Michael Naumann, „Ohne Antwort, Ohne Trost“ (4. Mai 2005)
Kurzbeschreibung
Michael Naumann (SPD) war von 1998 bis 2001 Staatssekretär für Kultur und Medien und war maßgeblich an der Auswahl des endgültigen Entwurfs von Peter Eisenman für das 1999 errichtete und 2005 eingeweihte Mahnmal für die ermordeten Juden Europas (Holocaust Mahnmal) beteiligt. Die Inspiration und der Anstoß für das Denkmal kamen von zivilgesellschaftlichen Gruppen in Deutschland und nicht von der Regierung. Hier erzählt Naumann von seiner Rolle und seinen Gedanken darüber, wie sich dieses Projekt entwickelt und welche Bedeutung es für Deutschland hat.
Quelle
Ohne Antwort, Ohne Trost
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist ein rätselhaftes Monument. Doch sechs Millionen ermordete Juden sind kein Rätsel.
Das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin ist das erste Nationaldenkmal der Bundesrepublik. Am nächsten Dienstag wird es eröffnet. Der Bundestag hatte seinen Bau vor sechs Jahren beschlossen. Das Stelenfeld am Brandenburger Tor verkörpert den Höhepunkt einer geschichtspolitischen Debatte über den symbolischen, künstlerischen Umgang mit deutscher Schuld und Verantwortung für den Holocaust. Das Denkmal in seiner heutigen Form lehnte die Opposition im Bundestag mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel Wolfgang Schäuble, geschlossen ab.
Es ist auch das weithin sichtbare Zeichen einer im Krieg oder kurz danach geborenen Generation, die über das Projekt mit sich selbst in Streit geriet. Als wäre es ein kommunikationstheoretisch interessantes Thema gewesen, begütigten sich seine Teilnehmer – des Konflikts am Ende müde geworden – mit der These, die Diskussion selbst sei ein Teil des Mahnmals.
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Groß war die Angst, in Berlin würde ein Schlussstrich gezogen
Für viele der heute 60-Jährigen stand die Frage „Auschwitz – wie war das nur möglich?“ am Anfang der „Politisierung“, wie man derlei Erwachen aus der Kindheit später nannte. Der obszöne Schock, den zum Beispiel die Lektüre des Gerstein-Protokolls einem 15- oder 16-jährigen Schüler versetzte, öffnete den ersten kritischen Blick auf den Staat der späten fünfziger Jahre. Wo steckten die Täter, wo die unmittelbar Verantwortlichen des mörderischen Rassismus? Es stellte sich heraus: Viele waren noch im Amt, in den Behörden, in Gerichten, an den Universitäten, sogar im Bundestag und im Kanzleramt, überall. Vier Jahrzehnte später waren sie aus dem öffentlichen Leben verschwunden und verzehrten, wenn sie noch lebten, ihre Pensionen. Das war die politische Urerfahrung der inzwischen viel geschmähten 68er. Dass manche von ihnen ein Gefühl prinzipieller moralischer Überlegenheit entwickeln sollten, war damals nicht abzusehen.
Sollte das Berliner Denkmal womöglich einen mächtigen Schlussstein im Bogen der Enttäuschung aller Nachgeborenen angesichts der Vergangenheitspolitik der bundesdeutschen Gründerjahre bilden? Was genau sollte „die Botschaft“ für seine Betrachter sein? Es gab Fragen, doch der kämpferische Tonfall der Mahnmal-Initiative um Lea Rosh ließ im Wahljahr kaum noch Fragen zu. Sie hatte bereits alle möglichen Antworten in einer Art präventiver Rechtschaffenheit parat.
Ich war gegen das Mahnmal, weil ich glaubte, dass es keinen architektonischen Gestus gab, der den Abgrund der Tat, das Leiden und den millionenfachen jämmerlichen Tod der ermordeten Juden repräsentieren könnte. Denkmäler, so kann man bei Robert Musil lesen, haben die Eigenschaft, nach einer gewissen Zeit unsichtbar zu werden. Wenn das eine Folge auch dieses Projekts sein sollte, würde es irgendwann einmal sein Gegenteil bewirken, Gleichgültigkeit und schließlich Vergessen.
Als bekannt wurde, dass Lea Rosh kritischen Einwänden deutscher Juden bei Gelegenheit entgegnet habe, dass es ein Denkmal für die Deutschen sein sollte (also doch nicht für die ermordeten Juden?), stand fest, dass sehr verschiedene Vorstellungen einer denkmalgeschützten Erinnerung an den Holocaust im Lande kursierten. Nach einem Abendessen im Frankfurter Haus von Ignatz Bubis wurde mir klar, dass der Streit um das Mahnmal in Deutschlands jüdischen Gemeinden heftiger war, als ich ahnte. Inzwischen entsprach die Lautstärke der Diskussion in den Medien überhaupt nicht mehr dem Schweigen, das jeden umhüllt, der eine der KZ-Gedenkstätten, ob in Bergen-Belsen, Dachau, Sachsenhausen oder gar in Auschwitz besucht.
