Der Untergang der deutschen Sprache: Wie retten wir unsere Klassiker? (1897)

Kurzbeschreibung

Im Kaiserreich wurde regelmäßig der Untergang der deutschen Sprache im Ausland beschworen. Das Lamento reflektierte den Wunsch, Deutschsein in der Diaspora auch über Generationen hinweg kulturell zu bestimmen. Doch zeigte die Empörung über einen Verlust der deutschen Sprache vor allem, dass sich viele Deutsche tatsächlich in ihre neue Umgebung integrierten.

Quelle

Wie retten wir unsere Klassiker? Ein Mahnruf an Schillers Erben in Amerika

Herzbeweglich schallt das Klagelied deutsch-amerikanischer Schul-„Männer“ über die Abneigung der ihrer Obhut anvertrauten Zöglinge gegen deutsche Sprache und Literatur.

Die wackeren Herren, die mit erfrischendem Humor sich selbst Jugend-Erzieher nennen, würden diese Abneigung sicher gern verschmerzen, wenn sie sich lediglich gegen die Machwerke der Modernen richtete, die, selbstverständlich verführt durch den bösen Franzosen Zola, ihr freches Gift gegen alles Heilige, gegen die Ehe, das Eigenthum, ja selbst gegen eine landesväterliche Regierung zu spritzen wagen; aber leider wendet die nur aus der Dime-Novelle reinen Genuß schöpfende Schaar der Mägdelein und Knäbelein sich sogar von den längst vermoderten Großen ab, die seitens der Behörden ausdrücklich, wenn auch zuweilen ziemlich widerwillig, als klassische Dichter anerkannt worden sind und die dem biederen teutschen Volke für alle Zukunft den Ehrennamen des Volkes der Dichter und Denker verschafft haben, den ihm kein Sozialisten-Gesetz, kein Spitzel-Prozeß und kein Brüsewitz mehr rauben kann.

Die stolze Hoffnung, ein eigenartiges, deutsch-amerikanisches Dichter-Geschlecht, gleich groß an Talent wie an Charakter, züchten zu können und für dasselbe die lokalpatriotische Begeisterung der, wenn auch nicht heranreifenden, so doch heranwachsenden Jugend wach zu rufen, scheint nur mäßige Aussicht auf Verwirklichung zu besitzen. Weder der Wackere Reimschmid Kastelhuhn mit seinem an Wilhelm Busch’s reifste Schöpfungen mahnenden Verse:

„Doch zum Anarchisten-Heer
Zählt mich nicht, ich bitte sehr“

noch Chicago’s feister Braten-Barde Alexander Seebaum mit seinem redlichen Bemühen, die altehrwürdigen Witze der Vorväter in seiner Winkelschrift zur Pflege des niedrigeren Kalauers aufzuspeichern, können trotz ihrer klassischen Leistungen die älteren Klassiker völlig ersetzen. Die Frage, wie retten wir unsere Klassiker, bleibt eine offene, und mit ihr zugleich die unendlich wichtigere, wie retten wir den deutsch-amerikanischen Schulmeister, der zwar nicht wie sein glorreicher, rein-deutscher Kollege die Schlacht bei Königgrätz unter Moltkes liebenswürdigem Beistand gewonnen hat, wohl aber ebenso gut wie der Beckalschwinger im theuren Vaterlande unentwegt und voll und ganz, um in der köstlichen Sprache des Berliner Freisinns zu reden, seine unschätzbare Kraft einsetzt, um den Respekt, diese Urwurzel der göttlichen Weltordnung, in die empfänglichen Herzen zu säen.

In dieser Bedrängniß weist — — ’s klingt wunderbar, ist dennoch wahr — — ein frommer Diener des „Herrn“ mit dem schlichten Namen Zimmermann[1], den einzig möglichen Weg zur Rettung. Mit besonderem Stolze dürfen wir Leute von Chicago auf diesen vielseitigen Gottesstreiter schauen; denn er ist unser so gut wie der Mann mit dem prachtvollen Lakaien-Kopfe, der furchtlose Wash Hesing[2], den Nichts, nicht einmal die sichere Aussicht auf unsterbliche Lächerlichkeit zu schrecken vermag.

Der Reverend Zimmermann hat, durch keine Sachkenntniß in seinem fröhlichen Urtheil getrübt, über Literatur ein Büchlein in einem Deutsch verfaßt, das jedes Kind deutscher Eltern, dem das Heil widerfahren ist, auf dem geweihten Boden Amerikas das ziemlich trübselige Licht der Welt zu erblicken, zu hellem Entzücken fortreißen muß.

