Ignatz Bubis über seine Befreiung 1945 (Rückblick, 1995)

Kurzbeschreibung

Der in Breslau geborene Ignatz Bubis (1927–1999) zog als Kind mit seiner Familie 1935 nach dem Machtantritt der Nazis nach Polen. Nach dem Krieg ließ er sich in Westdeutschland nieder. Er schloss sich dem Zentralrat der Juden an und war 1998 der Hauptgegner des deutschen Schriftstellers Martin Walser in der Kontroverse über Walsers Behauptungen, der Holocaust werde in der deutschen Politik und Kultur als „Moralkeule“ instrumentalisiert. Hier erinnert sich Bubis im Gespräch mit dem Journalisten Hans Sarkowicz daran, wie er das Ende des Zweiten Weltkriegs—und das scheinbare Verschwinden von Nazis aus der deutschen Gesellschaft erlebt hat.

Quelle

Hans Sarkowicz: Herr Bubis, 1945 wurden Sie von der sowjetischen Armee in Tschenstochau befreit. Wie war Ihr Weg von Breslau, wo Sie 1927 geboren wurden, nach Tschenstochau in das Arbeitslager einer Munitionsfabrik?

Ignatz Bubis: 1935 sind meine Eltern und ich nach Polen gegangen in einen Ort namens Deblin, wo die Großeltern mütterlicherseits lebten. Sie gingen erst, nachdem mein Großvater für meinen Vater eine Stelle besorgt hatte, in der er in seinem Beruf in einer Schiffahrtsgesellschaft arbeiten konnte. Als wir dort hingekommen sind, war noch mein Bruder Chil mit mir, der im Mai 1935 an Blinddarmvereiterung gestorben ist. Mein ältester Bruder Jakob war mit meiner Schwester schon 1933 aus Deutschland emigriert. Ich ging dann noch vier Jahre zur Schule in Polen. Und dann kam der Krieg. An diesem Tag, am 1. September 1939, sollte ich in ein polnisches Gymnasium eingeschult werden, aber da fielen bereits die Bomben, und ich ging dann nicht mehr zur Schule, bis Polen besetzt war. Ich konnte dann einige wenige Wochen zur Schule gehen, bis Juden überhaupt keine Schule mehr besuchen durften, so daß für mich Anfang 1940 die Ausbildung zu Ende war. Meine Mutter starb Ende 1940. Und im Februar 1941 wurde in Deblin ein Ghetto gebildet. Mein ältester Bruder und meine Schwester waren gleich bei Kriegsausbruch in den Teil Polens gegangen, der später von der Sowjetunion besetzt wurde. Ich war dann nur noch mit meinem Vater und später noch mit meinem Großvater väterlicherseits zusammen, der 1941 zu uns kam. In dem Ghetto Deblin, wo ich gelegentlich als Postbote gearbeitet habe, war ich bis Mitte September 1942. Dann wurde dieses Ghetto liquidiert, und die meisten Ghettobewohner wurden deportiert. Ich selbst kam in ein Zwangsarbeitslager, aber immer noch im selben Ort, also in Deblin, und habe auf dem Fliegerhorst beim Betonbau und beim Gleisbau gearbeitet, bis dann Ende Juni 1942 auch dieses Lager deportiert wurde; da kam ich in die Munitionsfabrik in Tschenstochau, wo wir auch in einem Lager wohnten, das heißt, wir wohnten in einem Lager und die Herstellung der Munition spielte sich auf demselben Gelände ab.

S.: Wie lief denn gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dieses Leben in dem Lager und in der Munitionsfabrik ab?

