Alfred Döblin, Reise in Polen (1926)

Kurzbeschreibung

Alfred Döblin (1878–1957) schrieb ausführlich über die Gesellschaft der Jahrhundertwende und die Folgen des Ersten Weltkriegs in Deutschland, zum Beispiel in seinem berühmtesten Roman Berlin Alexanderplatz (1929). Als Jude war Döblin von den lebendigen, wenn auch oft verfolgten jüdischen Gemeinden Osteuropas fasziniert. Im Jahr 1925 reiste er in verschiedene Städte Polens und veröffentlichte im folgenden Jahr seinen Bericht Reise in Polen. Sein eher düsterer Blick auf die „Ostjuden“ in der Industriestadt Lodz vermittelt einen Eindruck davon, was es für ihn bedeutete, Deutscher und Jude zu sein.

Quelle

Ich steige über das Lodzer Pflaster, Herzlichkeit ist in mir, wie ich die Häuser, Geschäfte, Märkte betrachte: ich bin in Zakopane gewesen, habe diese Berge gesehen und wie der Winter darüber zog. Das Haus von Zakopane ist noch in meinem Rücken. Ich habe Freude und Wärme mit ihnen gemeinsam gehabt. Es ist, als wenn ich an einem Familienfest teilgenommen hätte und begegne ihnen wieder am Alltag. Ich habe in ihren Stuben gesessen, wenn ich auch jetzt, als Fremder wie immer, außen die Häuserfronten entlang streiche.

Und siehe da: die bemalten Frauengesichter, die Augen, die hellbestrumpften Beine –, die schwarzen Judenmänner, bärtig, in Kaftan und Käppchen, die bröcklig-elenden Häuser. Ich bin in Russisch-Polen, Warschau ist da. Ich feiere Wiedersehen. Ich mag sie alle gern. Ich liebe das russische Gemisch, liebe es mehr als die galizische Straße; die war mir ja zu glatt, zu westlich.

Ein Strich ist von oben nach unten durch die ganze Stadt gezogen; ich habe in keiner Stadt solchen Strich gesehen. Es ist die Petrikauer Straße. Und zwischen Putzläden, Restaurants, Ausverkäufen von Herrenkonfektion lese ich auf dieser Straße ein Schild in deutscher Sprache; eine Lodzer deutsche Zeitung. In dieser Stadt also werde ich besser geführt werden als in irgendeiner andern: ich werde selbst eine Ortszeitung lesen, Lokales, Annoncen.

Und ich sitze im Restaurant und lese. „Trinkt keine ungekochte Milch“, wird mitten im Text dick gewarnt. Oh warum nicht. Das läßt tief blicken. Geht die Ruhr um? Ich tue einen erschauernden Blick in die Kanalisation der Stadt. Wofern sie da ist. Ecce: auch der russische Schmutz hat seine Schattenseiten.

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Die Gesundheitsstatistik wendet sich an mich:

„Im Lodzer Statistischen Jahrbuch für 1923 finden wir bemerkenswerte Ziffern über die Tätigkeit der städtischen Entkrätzunganstalt in den letzten Jahren. Die Zahl der Personen, die die Hilfe dieser Anstalt in Anspruch nehmen mußten, betrug im Jahre 1918: 12.805, 1919: 11.337, 1920: 8.283, 1921: 5.203, 1922: 4.337, 1923: 1.409. Wie aus dieser Zusammenstellung hervorgeht, ist die Krätze, die während des Krieges in Lodz sehr verbreitet war, seit 1918 immer mehr im Schwinden begriffen. Im allgemeinen ist festzustellen, daß die Krätze unter der jüdischen Bevölkerung verbreiteter ist als unter der christlichen. Daraus geht hervor, daß die hygienischen Bedingungen bei der jüdischen Bevölkerung viel zu wünschen übrig lassen. Waren doch im Jahre 1918 von den an Krätze erkrankten Personen 57 Prozent Juden, während von den in der städtischen Entkrätzungsanstalt behandelten Personen im Jahre 1919: 51, 1920: 62, 1921: 67, 1922: 46 und 1923: 82 Prozent der jüdischen Bevölkerung angehörten.“