In New York hatte ich mich mit jüdischen Freunden über das Mahnmal unterhalten, mit Lektoren, Autoren und Künstlern. Einige von ihnen waren Kinder von KZ-Überlebenden, und keinem schien das Denkmal sinnvoll zu sein. Jeder hatte andere Gründe. Henry Kissinger zum Beispiel hielt es für gefährlich, einer Nation das Monument seiner historischen Niedertracht in die Hauptstadt zu stellen. Einige befürchteten, dass aus dem Stelenfeld neuer Antisemitismus aufsteigen würde. Da hatte Martin Walser seine zwiespältige Frankfurter Rede noch nicht gehalten.
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Die ernsthafte Verspieltheit der Stelen wird die Besucher beeindrucken
Fatal schien jedoch die Hoffnung seiner Interpreten zu sein, dass sich beim Gang durch das Stelenlabyrinth ein Gefühl existenzieller Irritation einstellen möge. Das sollte die Ängste der todgeweihten Juden in den Vernichtungslagern empathisch reproduzieren. Das klang anmaßend, nein, unglaublich. Im Gegenteil, allenfalls in der schieren Unmöglichkeit dieses abstrakten Nachvollzugs könnte für aufgeklärte Besucher ein blasser Erkenntnisgewinn liegen. Vielleicht war gerade diese hauchdünne Dialektik reizvoll genug, um die Kunstkritiker der großen Feuilletons für das Stelenfeld zu begeistern? Dann hätte eine Bemerkung der neuen Kulturausschussvorsitzenden Elke Leonhard den Kern ihrer hermeneutischen Emphase getroffen. Das Mahnmal begrüßte sie in „seiner provozierenden Unverständlichkeit“.
Und tatsächlich – wer heute durch die schmalen Gänge zwischen den Betonblöcken geht, wird, sofern er für die Formen moderner Kunst empfindlich ist, wenn nicht provoziert, so doch tief beeindruckt sein. Der „optische Schauder“ (Duchamp) des gigantischen Feldes ist ein Gemütszustand, der sich angesichts der ernsthaften Verspieltheit der Stelen bei vielen Besuchern verlässlich einstellen dürfte. Zugleich ist es rätselhaft wie das numinose Stonehenge. Aber sechs Millionen Tote sind kein Rätsel.
Mit Peter Eisenman, der, wie er sagte, jedes Mal als Amerikaner nach Deutschland flog und als Jude zurückkehrte, hatte ich 1999 einen alternativen Entwurf verabredet. Auf der Grundfläche des Mahnmals sollte ein Forschungszentrum zur Geschichte der Schoah mit Bibliothek, aber auch ein Genocide Watch Institut entstehen, eine wissenschaftliche Warnstation für die politische Gegenwart mitsamt ihren genozidalen Verbrechen und „ethnischen Säuberungen“ nicht nur in der Dritten Welt. Akten und andere deutsche Dokumente des Holocaust sollten hier versammelt werden. Viele von ihnen sind noch immer nicht der historischen Forschung zugänglich. Das Stelenfeld, auf 600 Blöcke verkleinert, bliebe stehen.
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Schon jetzt ist klar: Der Ort der Information wird viel zu klein sein
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Sechs Jahre nach dem Bundestagsbeschluss wird das Mahnmal eröffnet. Für den unterirdischen „Ort der Information“ erwartet die verantwortliche Stiftung jährlich mehr als 500.000 Besucher. Für diesen Ansturm ist er viel zu klein. Der Vorschlag der Gruppe um Lea Rosh, ihrer Initiative mit einer eigenen Stele im Eingangsbereich zu gedenken, fand kein Gehör. Dass der „Ort“, wie seinerzeit in der ZEIT befürchtet, „das Mahnmal verjuxt“, ist kaum zu glauben. Im Gegenteil, in den vier großen Ausstellungsräumen gibt es nichts zu lachen. Trauer und Scham sind die Gefühle, die den Besucher im eindrucksvoll gestalteten Keller des Denkmals überwältigen werden. Von Historikern ausgewählte und dokumentierte Geschichten jüdischer Familien ergänzen das abstrakte Bild des Stelenfelds mit konkreten, repräsentativen Schicksalen von Opfern des Völkermords.
So wachsen Einkehr und historische Aufklärung dem verstörenden Monument in der Mitte Berlins aus dem Untergrund zu wie ein wiedergefundener Sinn, auch wenn sie eines nicht beantworten können: Wie konnte es nur geschehen? Das Mahnmal wird an die Toten des größten Massenmords in der Geschichte erinnern. Aus dieser Erinnerung steigen weder Trost noch Erlösung und erst recht nicht die viel zitierte „Versöhnung“ – mit wem denn? – auf. Vielleicht aber verleiht es dem Gebot der Unantastbarkeit von Menschenwürde für jede kommende Generation neues Gewicht? Das Gebot verdankt sich dem historischen, religiösen Genie der Juden, dem biblischen Prinzip der „Lebensheiligkeit“ – und mit ihm dem Gesetz „Du sollst nicht töten“.
Berliner Polizisten werden dem Stelenfeld besonderen Schutz vor Neonazis zukommen lassen. Auf den jüdischen Friedhöfen Deutschlands werden weiterhin und zunehmend Gräber mit Hakenkreuzen geschändet.
Quelle: Michael Naumann, „Ohne Antwort, ohne Trost“, Die Zeit, Nr. 19/2005. © Die Zeit. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2005/19/Mahnmal/komplettansicht