B.: Zunächst einmal: Wir hatten eine Bewachung von Ukrainern, die der SS angehörten, Freiwillige. Außerdem gab es einen Lagerkommandanten, der außerhalb des Lagers wohnte, und das war ein Deutscher namens Bartenschläger. Und dann gab es auch noch einen jüdischen Lagerkommandanten. Der hieß Jolles. Das Arbeitslager bzw. die Munitionsfabrik, in der ich arbeitete, war das „Warta Werk“. Dort habe ich von morgens bis abends an einer sogenannten Bördelmaschine gearbeitet. Mit dieser Maschine wurden Kugeln für Karabiner hergestellt. Abgesehen von der stupiden Arbeit, mangelte es vor allem an jeglichem Schutz, denn wir kamen mit Munitionspulver in Berührung, und sehr viele erkrankten an Gelbsucht. Ich bin überraschenderweise nie erkrankt. Man wartete, man wartete, ob es irgendwann ein­mal gelingen würde, von der Roten Armee überrollt zu werden, denn wir mußten damit rechnen, weiter deportiert zu werden, in welche Richtung auch immer. Und es war auch tatsächlich so. Zu Beginn des Januar 1945 begannen die Deportationen in kleinen Gruppen auch aus diesem Lager. Um den 14.1. herum ging noch einmal eine größere Gruppe weg, und wir sollten am 16. ebenfalls deportiert werden. Diese Nachricht war zwar lediglich, wie wir sie nannten, eine „Latrinennachricht“, aber solche Gerüchte haben in der Regel immer gestimmt. Die ganze Nacht vom 15. zum 16. konnten wir Geschützdonner hören, und morgens, als wir normalerweise um 6.00 Uhr zum Appell hätten antreten sollen, habe ich mich und noch einige andere einfach unter die Strohsäcke gelegt. Als zum Appell gerufen wurde, sind wir nicht mehr rausgegangen. Ich weiß gar nicht, ob überhaupt noch welche rausgegangen sind. Das weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur, daß dann eine Stille herrschte. Es herrschte eine Stille im Lager, die ungewöhnlich war. Und da sind wir unter den Strohsäcken, wo wir leicht zu finden gewesen wären, hervorgekrochen und haben uns in das Lager begeben, und es war keiner da. Die Wachtürme, die waren unbesetzt. Wir sind dann aus dem Lager rausgerannt und orientierten uns nur in Richtung Osten. Wir wußten nicht einmal, wo wir hingehen, aber wir gingen eben Richtung Osten, weil wir wußten, von dort müßten die Russen kommen. Und wir sind kaum aus der Stadt rausgewesen, da kamen uns schon die ersten sowjetischen Panzer entgegen, und wir sind uns in die Arme gefallen in dem Bewußtsein, daß das zu Ende war. Die Freude war sehr groß, aber plötzlich wurde mir meine Einsamkeit bewußt. In dem Lager war ich mit einigen hundert Leuten zusammen, von denen ich mindestens die Hälfte kannte. Und mittags bekamen wir eine Suppe, zwar nur warmes Wasser mit ein bißchen Gemüse drin, aber das kam mittags. Plötzlich war auch das nicht mehr da. Zu sechst standen wir jetzt an der Straße und fragten uns: Wie wird es weitergehen?

Die Panzer waren vorbeigezogen. Um uns hatte sich keiner gekümmert. Es war ja die Front. Wir liefen dann erst mal weiter nach Osten, folgten den Straßenschildern von Tschenstochau in Richtung Radom, das 100 Kilometer östlich von Tschenstochau liegt. Denn wenn ich von Tschenstochau nach Deblin wollte, mußte ich über Radom. Wir übernachteten dann bei Bauern, und ich weiß heute nicht wie, aber am nächsten Tag hatten wir Fahrräder. Kaufen konnten wir sie nicht, denn wir hatten nichts, wir hatten auch nichts zum Tauschen. Ob wir sie schlicht und einfach entwendet hatten oder ob sie uns von den Bauern, bei denen wir übernachtet hatten, zur Verfügung gestellt worden waren, kann ich nicht sagen. Wir sind jedenfalls auf diesen Fahrrädern weitergeradelt Richtung Radom, und dann hörten wir, daß es eine provisorische Regierung in Lublin gab. So sind wir nach Lublin gefahren. Und es war tatsächlich so, daß in diesem Lublin sich Juden sammelten, die in irgendwelchen Lagern oder bei den Partisanen überlebt hatten. Alles lief Richtung Lublin. Dort gab es auch ein Komitee, das Suppen und Verpflegung an die Überlebenden verteilte. Man konnte sich dort auch registrieren lassen. Wir bekamen, immer noch zu sechst, ein Zimmer in irgendeiner Wohnung, wo wir alle zusammen wohnten. Aber wir lebten und waren frei. Ich habe dort zum erstenmal versucht, zu erfahren, ob meine Schwester, mein Bruder irgendwo registriert sind, denn wenn sie überlebt hätten, hätten sie schon längst befreit sein müssen, denn diese Gebiete waren schon im Winter 1944 von den Sowjets befreit worden.

S.: Haben Sie denn Veränderungen an den Menschen gespürt? Hatten Sie keine Angst vor der polnischen Bevölkerung, die ja z.T. noch antisemitisch eingestellt war?