Von der Krätze komme ich ungezwungen zu „Kunst und Bildung“. Das Deutsche Theater spielt zwei Stücke, „Das Postamt“ und „In Ewigkeit Amen“. „Wildgans nach Tagore – der Unterschied war groß, lieferte aber – ich möchte fast sagen – ein Schulbeispiel realistischer Dichtung im Gegensatz zu einer geistvollen Gedankenreihe, auf die Bühne verpflanzte Lyrik.“ Unnachahmlich, möchte ich fast sagen. Der Unterschied des Lodzer Deutsch nach dem gewöhnlichen ist groß, liefert ein Schulbeispiel für die Schulen und das Deutsch, das hier gelehrt wird. Sollte es nicht besser sein, einfach polnisch zu sprechen, im Gegensatz zu in die Zeitung geschmiertem Kauderwelsch, Kauderdeutsch. Übrigens ist „der Inhalt von Wildgans‘ Stück ganz kurz, beschränkt sich auf fesselnde Dialoge“, was in beiderseitigem Interesse erfreulich ist. Von einem französischen Stück im Polnischen Theater finde ich die Meldung, „daß die Aufführung in allen Stücken gelungen war; man kann ganz ruhig sagen, sie hätte nicht besser sein können“. Ich meine: man kann es ganz ruhig sagen; warum, mein Sohn, sollen Sie so etwas nicht ganz ruhig sagen. Es wird Ihnen wohltun, es ist keine Schande. Etwas unangenehm ist es ja, daß die Aufführung nicht hätte besser sein können. Aber was läßt sich dazu tun. Und wer liegt da im Inseratenteil auf der Erde? Ein „Opfer der Harnsäure“! Habe ich es nicht gesagt! Habe ich es nicht gleich geahnt. Nur die Harnsäure kann so etwas machen. Ich bin schon seit Jahren Gegner der Harnsäure. Ich will mich bei Gelegenheit an den „Erfinder in Warschau“ wenden. Von diesem Krebsmittel Gedurol habe ich schon vorher gelesen; auch von den 200.000 Slotys an geistige Arbeiter. Was ist das nur. Ich kann schon nicht mehr Zeitung lesen.

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Einen Deutschen bitte ich um Aufklärung. Lodz, die Stadt, hat eine halbe Million Einwohner. Oh, das ist bedauerlich. Es ist zuviel. Eine polnische Stadt ist groß durch Buntheit. Wird sie größer, organisiert sie sich und ist schon kleiner. Deutsche sollen die Stadt gebaut haben. Man sprach auch früher viel Deutsch; jetzt hat das Polnische die Oberhand gewonnen. Deutsche sind Industrielle, Fabrikbesitzer. Es gibt eigene deutsche Schulen, Gymnasien, an dreißig offizielle Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache. Die Schülerzahl fällt aber, denn jedes Jahr wird eine besondere Erklärung verlangt von den Eltern, daß sie die deutsche Unterrichtssprache wünschen. Ihre Konfession ist meist evangelisch. Einen deutschen Schriftstellerverein gibt es in Kattowitz. Man hat ein Theater. Ich – weiß schon. Und die Zeitungen berichten regelmäßig über die Vorstellungen; ich weiß, ich weiß. Die Schauspieler sind großenteils österreichisch; reichsdeutsche sind schwer zu haben.

Wie leben nun Deutsche, die 100.000, mit den Polen? Oh, gut. Je reicher sie sind, um so besser. Warum das? Die Reichen assimilieren am raschesten. Der Patriotismus wächst also mit dem Geldschwund? Oder wächst die Intelligenz mit dem Geldbeutel? Nein. Ein Armer hat einfach Not; die macht kämpferisch, verhindert Kompromisse. Der Reiche aber will etwas für sein Geld und nimmt auch fremden Glanz: Geld contra Nationalität. Unter sich sitzen die Deutschen, wie es sich gehört, in Vereinen zusammen. An dreißig Stück gibt es. Sie bilden zwei Parteien: eine deutsch-bürgerliche, die ziemlich schwach und wenig rege ist, und eine soziale mit völkischem Einschlag, eine deutsche Arbeiterpartei. Ich frage ihn, als ich das höre, heimtückisch, wie es denn bei Wahlen stände: wen wählen die deutschen Industriellen zum Beispiel? Und bekomme die Antwort, die ich erwartet habe: die Industriellen wählen nicht deutsch sondern – einen Industriellen, der übrigens nicht gewählt wurde. Und die Arbeiter? Ja, ihre Partei hat eine Arbeitsgemeinschaft mit der P. P. S., der polnischen sozialdemokratischen Partei.

