Henryk M. Broder über Heimat (1999)
Kurzbeschreibung
Henryk M. Broder ist ein bekannter deutscher Autor und Kommentator mit polnisch-jüdischen Wurzeln. In seinen Überlegungen zum Begriff der „Heimat“ nach der Wiedervereinigung Deutschlands kontrastiert Broder die polnische Provinzvergangenheit mit der deutschen kosmopolitischen Zukunft. Im Gegensatz zu anderen Deutschen, die aus dem „Osten“ kamen, und zu anderen Juden, die sich nach einer Heimat in Israel sehnen, schwelgt Broder in der Freiheit, nicht an eine Heimat gebunden zu sein.
Quelle
Heimat - nein danke!
Henryk M. Broder, 52, ist SPIEGEL-Redakteur und lebt in Berlin und Jerusalem.
Vor ein paar Jahren fuhr ich mit dem Zug von Berlin nach Krakau, ohne mir die Strecke vorher auf der Karte anzuschauen. Irgendwann hielt der Zug, ich schaute aus dem Fenster und sah das Schild „Katowice“ auf dem Bahnsteig. Es muß, dachte ich, eine Halluzination sein. Ich trat an das Fenster, das Schild war immer noch da, und auch auf den anderen Bahnsteigen stand „Katowice“.
Es war also keine Halluzination, es war ein Traum, ein Alptraum, denn Katowice, das frühere deutsche Kattowitz, war die Stadt, in der ich 1946 geboren wurde.
Elf Jahre später, 1957, hatten meine Eltern Polen verlassen, um dem polnischen Antisemitismus und dem inszenierten Kommunismus zu entkommen. Für mich war es damals ein Umzug, dessen Ursachen und Folgen mir nicht bewußt waren. Nur daß wir unseren Hund, einen Dackel, zurücklassen mußten, machte mir zu schaffen, nicht der Verlust der „Heimat“, die wir zugleich mit der polnischen Staatsangehörigkeit aufgaben. Wir blieben ein Jahr in Wien, zogen dann nach Köln, ich lernte in der Schule Deutsch, zu Hause wurde weiter polnisch gesprochen.
„Katowice“ war kein Thema, und wenn, dann eines zum Gruseln: Das Leben war mühsam, man mußte für alles Schlange stehen, der Himmel das ganze Jahr über grau, und warmes Wasser gab es nur, wenn meine Mutter den Boiler mit Kohlen angeheizt hatte, die mein Vater aus dem Keller in den dritten Stock schleppen mußte.
Der Zug hielt nur ein paar Minuten, zu kurz um auszusteigen, aber lange genug, damit mir klar wurde, daß es weder ein Traum noch ein Alptraum war, sondern eine Momentaufnahme aus der Vergangenheit, ein echtes Déja vu sozusagen.
Auf der Rückreise von Krakau nach Berlin stieg ich in Katowice aus. Die Neugierde war stärker als der Wunsch, so schnell wie möglich wieder im Café Einstein zu sitzen und Kaiserschmarren zu essen. Da stand ich nun zum ersten Mal nach 35 Jahren auf dem Bahnhofsvorplatz von Katowice und konnte es nicht fassen: Abgesehen von den inzwischen aufgestellten Reklametafeln für westliche Markenartikel hatte sich nichts geändert. Ich hatte eine graue, häßliche Stadt in Erinnerung, und das war sie noch immer: grau und häßlich und trostlos und noch mehr heruntergekommen als zu „unserer“ Zeit, als es noch keine „Kantor“-Läden gab, Wechselstuben, in denen man Devisen gegen Zloty und Zloty in richtiges Geld tauschen konnte.