B.: In Lublin ist nichts Antisemitisches passiert. Erst später gab es Ausschreitungen. Ich habe auch mit Leuten gesprochen, die nach der Befreiung in Deblin waren und von dort nach Lublin gekommen sind. Dort, in Deblin wurden die Mutter und die Schwester eines Freundes von mir, der heute in Schweden lebt, ermordet – von Polen. Sie waren direkt von Tschenstochau nach Deblin gegangen und hatten dort einige Wochen gelebt. Und dann ist er mal rausgegangen, und als er nach Hause kam, waren die Mutter und die Schwester, die auch Tschenstochau überlebt hatten, tot – sein Vater und zwei seiner Brüder waren in der Nazizeit um­gebracht worden. Daraufhin sind die letzten noch in Deblin lebenden Juden, es waren nur ungefähr zehn Familien, auch nach Lublin gekommen. Lublin war plötzlich das Zentrum der befreiten Juden, auch der ungarischen oder rumänischen. Wer immer in Polen oder in dem befreiten Teil Deutschlands überlebt hatte, kam nach Lublin. Später bin ich dann nach Lodz, nach Litzmannstadt. Praktisch lebte ich bei meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter. Und als der nach Lodz gezogen ist, bin ich mit ihm gegangen. Von dort ging ich nach Breslau. Die Stadt war mir jedoch fremd geworden und in unserer Wohnung lebten Flüchtlinge. Dann hörten wir, daß es in Deutschland „DP-Lager“ gibt. Das waren die Lager für „displaced persons“, „entwurzelte Personen“. Hier in der Nähe von Frankfurt, in Zeilsheim, war zum Beispiel auch ein solches Lager. Ein anderes gab es in Berlin-Schlachtensee. Daraufhin ist mein Onkel schon ein bißchen früher weg, und ich bin kurz nach ihm auch nach Berlin gekommen in dieses „DP-Lager“ Schlachtensee. Nur, nach drei Tagen wollte ich nicht im Lager bleiben. Das war für mich wieder ein Lager. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der früher nicht deutscher Staatsbürger gewesen war, der mußte zunächst im Lager bleiben. Aber wer Bezug zu Deutschland hatte, durfte auch gleich in der Stadt wohnen, und so bin ich nach West-Berlin gegangen und habe später auch teilweise in Dresden gewohnt, bin also immer zwischen West-Berlin und Dresden gependelt.

S.: Konnten Sie sich denn am Tag Ihrer Befreiung vorstellen, daß Sie einmal wieder in Deutschland leben würden und daß Sie sich sogar für dieses Deutschland ganz massiv politisch einsetzen würden?

B.: Ganz bestimmt nicht. Ich wollte nicht in Deutschland bleiben. Ich kam lediglich, weil es von Deutschland aus eine Auswanderungsmöglichkeit gegeben hat. Ich war mir nur nicht im klaren, ob ich nach Palästina gehen wollte, Israel gab es damals noch nicht. Viele Leute gingen damals illegal nach Palästina. Wenn die Schiffe aufgegriffen wurden, hat man sie alle auf Zypern interniert. Andere gingen nach Kanada, viele nach Amerika, einige sogar nach Australien. Mein Onkel ist 1949 nach Amerika gegangen, aber ich wollte mich auch von meinem Onkel abnabeln. Ich wollte nicht immer der Neffe sein, der bei seinem Onkel lebt. Das mit Deutschland ist erst peu à peu gekommen. Aber meine ursprüngliche Absicht war, aus Deutschland wegzugehen.

S.: Hielten Sie es damals für möglich, daß sich aus strammen Nationalsozialisten und Antisemiten demokratische Bürger eines demokratischen Staates entwickeln könnten?

B.: Das konnte ich mir nicht vorstellen. Und so ist es ja eigentlich genaugenommen nicht gekommen. In der damaligen sowjetischen Besatzungszone hatte man den Eindruck, daß dort lauter Widerständler lebten. Übrigens war das auch im Westen teilweise nicht viel anders. Das Leben ging weiter. Nazis gab es plötzlich keine mehr. Die Tatsache, daß es letztendlich irgendjemand gewesen sein mußte, der alle diese Verbrechen begangen hatte, wurde verdrängt: Die sind ja nicht da, die sind interniert oder in Gefangenschaft. Die Bösen gab es nicht, es gab nur die anderen. Daß das nicht so war, daß sich da über Nacht nicht alles geändert hatte, darüber habe ich mir keine Illusionen gemacht. Das ist heute anders, weil ja inzwischen drei Generationen oder zwei Generationen Erwachsener da sind, die nach dem Krieg geboren wurden. Die zweite Generation ist mittlerweile auch 20, 25, 30 Jahre alt, und mit dieser Generation habe ich überhaupt keine Probleme. Ich habe auch keine Probleme mit der älteren Generation, aber trotzdem stellt sich mir oft die Frage, wenn ich Gleichaltrigen oder etwas Älteren, als ich bin, begegne: Was hat er gemacht? Und dann komme ich zu dem Ergebnis: Besser du weißt es nicht.

Quelle: Ignatz Bubis, Interview mit Hans Sarkowicz, in „Als der Krieg zu Ende war…“: Erinnerungen an den 8. Mai ‘45, herausgegeben von Hans Sarkowicz. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1995, S. 100–05. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1995.

Atina Grossmann, Jews, Germans, and Allies: Close Encounters in Occupied Germany. Princeton: Princeton University Press, 2009.

Ignatz Bubis über seine Befreiung 1945 (Rückblick, 1995), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-239> [30.11.2023].