Polen sind zu 150 – 200.000 da. Die meisten sind Arbeiter. Sie wählen viel christlich–sozial und christlich–demokratisch. Die Katholiken haben einen Bischof hier; die Stadt hat fünf katholische Kirchen, zwei evangelische, eine russische.

Neben diesen Polen und Deutschen, meint der Herr, beherbergt die Stadt noch Juden, wie ich wohl schon bemerkt habe. Ja, ich habe einige am Bahnhof bemerkt. Und wenn es keine Juden in Polen gäbe, die mit mir deutsch sprechen und auf Bahnhöfen sagen, wo mein Zug steht und abfährt, wäre ich nicht über Warschau hinausgekommen. Von diesen Juden gibt es ganze 150 – 200.000 in Lodz, eine schöne runde Zahl. Sie sind wirtschaftlich stark, bringen Industrielle, Kaufleute und Handwerker hervor. Ich wette, etliche Bataillone von ihnen hungern. Ich will ihn aber nicht weiter nach den Juden fragen, denn er ist ein Preuße, und ich kenne seine Farben.

Ah, meine lieben Deutschen, meine lieben Juden, hier treffe ich euch nun nebeneinander. Welch sonderbare Situation! Ihr seid nun beide Fremdvölker! Gleichberechtigt, in der fehlenden Gleichberechtigung. Sieh da, kuriose Suppe. Ihr ähnelt euch sonst nicht sehr; ob ihr jetzt etwas aneinander findet; – es braucht nicht gleich die Taufe zu sein, seitens der Juden, oder Tifillinlegen seitens der Deutschen. Da gehe ich über den Damm in der Petrikauer Straße. Und gerad – mein Dämon führt mich – stoße ich auf eine Buchhandlung, eine deutsche. Das Herz geht mir auf, meine Ohren richten sich hoch: ich bin an der Krippe. Zwei Schaufenster hat der Buchladen: das polnische mit seinen Hieroglyphen lasse ich. Dann zwei Schritte links „Die Sünde wider das Blut“. Das kann ich gut lesen, ich brauche es nicht übersetzen. Ah, die Heimat habe ich wieder, sei gegrüßt viel tausendmal. Muttersprache, Mutterlaut, wie so wonnesam, so traut. „Die Sünde wider das Blut“; eine ganze Reihe. Lauter deutsche Worte, kerndeutsche Worte! Das Konversationslexikon von Meyer: ein Werk über das Klöppeln und Kunststricken („die Frauenvereine veranstalten ein großes Kirmesfest Sonnabend mit Überraschungen für groß und klein“). Die Evangelien; so viele Evangelien. Ja, die Deutschen sind hier evangelisch. Es wird von Luther sein. Warum aber so viele Evangelien; ist das eine neue Übersetzung. Warum propagieren sie hier das Buch von dem hingerichteten Mann, bei dessen Erinnerung ich die Augen schließen muß. Sind so auffallend dicke Bücher. So dick sind doch die vier alten Schriften nicht. Sind es welche mit Kommentaren? Und da sehe ich – das Hakenkreuz auf dem Umschlag, und der Name eines deutsch–völkischen Agitators steht darüber. Seine Evangelien! Seine! Ja, das ist gut, nun bin ich im Bilde, nun ist Ordnung im Schaufenster. Er wird nachgewiesen haben, daß Wotan der wahre Gott ist, oder Christus stammt aus Mecklenburg. Ja, dadurch wird das Buch so dick geworden sein. Er hätte es dünner machen können; man glaubt es schon so. Teure Heimat, sei gegrüßt vieltausendmal. Wie ist es mit der interessanten Situation der Deutschen und Juden. Sie werden fünf Schritte zusammen gehen. Aber ich glaube, es ist nichts mit dem Tifillinlegen der Deutschen.