Ein paar Coca-Cola-Schilder und Marlboro-Sonnenschirme mühten sich vergeblich, die postsozialistische Tristesse ein wenig aufzuheitern. Ich schaute mich um, und ein seltsames Gefühl stieg in mir auf, das ich noch nie so empfunden hatte: ein Gefühl der Dankbarkeit meinen Eltern gegenüber, die mir all das erspart hatten. Wie gern hätte ich auf der Stelle meine Mutter angerufen und ihr „Ich danke dir!“ ins Telefon gerufen. Aber es war nicht möglich, aus einer Telefonzelle ein Gespräch ins Ausland zu führen. So mußte ich den Ausbruch der Gefühle auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Was für ein Glück, dachte ich, daß man sich, wenn schon nicht die Familie, so doch wenigstens die Heimat aussuchen kann. Bei Freddy Quinn heißt es zum Beispiel:
„Brennend heißer Wüstensand – fern, so fern dem Heimatland ...
Dort, wo die Blumen blüh'n, dort wo die Täler grün, da war ich einmal zu Hause ...
Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland ...“
In meinem Fall war es kein grünes Tal, wo die Blumen blühten, sondern Köln am Rhein, wo ich es nur deswegen über 20 Jahre ausgehalten habe, weil man von Köln aus in einer Stunde in Maastricht, in zwei Stunden in Lüttich und in drei Stunden in Amsterdam war. Vor allem wenn in Köln die fünfte Jahreszeit, der Karneval, ausgerufen wurde, machte ich mich auf und davon, denn der kollektive Ausbruch einer zwanghaften Heiterkeit war nüchtern nicht zu ertragen, und mich zu betrinken hatte ich nie gelernt.
Meine Eltern hatten einen „Vertriebenenausweis“, mit dem sie zu einem ermäßigten Preis den Zoo besuchen durften und der ihnen auch sonst eine Vorzugsbehandlung sicherte. Sie brauchten zum Beispiel keine Radio- und Fernsehgebühr zu bezahlen, zumindest behauptete das mein Vater, der auch in der Straßenbahn schwarzfuhr und bei Kontrollen einfach seinen „Vertriebenenausweis“ vorzeigte. Köln war unsere „Wahlheimat“, also Heimat zweiter Wahl, obwohl meine Eltern sich nicht nach Polen zurücksehnten, keinem Vertriebenenverein angehörten und alles, nur keine „Revanchisten“ waren. Nur: Einem polnischen Juden mit deutschem Paß wird ständig die Frage gestellt, wo er sich denn „zu Hause“ fühle, erst recht, wenn er sich ein wenig zweideutig benimmt, zum Beispiel daheim eine andere Sprache spricht und lieber nach Tel Aviv als nach Mallorca in Ferien fährt.
Die Aufforderung, sich zu der „eigentlichen Heimat“ zu bekennen, hat etwas Bedrohliches an sich, sie klingt wie die Order, beim Zoll den richtigen Ausgang zu nehmen und alle mitgeführten Waren ordnungsgemäß zu deklarieren. Wann immer ich nach meiner Heimat gefragt wurde, kam ich mir vor wie ein Reisender, der Konterbande in seinem Gepäck schmuggelt. Nicht jeder hat es so einfach wie Freddy Quinn: „Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland ...“
Die Liebe zur Heimat ist eine Art Phantomschmerz, beide rühren von etwas her, das es nicht mehr gibt. Ursprünglich war „Heimat“ der Ort oder der Hof, von dem man stammte. Das Wort war ein Neutrum: Das Heimat. Erst mit der Mutation zur weiblichen Form, die Heimat, wurde es emotional so aufgeladen wie das Wort „Mutter“. Und so wie der Mensch nur eine Mutter hat, so soll er auch nur eine Heimat haben. „Vergiß nie die Heimat, wo deine Wiege stand, du findest in der Fremde kein zweites Vaterland.“
So gesehen wäre es ein Idealfall, wenn ein Kind da geboren würde, wo schon seine Eltern geboren wurden, wenn es sein ganzes Leben am selben Ort verbringen und schließlich auch da sterben würde, um in der heimatlichen Erde begraben zu werden. Doch so ein Idealfall dürfte inzwischen eher die Ausnahme als die Regel sein, außer vielleicht in isolierten Regionen wie Tibet oder Tirol, wo „Heimat“ ein Synonym für „lebenslänglich“ bedeutet. In der Wirklichkeit taucht Heimat meist retrospektiv auf. „Man muß in die Fremde gehen, um die Heimat, die man verlassen, zu finden“, hat Franz Kafka 1924 geschrieben. Franz Werfel fragte im Jahre 1931: „Besitzen wir eine Heimat erst dann, wenn wir sie verloren haben?“
Vermutlich ja. Es gibt in Israel „deutsche Landsmannschaften“ ehemaliger Rheinländer, Frankfurter, Bayern und Hessen, die sich regelmäßig treffen, um Erinnerungen an die alte Heimat auszutauschen. Deutsche Juden, die vor 60 Jahren aus Deutschland vertrieben, deren Kinder in Palästina beziehungsweise Israel geboren wurden und deren Enkel kein Deutsch mehr sprechen, sehnen sich zurück nach deutschem Wald, deutschem Bier und deutschen Liedern. Die Empfänge, die der deutsche Botschafter in Tel Aviv gibt, sind Heimatersatz; Würstchen mit Kartoffelsalat die schönste Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht.
