ein bißchen dümmer und unwissender gestellt den Männern gegenüber oder hab doch hinterm Berge gehalten, bis ich sie näher kannte. Der deutsche Mann möchte stets der Klügere sein und sein kleines Frauchen belehren. Die Sowjetmänner wissen nichts von kleinen Frauchen fürs traute Heim. Bildung steht dort so hoch im Kurs, ist ein so rares, so gesuchtes, dringend benötigtes Gut, daß man sie von Staats wegen mit strahlendem Nimbus umgibt. Hinzu kommt, daß Wissen sich dort bezahlt macht, was auch der Major sagen will, als er mir nun darlegt, daß ich in seiner Heimat bestimmt „qualifizierte Arbeit“ finden würde. Schönen Dank, du meinst es gut, aber damit bin ich ein für allemal bedient. Bei euch gibt es zu viel Abendkurse. Ich mag keine Abendkurse mehr. Ich mag Abende für mich.

Er sang wieder leise, melodisch, ich höre es gern. Er ist redlich, reinlichen Wesens, aufgeschlossen. Aber fern und fremd und so unausgebacken. Wie sind wir Westler alt und überklug – und sind jetzt doch Schmutz unter ihren Stiefeln.

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Rückblick auf Freitag, 4. Mai 1945, notiert Samstag, 5. Mai

Gegen elf Uhr morgens erschien der Major, er hatte bereits vernommen, daß Anatol wieder in der Gegend, wollte wissen, ob ich mit ihm ... Ich sagte, nein, er habe bloß hier mit seinen Leuten gefeiert und getrunken, mußte zeitig wieder ins Zentrum zurück. Er schluckte es. Mir war mies zumute. Am Ende werden sie doch noch zusammenknallen. Was soll ich tun? Ich bin bloß Beute, muß es den Jägern überlassen, was sie mit der Beute tun wollen und wem sie verbleibt. Doch hoffe ich sehr, daß Anatol nicht wiederkehrt.

Diesmal brachte der Major allerlei Süßigkeiten mit, deutschen Luftwaffenproviant, Kraftfutter. Wir aßen zum Nachtisch davon, unter uns, denn der Major empfahl sich bald wieder. Er wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte, als ich ihm vom Strumpf-Angebot seines Usbeken erzählte. Entschied sich schließlich fürs Lachen. Er versprach, gegen Abend wiederzukommen, in scharfem Ton, mit scharfem Blick. Nun weiß ich doch nicht, ob ich ihn lenken kann, muß mich in acht nehmen, darf nie vergessen, daß sie die Herren sind.

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Was der Tag sonst gebracht hat? Ach ja, wieder eine Treppenbeute, wieder eine Alte, an die sechzig schon; die Jüngeren trauen sich tagsüber kaum ins Treppenhaus. Diesmal war es eine von den drei schwarzgekleideten Schneiderinnen. Die hatten gehört, daß Anatols Mannen ihre Wohnung wieder freigegeben hatten, und waren zu dritt, unter dem Beistand unseres Soldaten-Deserteurs, in die verlassenen Räume gedrungen, hatten aus Müll und Kuddelmuddel ge­meinsam eine Nähmaschine herausgeholt und zwei Treppen höher geschleppt. Eine der Tanten war nochmals allein hinuntergelaufen, irgendwelches Schneiderzubehör zu bergen – und war einem Kerl in die Finger gelaufen. Die Witwe sprach gegen Abend mit ihr, da lag sie noch schluchzend auf dem Sofa in der Buchhändlerswohnung, ein ganzer jam­mernder Frauenhaufen drum herum.