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Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte Lodz keine 200 Einwohner, und zu Ende des Jahrhunderts wohnten hier 89 Männer, 90 Frauen und 11 Juden; ich kann nicht feststellen, ob Männer oder Frauen. Sklaven hatten schon im alten Rom kein Geschlecht. Häuser gab es 44, auch 44 Scheunen und 18 unbebaute Plätze zusammen. Mit den Menschen und Juden lebten noch 18 Pferde, 97 Ochsen, 58 Kühe und 63 Stück Schwarzvieh.

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„Den Juden aber ist es nicht gestattet, in den neuen Industriekolonien zu wohnen. Auch soll es in Zukunft keinem Juden gestattet sein, in der Stadt eine Schenke zu halten oder sich mit der Fabrikation von Getränken zu befassen“. Sie sind keine Ausländer, keine Einheimischen. Was sind sie dann. Überall genießt dieses merkwürdige Volk solche Bevorzugung. In der Tat ein auserwähltes Volk. Ihre Nachbarn umschreiben das sinnig-innig mit dem Namen „Wanzen“.

Ein Färbermeister August Sänger, Nationalpole, wie der Name zeigt, regulierte die Altstadt und legte die erste Färberei an. Sachsen und Deutschböhmen brachten mit sich die Baumwollindustrie. Ein Louis Geyer aus Zittau baute die erste große Baumwollspinnerei. Die evangelische Kirche und das Rathaus kamen; Lodz hatte 1829 schon an 4.000 Menschen und 400 Häuser, nach 10 Jahren waren 20.000 Menschen da, und es war die zweitgrößte Stadt im Königreich Polen.

Bald vermehrte sich diese Zahl um Karl Scheibler. Er brachte 180.000 Rubel mit und baute seine kolossale Fabrik. Der Westen ritt die große Attacke. Nun hat 1864 Lodz schon 38.000 Köpfe, 7.000 Orthodoxe, an 12.000 Katholiken, 13.000 Lutheraner, 6.000 Juden. „Wir von Gottes Gnaden Alexander der Zweite, Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen, König von Polen, Großherzog von Finnland!“ beschlossen und befahlen nunmehr den Bau einer Eisenbahnlinie zur Verbindung von Lodz mit der Warschau-Wiener Bahn und übergaben den Bahnbau dem Bankier Johann Bloch, Eduard Frankenstein, Josef Zablkowski, August Raphan, Karl Scheibler, Matthias Rosen, Moritz Mamrott. Es scheinen hauptsächlich Deutsche und Wanzen gewesen zu sein. Als die Bahn eröffnet wurde, begrüßte eine Lodzer Zeitung den heißersehnten Tag: „Noch nie hatte unsere Stadt ein so festliches Aussehen. Beim Aussteigen aus dem Wagen wurde Seine Erlaucht der Statthalter Graf Berg von einer Bürgerdeputation mit Brot und Salz empfangen.“ Das ist russisch, was da Deutsche in Polen tun; es kommt aber bei dem Gedränge auf eine Nation nicht an. Am Abend war die ganze Stadt illuminiert; sehr sorgfältig gemachte Transparente mit dem Namenszeichen Seiner Majestät des Kaisers befanden sich an vielen Stellen. Vorher besichtigte der Statthalter noch die in Lodz stehenden Dragoner, welche in Sibirien ausgehoben waren; dies waren die einzigen Inländer. Beim Diner, das der Statthalter im Ort nahm, geruhte er zu verkünden: „Die Stadt Lodz verdankt ihren Wohlstand der deutschen Industrie, dem Unternehmungsgeist der Deutschen und dem deutschen Fleiß. Ich glaube diesen Bewohnern einen guten Rat zu geben, wenn ich sie zur treuen Nachahmung der Tugenden ihrer Väter und zum beständigen Festhalten am deutschen Charakter ermuntere. Einer jeden Nationalität im Königreich Polen das zu geben, was ihr gehört, ist der Wille unseres allergnädigsten Monarchen.“

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Die Deutschen aber bekamen an dem Festtage zu Lodz die Genehmigung zur Eröffnung deutscher Schulen mit deutschem Unterricht: „Erkennt, meine Herren, die tiefe Bedeutung dieser weisen Bestimmung! Stärket eure industrielle Tätigkeit zum Besten des großen Staates, in welchem ihr eine zweite Heimat gefunden habt.“