Unverzagt setzt Herr Zimmermann sich über die traurigen Regeln unserer pedantischen Sprache hinweg. Ausdrücken, aus dem Englischen und Deutschen wundersam zusammengemischt, wie sie in den Bierstuben der Randolph Straße die Gespräche zu würzen pflegen, verleiht er munter das Bürgerrecht in der Schriftsprache und macht dadurch seine etwas einförmige Kost dem an Candy und Whiskey gewöhnten Gaumen der Leser mundrecht.

Folgen wir diesem Beispiel! Passen wir die deutschen Klassiker dem Verständniß und den Anschauungen deutsch-amerikanischer Jugend an! Amerikanisiren wir unsere großen Dichter!

Wenn der von deutschen Eltern hier gezeugte Jüngling den, fast hätte ich geschrieben, seinen Schiller aufschlägt und auf der ersten Seite der Gedichte Hektors rührsamen Abschied von der Andromache vorfindet, so wird er zweifellos das Buch mit einem Achselzucken wieder zuklappen.

Was sollen ihm, dessen Brust das im Lande der Braven und Freien allein noch geltende Ideal, der Gott der Götter, Mammon, schwellt, was sollen ihm die „ollen Jriechen“?! Was kümmert die dumme, ehrliche Tapferkeit Hektors, was der grimme, geschäftlich nicht zu verwerthende Zorn des Peliden Achilles den verschmitzten Bewunderer Jay Goulds?!

Wie anders würde es auf ihn einwirken, wenn da zu lesen stände:

Hermann’s Abschied.

Antonie:
Will sich Hermann wirklich von mir wenden,
Dorthin, wo mit ungewaschenen Händen
Der Indianer seine Keule schwingt?
Wer wird jetzt mir seinen Wein bescheeren,
Rippsper[3] spenden und Bouquets verehren,
Wenn der finstre Urwald dich verschlingt?

Hermann:
Theurer Schatz, laß das verwünschte Flennen!
Nach New York noch heute durchzubrennen,
Treibt mich Armen, ach, ein herbes Muß.
Fliehend vor der Gläub’ger wüsten Horden,
Eil’ ich und zum Millionär geworden,
Kehr’ ich wieder an den Pankefluß.[4]

Antonie:
Nimmer schau ich dich am Strand der Panke,
Müßig hängt dein Frack fortan im Schranke,
Des Cylinders stolze Form verdirbt;
Du wirst hingehn, wo kein Deutsch ertönet,
Der Mormone frech den Anstand höhnet,
Deine Liebe bei den Wilden stirbt.

Hermann:
Alle Schulden, alle dummen Streiche
Will vergessen ich im Yankee-Reiche
Aber meine Toni nicht.
Horch, der Schaffner flucht schon dicht am Wagen,
Reiche mir die Tasche, laß das Klagen,
Hermanns Liebe stirbt noch lange nicht!

Der so zurechtgemachte und, warum soll ich es nicht frei heraussagen? verbesserte Schiller würde sicher selbst in deutsch-amerikanische Herzen dringen.

Darum auf ihr Alle, die ihr in den Vereinigten Staaten Sonne und Wonne, Schmerzen und Herzen, Liebe und Triebe, Diebe und Hiebe im Schweiße eures Angesichts zusammenreimt! Werft euch auf die deutschen Klassiker, bearbeitet sie, macht sie nutzbar für das heutige Geschlecht! Ich selbst werde, soweit mein, die volle Kraft eines Menschenlebens beanspruchendes Werk über den „Niedergang des Denkvermögens unter besonderer Berücksichtigung der Leitartikel der Illinois Staats-Zeitung“ mir Muße gönnt, in dieser Richtung thätig sein, und zwar werde ich, um auch einmal als Lokal-Patriot zu glänzen, im Hinblick auf die Bankbrüche der letzten Monate und auf die Leistungen der Stadtverwaltung Chicago’s Schillers Jugenddrama wählen: „Die Räuber“.

Flamingo.

Anmerkungen

[1] Dr. G. A. Zimmermann war Pastor an der ev. St. Johannes-Gemeinde und Superintendent für den Deutschunterricht an den Chicagoer Schulen.
[2] Washington Hesing war Herausgeber der Illinois Staats-Zeitung.
[3] Eine Leibspeise der Berliner Confektionensen
[4] Lieblich (?) duftendes Flüßchen (?) bei Berlin

Quelle: Chicagoer Arbeiter-Zeitung, 20. Februar 1897; abgedruckt in Hartmut Keil, Hrsg. unter Mitarbeit von John B. Jentz, Deutsche Arbeiterkultur in Chicago von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg. Eine Anthologie. Ostfildern: Scripta Mercaturae Verlag, 1984, S. 398–401. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Scripta Mercaturae Verlag.

Krista O’Donnell, Renate Bridenthal und Nancy Reagin, Hrsg., The Heimat Abroad: The Boundaries of Germanness. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 2005.

Der Untergang der deutschen Sprache: Wie retten wir unsere Klassiker? (1897), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-224> [25.10.2024].