Auch die Jüngste von Portiers hat es inzwischen erwischt, die Mutter erzählte es mir an der Pumpe. Die ersten Tage über hatte sich die Familie, Mutter, zwei Töchter und ein dreijähriger Enkelsohn, im gutgesicherten Nachbarskeller verborgen gehalten. Als dann die Rede ging, es sei nicht mehr so arg mit den Iwans, waren die Mädels tagsüber in die Wohnung im Erdgeschoß zurückgekehrt, hatten dort gekocht und Sachen gewaschen. Bis zwei singende, stockbe­trunkene Knaben sie dort überraschten. Der Ältesten, so sagt die Mutter, hat keiner was getan. Ich sah sie seitdem und kann es verstehen: Sie ist krankhaft abgemagert, hat ein Gesicht so klein und hohl, daß man förmlich die Umrisse des Schädels durchschimmern sieht. Die Jüngste hatte sich, wie die Mutter mir zuflüsterte, mit Watte verbarrikadiert, obwohl kein Anlaß vorlag; doch hatten die Mädchen gehört, daß die Iwans Frauen dann nicht möchten. Es half nichts. Unter Spaß und Gejohle haben die Kerls das Zeug in der Stube umhergeworfen und die Sechzehnjährige auf der Chaiselongue in der Küche genommen. „Es geht ihr soweit gut“, meinte die Mutter, selber ganz verwundert darüber. Trotzdem hat sie die Kleine vorsichtshalber drei Treppen hoch in die Wohnung der Buchhändlersleute gebracht, wo sie, wie die Witwe gehört hat, allen Leuten wichtig wiederholt, die Russen hätten gleich nach ihr gelangt, hätten die ältere Schwester überhaupt nicht angeguckt.

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Samstag, 5. Mai 1945

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Am Nachmittag kreuzten etliche Männer bei uns auf. Das heißt, deutsche Männer aus unserem Haus. Es war ein ganz sonderbares Gefühl, wieder mal mit Männern umzugehen, die man nicht im geringsten fürchten, abtasten, beobachten, im Auge behalten muß. Sie brachten die Buchhändlers-Saga mit, von der heute unser ganzes Haus widerhallt. Der Buchhändler, ein Bayer, ein kleiner, stämmiger Knorren, hat wirklich und wahrhaftig einen Russen angebrüllt. Dies geschah, als ein Iwan die wasserschleppende Buchhändlerin kurz vor der Wohnungstür abfing. (Den Mann läßt die Frau nicht zur Pumpe, er war in der Partei.) Die Frau kreischte, ihr Mann kam aus der Wohnung gerannt, ging auf den Iwan los und schrie: „Du verfluchter Sauhund! Du Schwanz!“ Und die Saga meldet weiter, wie darob der Russe klein wurde, wie er einschrumpfte, wie er kniff. Es geht also doch. Der Bursche hat mit seiner Tier- und Barbarenwitterung gespürt, daß der Ehemann rot sah, daß ihm in der Sekunde alles, aber auch alles gleich war – und hat ihm die Beute gelassen.

Zum ersten Mal hörte ich von solch rotem Zorn eines unserer Männer. Die meisten sind vernünftig, reagieren mit dem Kopf, sind bemüht, ihre Haut zu retten, wobei die Frauen ganz auf ihrer Seite stehen. Kein Mann verliert sein Ge­sicht, weil er eine Frau, sei es die eigene, sei es eine Nachbarsfrau, den Siegern preisgibt. Im Gegenteil, man würde es ihm verdenken, wenn er die Herren durch Widerstand reizte. Trotzdem bleibt da ein ungelöster Rest. Ich bin überzeugt, daß die Buchhändlerin ihrem Mann diesen Anfall von Mut, von Liebe, wenn man will, nicht vergessen wird. Und die anderen Männer, die diese Geschichte herumerzählen, lassen in ihrem Ton Respekt durchklingen.