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Totensonntag. Zehnter Jahrestag der furchtbaren Schlacht bei Lodz. Ich fahre eine Stunde lang auf das Land hinaus, vom Fabrikbahnhof. Der Herr, den ich besuchen will, ist nicht an der Bahn; dann begegnen wir uns am Schlagbaum. Weites Feld, Äcker aufgeworfen, Boden lehmig, tonig. An ein Dorf kommen wir: eine deutsche Kolonie. Saubere Häuschen stehen in einer Reihe; die evangelische Kirche. Wir spazieren durch den Park bei seinem Haus. Er zeigt mir Überbleibsel der großen Schlacht. Erdaufwerfungen für den Stand der Kanonen. Hier standen Deutsche. Die Erdaufwerfungen ziehen sich im weiten Halbkreis hin; buschig bewachsen sind sie. Wir nähern uns einem Teich; Munition und Waffen sollen drin liegen. War ein schreckliches Bombardement; der Turm der evangelischen Kirche ging hin. Am Teich stoßen wir auf bandförmige, breite Vertiefungen; aus denen steigen junge Bäumchen hervor. Das sind die Schützengräben. Der Wald überzieht sie schon, auch ohne daß Menschen sie zudecken.

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In dieser Straße überwiegen die Juden; und je mehr ich nach Norden komme, um so mehr werden es: mit hohen Pelzmützen und schwarzen Pelzen, schwarzen Kappen, langen, dichten Bärten, die Hände in den Taschen, Schaftstiefel, krause Stirn. Wie in Warschau kommen sie aus tiefen Höfen hervor in Scharen. Enorm belebte Seitenstraßen. Auf Stöckelschuhen ziehen junge Damen an, prall den Mantel über Schulter und Gesäß. Ein Alter mit verquollenem, mißgünstigem Gesicht grollt gebückt vorbei. Rote, gelbe, blaue Tuchballen, Leinenpakete, Kattun werden auf Wagen gefahren, einzeln getragen. Der „Neue Ring“, ein ärmlicher, runder, weiter Platz; links das alte Rathaus, rechts Gerüste, ein buntes Gebäude; das neue Rathaus. Die Altstadt, enge Straßen, bröcklige kleine Häuser. Ich gehe in ein entsetzliches Haus, über den Hof, durch ein Tor, bin in einer anderen Straße. Es wimmelt von Kindern; der Boden senkt sich wellig. Viele Gänseschlächtereien. Eine kleine Synagoge ist auf. Im Vorraum stehen sie im Kreis zusammen, beten; weiß nicht, warum sie nicht hineingehen. Ich höre eine Frau weinen und schreien; was hat sie bei den Männern zu suchen. Sie sieht jämmerlich aus, beschwört alle; man muß sie hineinlassen. Ihre drei Kinder sind schwer krank; der Arzt macht ihr keine Hoffnung. Sie ist drin eingedrungen, geht zu den Vorstehern, man soll – sagt mein Begleiter – Thillim, Davidsgesänge, Gebete für ihre Kinder lesen.

Draußen schlage ich mich mühsam durch Nebel und Schneeregen vorwärts. Die Proletariergegend. Ein Plakat klebt an einem Haus: „Polen, kauft nicht bei Juden! Polnische Kaufleute, ihr könnt und dürft nicht teurer sein als die Juden. Das ist nicht bloß euer Interesse, sondern nationale Pflicht.“ Ein Komitee „Entwicklung“ hat unterschrieben. „Stützt den polnischen Handel und die Industrie. Dann werdet ihr wahrhaft Kinder des Vaterlandes.“