Ein solcher Heimatbegriff ist vor allem sentimental und harmlos, es gibt aber auch eine aggressive Variante der Heimatliebe, die gefährlich ist. In Kirjat Arba, einer Siedlung bei Hebron im israelisch besetzten Westjordanland, traf ich amerikanische Juden aus Brooklyn, Philadelphia und Chicago, die mir in gebrochenem Hebräisch zu erklären versuchten, daß Judäa und Samaria „unsere Heimat“ seien und die Palästinenser, die seit Generationen nebenan lebten, nach Saudi-Arabien auswandern sollten, wo sie eigentlich hingehörten.
Denn „Heimat“ ist auch eine Frage der Macht, eine Heimat haben, heißt auch, bestimmen können, wer dazugehören darf und wer nicht. Was nicht unbedingt Vertreibung bedeuten muß. So haben viele ehemalige Bürger der DDR mit dem Untergang ihrer Republik auch ihre Heimat verloren, sind quasi „entheimatet“ worden, ohne sich vom Fleck bewegt zu haben. Manche haben in der PDS eine „neue Heimat“ gefunden, in der sie gemeinsam der alten nachtrauern. Und in den sechziger Jahren war in der Bundesrepublik oft die Rede von der „heimatlosen Linken“, deren Wortführer, je nach Gruppenzugehörigkeit, gern nach Moskau, Peking oder Tirana reisten, um wenigstens in den Ferien ein Gefühl von Zugehörigkeit, also Heimat, zu erleben.
Aber keine Heimat zu haben kann auch ein enormer Vorteil sein. Seit ich auf dem Bahnhofsvorplatz von Katowice gestanden und mich umgeschaut habe, weiß ich, wie gut das Schicksal es mit mir gemeint hatte: Dank einer weisen Entscheidung meiner Eltern blieb es mir erspart, zwischen einer Karriere als symbolischer Dissident oder praktischer Kollaborateur in meiner natürlichen Heimat wählen zu müssen. Und wann immer ich durch eine Gegend fahre, die häßlich, heruntergekommen und deprimierend ist, frage ich mich: Warum bleiben die Menschen hier, warum gehen sie nicht weg? Nur weil eine gruselige Heimat immer noch besser ist als gar keine?
Doch mit zunehmendem Alter machen sich auch bei mir Heimatgefühle bemerkbar, ganz leise und diskret, aber immerhin. Ich bin im Herbst 1990 nach Berlin gekommen, um die „Wiedervereinigung“ zu erleben, nachdem ich schon den Fall der Mauer verpaßt hatte. Ich wollte drei bis vier Monate bleiben und wieder wegfahren. Die drei bis vier Monate dauern noch immer an, und wann immer ich aus Berlin wegfahre, nach Augsburg, Jerusalem oder New York, freue ich mich schon darauf, nach Berlin zurückzukommen.
Ich fürchte, eines Tages könnte Berlin meine Heimat werden. Für einen, der in Katowice geboren wurde, wäre das keine Katastrophe.
Von Henryk M. Broder
Quelle: Henryk M. Broder, „Heimat - nein danke!“ Der Spiegel, 1. Juni 1999, S. 56-58. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-13536556.html
Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Henryk M. Broder.