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Schließlich sitzen wir einander gegenüber, die zwei Soldaten, Fräulein Behn, Frau Lehmann, an deren Knie sich der vierjährige Lutz festklammert, und ich. Vor uns in seinem Wagen sitzt das Baby. Ich übersetze, was der ältere Russe mich zu übersetzen bittet: „Welch hübsches kleines Mäd­chen! Eine wahre Schönheit.“ Und der Sprecher ringelt sich des Babys Kupferlöckchen um den Zeigefinger. Er bittet mich dann, den beiden Frauen zu übersetzen, daß auch er zwei Kinder habe, zwei Jungen, die bei der Großmutter auf dem Lande leben. Er kramt ein Photo aus seiner zerschlissenen Pappkarton-Brieftasche: zwei Borstenköpfchen auf bräunlich nachgedunkeltem Papier. Seit 1941 hat er sie nicht mehr gesehen. Von Urlaub wissen die wenigsten Russen was, das habe ich schon herausbekommen. Fast alle sind sie seit Kriegsbeginn, seit beinah vier Jahren also, von ihren Familien getrennt. Ich nehme an, weil ihr Land die ganze Zeit hindurch Kriegsschauplatz war und die Zivilisten hin und her geworfen wurden, so daß keiner recht wußte, wo seine Familie gerade steckte. Dazu die ungeheuren Entfernungen des Landes, die kümmerlichen Transportwege. Und vielleicht befürchteten die Machthaber auch, wenigstens in den ersten Jahren des deutschen Vormarsches, ihre Leute könnten dann desertieren oder überlaufen. Wie dem auch sei, einen Anspruch auf Urlaub wie die Unsrigen hatten diese Männer nie. Ich erkläre dies den beiden Frauen, und Frau Lehmann meint verständnisvoll: „Ja, das entschuldigt so manches.“

Der zweite russische Gast ist ein junger Kerl, siebzehn Jahre alt, Partisan gewesen und dann mit der kämpfenden Truppe westwärts gezogen. Er sieht mich mit streng gerunzelter Stirn an und fordert mich auf, zu übersetzen, daß deutsche Militärs in seinem Heimatdorf Kinder erstochen hätten und Kinder bei den Füßen gefaßt, um ihre Schädel an der Mauer zu zertrümmern. Ehe ich das übersetze, frage ich: „Gehört? Oder selbst mit angesehen?“ Er, streng, vor sich hin: „Zweimal selber gesehen.“ Ich übersetze.

„Glaub ich nicht“, erwidert Frau Lehmann. „Unsere Soldaten? Mein Mann? Niemals!“ Und Fräulein Behn fordert mich auf, den Russen zu fragen, ob die Betreffenden „Vogel hier“ (am Arm) oder „Vogel da“ (an der Mütze) hatten, das heißt, ob sie Wehrmacht waren oder SS. Der Russe begreift den Sinn der Frage sofort: den Unterschied zu machen, haben sie wohl in den russischen Dörfern gelernt. Doch selbst wenn es, wie in diesem Fall und ähnlichen Fällen, SS-Leute waren: Jetzt werden unsere Sieger sie zum „Volk“ rechnen und uns allen diese Rechnung vorhalten. Schon geht solches Gerede; ich hörte an der Pumpe mehrfach den Satz: „Unsere haben’s wohl drüben nicht viel anders gemacht.“

Schweigen. Wir starren alle vor uns hin. Ein Schatten steht im Raum. Das Baby weiß nichts davon. Es beißt in den fremden Zeigefinger, es kräht und quietscht. Mir steigt ein Klumpen in die Kehle. Das Kind kommt mir wie ein Wunder vor, rosa und weiß mit Kupferlöckchen blüht es in diesem wüsten, halb ausgeräumten Zimmer, zwischen uns verdreckten Menschen. Auf einmal weiß ich, warum es den Krieger zum Kindchen zieht.

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Quelle: Anonyma (Marta Hillers), Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. 4. Aufl., München: btb-Verlag, 2005, S. 105–06, 120–21, 122–23, 125–27,130-32, 137, 140–41, 143–47. © AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin 2003, 2011 (zuerst erschienen als Band 221 der Anderen Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2003).

Yuliya von Saal, „Anonyma: Eine Frau in Berlin. Geschichte eines Bestsellers“, in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), S. 343–76.

Die Beschreibung der ersten Tage der sowjetischen Besetzung Berlins durch eine anonyme deutsche Frau (Rückblick, 1950er Jahre), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-215> [28.11.2023].