Die junge Frau, die zu mir spricht, unterrichtet in einer polnischen Schule polnische und jüdische Kinder zusammen. Sie plaudert: „Im Schreiben, im Schriftlichen und Handwerklichen sind die kleinen Polen über, in der Sprache und im Auffassen die kleinen Juden.“ Die Fragen der kleinen Juden sind aber schrecklich; man ist manchmal ganz entsetzt. Neulich kam die Rede auf Christus; fragt da ganz ruhig ein jüdisches Kind: „Hat der überhaupt gelebt.“ Und die Polenkinder reißen Mund und Augen auf. Sie hat im Unterricht zu erzählen von einem heroischen patriotischen Polen, der sich im Türkenkrieg die Hand verbrennen ließ, und demonstriert: der hatte Mut. Ein jüdisches Kind sitzt überlegend da und bemerkt dann: „Ja. Aber die Türken hatten auch Mut.“ Sie analysieren viel; wägen genau, gerecht, es ist nicht möglich, ihnen Urteile zu suggerieren. Die Kinder erfahren zu Hause allerlei; wenn es im Unterricht vorgetragen wird, äußern sie geringschätzig: „Das haben wir ja schon alles zu Hause gehört.“ Sie sind höchst ungeniert im Urteil. Ein anderer greift vergnügt ein: Als er Lehrer in einer Schule war und sich für einen russischen Autor enthusiasmierte, sah er, wie jüdische Schüler lächelten. Er verstand vollkommen; es war: „Was ist er für ein Narr.“

Die Juden haben zu Hause Schiller in guten Ausgaben: den lieben sie; da ist Pathos, Ethik, Wille.

Die Polen sind ihnen weit über im Gefühlsmäßigen, in der Weiche.

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Noch einmal werde ich in die dunklen Gassen gerufen. Ein Rebbe wohnt hier, der Strickower. Den möchte ich sprechen.

Warum spreche ich keinen katholischen Geistlichen, keinen Mönch? Ich möchte es so gern. Ich kann nicht Polnisch, um mich selbst zu einem durchzufragen; die Leute im Land aber, die ich spreche und die wissen, was ich will, nehmen sich meiner nicht an. Sage ich: mich interessiert das Kulturelle, so meinen sie Gemäldegalerien. Ich beklage mich. Mein Wille ist gut. Ein Hundsfott, der mehr gibt, als er hat.

Der große Rebbe Gura Kalwarja hat mich nicht angenommen; dieser setzt sich mit mir an den Tisch. In einem Mietshaus wohnt er, sein Beßmedresch ist klein. Ein paar Männer beten und studieren drin. Dann steht der Rebbe im Rundhut da, eine große Gestalt mit mächtigem grauen Bart. Sie sagen mir: er ist Rebb Sadie, ein Enkel des großen Gichliner. Man nimmt ihm den nassen Schirm und den Seidenmantel ab. Er sitzt oben am Tisch in der Wohnstube. Er muß hier wohnen, hat man mir erzählt; sein Haus in Strichow, einem nahen Dorf, hat er im Krieg verlassen müssen; jetzt ist es besetzt, er sucht wieder hinzukommen. Um den Tisch setzen sich allmählich noch die Männer, die aus dem Beßmedresch hereinkommen. Wenn ich Fragen stelle und der Rebbe antwortet, fallen sie ein, geben mir Erläuterungen; der Rebbe sitzt dann still, in sich versunken, hört manchmal zu, nicht. Ich habe gehört, er kämpft um die Heilighaltung des Sabbat und führt eine auch im Ausland verbreitete Organisation, die besonders auf Industrielle und Kaufleute wirken will. Ich frage ihn nach dem Sabbat.

Er: „Der Sabbat und seine Heilighaltung sind ein Hauptprinzip des religiösen Judentums. Der Sabbat ist ein Seil, das Gott den Juden hingeworfen hat, damit sie sich daran festhalten.“ Im Lauf des Krieges sind die religiösen und ethischen Gefühle der Ostjuden geschwächt worden, die Liebe zu materiellen Dingen nahm überhand. Aber später hat sich das jüdische Leben stabilisiert. Und er, der Rebbe, hat auf sich genommen die Aufgabe, das religiöse und moralische Leben der Juden, die Heiligung des Sabbats zu propagieren. Er hat große Schwierigkeiten angetroffen bei den Unternehmern. Die wollten nicht aufhören, die jüdischen Arbeiter, etwa die Packer bei der Textilindustrie, auch am Sabbat zu beschäftigen. 1922 hat er gegründet die „Organisation zu hüten und wahren den heiligen Sabbat“. Sie wirkt praktisch, schickt Delegierte auf die Straßen.

