Außenminister Joschka Fischer auf dem Sonderparteitag der Grünen zur Kosovo-Krise (1999)

Kurzbeschreibung

Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 Vorsitzender der Grünen. In diesem Zeitraum war die Partei Teil einer Koalition mit den Sozialdemokraten unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Nur sechs Monate nach Beginn der rot-grünen Koalition manövrierte Fischer in seiner Rolle als Bundesaußenminister Deutschland in eine NATO-Intervention zum Schutz der kosovarischen Bevölkerung vor serbischen Truppen und Paramilitärs. Es sollte der erste militärische Einsatz (West-)Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg werden. Die Maßnahme stieß auf Widerstand, vor allem in Fischers eigener Partei. Auf einem Sonderparteitag der Grünen, der eigens für die Diskussion des Kosovo-Einsatzes einberufen wurde, hielt Fischer die folgende Rede. Einen Videolink zur Rede finden Sie unten unter „Weiterführende Inhalte“.

Quelle

Rede des Außenministers zum NATO-Einsatz im Kosovo

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gegner, geliebte Gegner, ein halbes Jahr sind wir jetzt hier in der Bundesregierung, ein halbes Jahr [Zuruf: Kriegshetzer!] – ja ich hab nur drauf gewartet – hier spricht ein Kriegshetzer und Herrn Milosevic schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor. Wenn die Parteifreundin sich hinstellte und sagte, die Parteiführung spricht über ihre Zerrissenheit, ich weiß ja nicht, wie es euch geht, wenn ihr die Bilder seht. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir hier einen Grünen-Parteitag nach einem halben Jahr. []

Ich dachte, wir wollen hier diskutieren und dass die Friedensfreunde vor allen am Frieden Interesse haben. Und wenn ihr euch so sicher seid, dann solltet ihr doch die Argumente wenigstens anhören und eure Argumente dagegen setzen. Mit Sprechchören, mit Farbbeuteln wird diese Frage nicht gelöst werden, nicht unter uns und auch nicht außerhalb. Und wir erleben es ja bei diesem Parteitag, und insofern ist es keine innere Zerrissenheit, sondern eine äußere Zerrissenheit. Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass wir Grüne unter Polizeischutz einen Parteitag abhalten müssen. Aber warum müssen wir unter Polizeischutz diskutieren? Doch nicht, weil wir diskutieren wollen, sondern weil hier offensichtlich welche nicht diskutieren wollen, wie wir gerade erlebt haben. Das ist doch der Punkt! Ich weiß, als Bundesaußenminister muss ich mich zurückhalten, darf da zu bestimmten Dingen aus wohlerwogenen Gründen nichts sagen. Nicht so, wie mir wirklich das Maul am liebsten übergehen würde von dem, was ich in letzter Zeit gehört habe: Ja, „der Diplomatie eine Chance", ich kann das nur nachdrücklich unterstützen. Nur ich sage euch: Ich war bei Milosevic, ich habe mit ihm 2 1/2 Stunden diskutiert, ich habe ihn angefleht, drauf zu verzichten, dass die Gewalt eingesetzt wird im Kosovo. Jetzt ist Krieg, ja. Und ich hätte mir nie träumen lassen, das Rot/Grün mit im Krieg ist. Aber dieser Krieg geht nicht erst seit 51 Tagen, sondern seit 1992, liebe Freundinnen und Freunde, seit 1992! Und ich sage euch, er hat mittlerweile Hunderttausende das Leben gekostet und das ist der Punkt, wo Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr Protestpartei sind. Wir haben uns entschieden, in die Bundesregierung zu gehen, in einer Situation, als klar war, dass hier die endgültige Zuspitzung der jugoslawischen Erbfolgekriege stattfinden kann. Ich erinnere mich noch. [] – Nein, ich höre nicht auf! Den Gefallen tue ich euch nicht! – [] Ich kann mich noch erinnern: Die Bundestagswahlen waren gerade vorbei. Da sind Schröder und ich nach Washington geflogen. Wir waren noch in der Opposition, da war schon klar, dass wir ein Erbe mit bekommen, dass unter Umständen in eine blutige Konfrontation, in einen Krieg führen kann. Und ich kann euch an diesem Punkt nur sagen: schon damals, als wir die Koalition beschlossen haben, war uns klar, dass wir in einer schwierigen Situation antreten.

Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass wir im ersten halben Jahr nicht nur die Agenda 2000, nicht nur die Frage der Krise der Kommission, sondern auch die Frage Rambouillet und schließlich das Scheitern von Rambouillet und den Krieg dort haben. Nur ich kann euch nochmals sagen, was ich nicht bereit bin zu akzeptieren: Frieden setzt voraus, dass Menschen nicht ermordet, dass Menschen nicht vertrieben, dass Frauen nicht vergewaltigt werden. Das setzt Frieden voraus! Und ich bin der Letzte, der nicht sagen würde, dass ich keine Fehler gemacht habe. Auch gerade in letzter Zeit, wenn darauf hingewiesen wird auf die Lageberichte. Ja, das war ein Fehler, den muss ich akzeptieren. Ich konnte im ersten halben Jahr vor allem unter dem Druck nicht alles machen, aber ich trage dafür die Verantwortung und werde zu Recht deswegen kritisiert. Andere Fehler sind gemacht worden. Nur auf der anderen Seite möchte ich euch sagen, und da möchte ich auch mal der Partei meine persönliche Situation berichten. Der entscheidende Punkt ist doch, dass wir wirklich alles versucht haben, um diese Konfrontation zu verhindern. Und da sage ich euch, ich bin ja nun weiß Gott kein zartes Pflänzchen beim Nehmen und beim Geben, weiß Gott nicht, aber es hat wehgetan, wenn der persönliche Vorwurf erhoben wurde, ich hätte da die Bundesrepublik Deutschland in den Krieg gefingert. Ich kann euch nur eines sagen: Die G8 hat jetzt beschlossen, eine gemeinsame Grundlage, eine Prinzipienerklärung auf der vollen Grundlage von Rambouillet. Und ich kann euch nur versichern, ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand, um diese Konfrontation zu verhindern. Und wenn einer in dieser Frage meint, er könne eine Position einnehmen, die unschuldig wäre, dann müssen wir die Position mal durchdeklinieren. Mir wurde moralischer Overkill vorgeworfen und ich würde da eine Entsorgung der deutschen Geschichte betreiben und ähnliches. Ich will euch sagen: Für mich spielten zwei zentrale Punkte in meiner Biografie eine entscheidende Rolle und ich kann meine Biografie da nicht ausblenden. Ich frage mich, wer das kann in dieser Frage! In Solingen, als es damals zu diesem furchtbaren mörderischen Anschlag auf eine ausländische Familie, auf eine türkische Familie, kam, die rassistischen Übergriffe, der Neonazismus, die Skinheads. Natürlich steckt da auch bei mir immer die Erinnerung an unsere Geschichte und spielt da eine Rolle. Und ich frage mich, wenn wir innenpolitisch dieses Argument immer gemeinsam verwandt haben, warum verwenden wir es dann nicht, wenn Vertreibung, ethnische Kriegsführung in Europa wieder Einzug halten und eine blutige Ernte mittlerweile zu verzeichnen ist. Ist das moralische Hochrüstung, ist das Overkill? Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz; nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen, liebe Freundinnen und Freunde, und deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen. Was ich mich frage ist, warum ihr diese Diskussion verweigert? Warum verweigert ihr mit Trillerpfeifen diese Diskussion, wenn ihr euch als Linke oder gar Linksradikale bezeichnet? Ihr mögt ja alles falsch finden, was diese Bundesregierung gemacht hat und die NATO macht, das mögt ihr alles falsch finden. Aber mich würde mal interessieren, wie denn von einem linken Standpunkt aus das, was in Jugoslawien seit 1992 an ethnischer Kriegsführung, an völkischer Politik betrieben wird, wie dieses von einem linken, von euerm Standpunkt aus denn tatsächlich zu benennen ist. Sind es etwa alte Feindbilder, an die man sich gewöhnt hat, und Herr Milosevic passt in dieses Feindbild so nicht rein? Ich sage euch, mit dem Ende des kalten Krieges ist eine ethnische Kriegsführung, ist eine völkische Politik zurückgekehrt, die Europa nicht akzeptieren darf.

[]

Quelle: Rede von Joschka Fischer auf dem Bielefelder Parteitag der Grünen (13. Mai 1999), Heinrich Böll Stiftung. Archiv Grünes Gedächtnis; abgedruckt in Eberhard Rathgeb, Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945–2005. München: Carl Hanser Verlag, 2005, S. 415–16. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung vom Archiv Grünes Gedächtnis.

David P. Conradt, Gerald R. Kleinfeld und Christian Søe, Hrsg., A Precarious Victory: Schroeder and the German Elections of 2002. New York: Berghahn Books, 2004.

Jörg Echternkamp und Stefan Martens, Hrsg., Experience and Memory: The Second World War in Europe. New York: Berghahn Books, 2013.

Joschka Fischer auf dem Kosovo-Sonderparteitag in Bielefeld 1999, Bündnis 90/Die Grünen YouTube-Kanal, https://www.youtube.com/watch?v=7jsKCOTM4Ms (letzter Zugriff 3. Mai 2021)

Christina Morina, Legacies of Stalingrad: Remembering the Eastern Front in Germany since 1945. Cambridge und New York: Cambridge University Press, 2011.

Maja Zehfuss, Wounds of Memory: The Politics of War in Germany. Cambridge und New York: Cambridge University Press, 2007.

Außenminister Joschka Fischer auf dem Sonderparteitag der Grünen zur Kosovo-Krise (1999), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-241> [05.12.2024].