Es ist mir nicht leicht, Fragen zu stellen. Aber wie der Rebbe, die gewaltige Erscheinung im grauen Bart, mir ruhig und gütig seine Antworten gibt, in leicht verständlichem Jiddisch, werde ich mutiger. Ich hätte viele Juden gesehen, sage ich, Synagogen, Betstuben und Friedhöfe besucht und vieles gelernt. Aber eins sei mir unverständlich geblieben: wie die frommen Juden sich spalten, nach ihren Rebbes. Warum hängen sie an den Rebbes? Es gibt, habe ich im Westen gehört, doch nur ein Judentum, einen Glauben. Sie lächeln freundlich am Tisch; einer nickt bekräftigend: „Eine gute Frage.“ Der Rebbe ruht in sich, dann sieht er mich mit seinen sanften Augen an:

„Alle haben dasselbe Ziel, das zu Gott führt. Es gibt ein großes Land. Ein König herrscht über das Land. Der König kann aber das Land nicht allein regieren; er braucht Soldaten und Generale. Das sind die Rebbes. Die Rebbes, worin unterscheiden sie sich. Sie halten sich alle an ein und dasselbe. Ein Rebbe kann die Thora verstehen hart oder weich. Man kann die Thora verstehen so oder so. Es gibt eine Thora von „Middas haddim“: ich befehle, bis zu einer Thora: „Middas horachim“: ich habe Mitleid. Das ist die Interpretation. Und wer die Thora hart versteht, hat seine Anhänger; und wer sie weich versteht, hat seine Anhänger. Und das macht die Zahl der Anhänger. Die Rebbes sind Fromme und Söhne von Frommen. Jeder wählt sich den Rebbe, zu dem er Sympathie hat.“

Am Tisch sagen sie: am Grab eines Rebbes geben die Anhänger dem Sohn oder Enkel, der sich als fähig und würdig erwiesen hat, die Hand, wünschen ihm Glück. Sie sprechen, während die schönen, milden Worte in mir klingen, manchmal heftig durcheinander. Sie sitzen und stehen herum, auch seine beiden Söhne, der eine mit vollem flaumigen Bart, der andere weicher. Sie lächeln oft. Auch sein Bruder ist da, der sich meiner annimmt und sich in meine Gedanken zu versetzen sucht. „Man muß viel lernen,“ sagt der, „ich habe es lange nicht so gekonnt wie der Bruder, ich habe nicht getaugt dazu.“ Er tuschelt ehrfürchtig von ihm: „Und dann das Kinderunterrichten. Wie er sich keinen Schlaf gegönnt hat. Und das hier sind ja keine Gelehrten. Es sind alles Kaufleute und einfache Männer. Sie kommen nur so.“

Der Rebbe an der Schmalseite des Tisches mit seinem gewaltigen Bart sitzt zusammengesunken, hat den Kopf auf die Brust gesenkt. Er hat tiefe, sehr ruhige Augen, die nicht aus sich herausblicken, in ihm liegen. Es sind Fenster, die in ihn hineinsehen. Etwas Trauriges, Stilles ist um ihn; sein Gesicht unter dem Bart scheint mir schmal. Bescheiden, weich ist er. Er ist ein sehr armer Mann. Welch Gegensatz zu dem reichen Autokraten, dem Gerer Rebbe. Und bald, wie ich so zwischen ihnen sitze, merke ich, daß dieser fast ein Übermaß von Weiche und Sanftheit hat; eine kindliche Stille liegt über ihm. Wenn ich den Mund zu einer neuen Frage öffne, blickt er über den Tisch, ohne sich aufzurichten: „Still, eine Frage.“

Wie steht der Rebbe, frage ich, zu Orthodoxie und Zionismus. „Der orthodoxe Jude entfernt sich nicht vom Erez Israel. Zion gehört mit der Thora zusammen. Ohne Thora ist der Zionismus keine jüdische Bewegung.“ Er spricht mit Liebe von den zionistischen Juden: Er ist kein Feind des Zionismus. Aber vor Gott ist derjenige ein Jude, der Volk, Land und Thora zusammenhält. Ohne das ist kein Zion. Und das bedenkt das jüdische Volk.

Immer kehren in seinen Sätzen wieder die Worte Talmud und Thora. Wie ich von den Westjuden spreche, weist er auf Polen: viele Westjuden haben sich von Talmud und Thora getrennt, ihre Kinder haben darum keine jüdische Erziehung. Erst muß ein Kind Talmud und Thora lernen, dann die weltliche Bildung. Bei einem guten Gehirn lernt man die weltliche Bildung schon so.

Und wie stehen die alten heiligen Schriften zur modernen Wissenschaft; kann man überhaupt beide vereinen. Der Rebbe sitzt da und hebt die Schultern. Er beschäftigt sich mit Astronomie. Und er gewinnt die Sätze:

„Die Thora ist die Quelle, die alles befruchtet. Die Wissenschaft ist nur ein einzelnes Wasser daraus. Sie ist nicht zu halten ohne die Quelle, sie vertrocknet ohne sie. Es kommen Naturerscheinungen vor, die über höchste Macht, die feinste Berechnung sind. Es ist eine göttliche Aufsicht da, die alles zuschanden machen kann.“

Wundervolles Gespräch, vollkommenes Labsal.

Ich weiche einem zionistischen Agitator aus, mit dem ich schon eine Unterredung verabredet habe. Mich besucht, wie ich zum letzten Aufbruch rüste, ein junger jiddischer Literat. Noch einmal sitzt einer von ihnen bei mir in einem polnischen Hotel, im warmen Zimmer, und ich durchdenke mit ihm ihre Sachen. „Vor dem Krieg“, spricht der junge Mensch auf dem Sofa, „war die Intelligenz unseres Volkes zum großen Teil assimiliert. Dann haben sie sich zurückgewandt: Die Bürgerlichen wurden Zionisten; andere Poale Zion. Die Sozialisten wichen der jüdischen Frage aus.“ Er erzählt, als ich vom Strickower Rebbe sprechen, von einem Rebbe in einem Ort bei Warschau: der hungert und weint seit vierzig Jahren, friert, betet für die ganze Welt, für ihre Sünden. Ein anderer singt seit vielen Jahren eigene Lieder, ißt gern und viel, der Optimist: „Das Leben ist wundervoll.“

Und nun, wie steht es mit euch von heute? Ich habe den Namen Bialik gehört. „Ach, eine Parteisache. Er schreibt eben hebräisch, das genügt. Er ist mittelmäßig, schwach, spießbürgerlich. Es gibt Judenkünstler und jüdische Künstler. Das muß man unterscheiden. Der Unterschied gilt für alle Nationen. Polen oder Deutsche oder Juden, die ein Stück polnisches, deutsches, jüdisches Leben malen, sind darum noch nicht volksmäßige Maler. Wir haben viele Judenkünstler. Sie malen Ghettobilder, Motive aus der Geschichte. Es ist nichts damit. Man muß Talent haben und sich dem Talent überantworten; das ist alles.“ Skeptisch, aber ohne Schärfe spricht der frische Mann von Palästina, Töne aus meinem gestrigen Gespräch klingen an: „Vielleicht gelingt es ihnen, da einen Staat zu gründen. Vielleicht; für wie viele. Und was werden sie erreicht haben. Sie werden Soldaten, Staatsmänner und Industriearbeiter stellen; die wird die Welt dann mehr haben. Aber Spinoza, Bergson werden sie nicht züchten.

Die Zukunft der Welt liegt nicht da. Der Zionismus ist eine körperliche Bewegung. Die Welt muß aufgemenscht werden. Es ist nicht nur bei den Juden schrecklich. Auch den Deutschen, Polen, Franzosen, Amerikanern, Engländern geht es schlecht. Was ist mit ihrer Kultur? Sie imponiert uns nicht. Wir haben im Krieg viel gesehen. Alles muß aufgemenscht werden. Langsam. So wird auch die jüdische große Schwierigkeit behoben werden. Ohne Zerstörung der Substanz.“

Wie tut es wohl, solche Stimmen zu hören, ohne selbst die Lippen zu bewegen. Wie deutlich wird, daß man nicht allein auf der Welt ist. Kein aussprechbares Gefühl. Gefühl aller Gefühle.

Quelle: Alfred Döblin, Reise in Polen. Berlin: S. Fischer, 1926, S. 319–23, 325–31, 335, 338–40, 348–54. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Jason Crouthamel, Michael Geheran, Tim Grady und Julia Barbara Köhne, Hrsg., Beyond Inclusion and Exclusion: Jewish Experiences of the First World War in Central Europe. New York: Berghahn Books, 2018.

Alfred Döblin, Reise in Polen (1926), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-238> [25.10.2024].