Merkmale nördlicher Körper: Levinus Lemnius, Zwei Bücher von der Verfassung und Beschaffenheit des Körpers, die die Griechen „Krasis“ nennen und die man gewöhnlich „complexio“ nennt (1561)
Kurzbeschreibung
Im Jahr 1561 verfasste der niederländische Arzt Levinus Lemnius (1505–1568) De habitu et constitutione corporis, eine ausführliche lateinische Abhandlung über „Komplexion“ oder Temperament (das individuelle humorale Gleichgewicht). Der vermeintliche Zusammenhang zwischen humoraler Beschaffenheit und Verhaltensmerkmalen wird in den folgenden Auszügen besonders deutlich, wo Lemnius die nördlichen Körper beschreibt („die dem Nordostwind ausgesetzt sind und kalte Gegenden bewohnen“). Lemnius betont zwar die gemeinsamen Merkmale der Nordländer, unterscheidet aber auch zwischen den Deutschen und den Niederländern.
Quelle
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Und weil nun die Geister, welche diese Säfte ausdünsten, eine fremde Eigenschaft empfangen und das Gehirn umnebeln, geschieht es, dass sie auch mürrisch gemacht werden und leicht aufbrausen und die Seelen von anderen Aufregungen beunruhigt werden. Weil nämlich der natürliche Geist in der Leber entsteht, kann er weder rein hervorgebracht werden noch in einer luftartigen Substanz abgeschwächt werden, wenn die Eingeweide nicht von allen Einflüssen frei seien. Weiterhin nimmt der Lebensgeist seinen Ursprung im und wird erzeugt vom natürlichen (Geist), der vom Herzen durch den Verlauf der Arterien in den ganzen Körper ausgegossen wird, und er verursacht verschiedene Verhaltensweisen aufgrund des Überflusses oder der Kargheit, die ihm teils an Nahrungsmitteln, teils an der Luft und auch der Beschaffenheit der Gegend widerfahren. Auf diese Weise werden die, die dem Nordostwind ausgesetzt sind und kalte Gegenden bewohnen, wegen des dickeren Blutes und den dichten Geistern als mutig, unfreundlich, furchtbar, wild und kriegerisch wahrgenommen sowie als solche, die bedrohlich mit ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Stimme Angst bei den Menschen erregen. Was aber unausweichliche Gefahren betrifft, so stellen sie sich ihnen allen furchtlos entgegen; sie nehmen Lebensgefahren mit entschlossenem und ungebrochenem Mut auf sich. Diese natürliche Eigenschaft wird bei den Asiaten vermisst: Denn jene sind weichlich und auch weibisch, sie wanken, wenn auch nur die geringste Unannehmlichkeit sie befällt, sie seufzen, wenn auch nur die kleinste Empfindung von Schmerz ihnen beigefügt wird, und sie erbleichen vor Angst.
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All jene nämlich, in denen dickes Blut fließt und es sich in der Kälte der umgebenden Luft verdichtet, haben große und starke Geister: Dadurch geschieht es, dass sie unversöhnlich sind und auch seelische Beweglichkeit und langandauernde Entschlossenheit haben und deshalb ernsthaft aufbrausen, und darum geschieht es, dass, wenn einige von Ihnen Wunden empfangen und Blut zutage tritt, sie sich heftiger gegen den Feind erheben und sich auch im Kampf glühend erhitzen. Die aber innerlich von dünnem Blut sind, haben schwächliche und schnell wandelbare Geister: Jene nämlich entzünden sich leichtfertig und gehen schnell in den Kampf hinein, aber ihr Zorn legt sich unverzüglich und bei der ersten Verwundung und dem ersten Anblick von Blutvergießen verlässt sie ihr Mut und sie brechen zusammen. Weiterhin scheint es mir, dass ein jeder den Lohn der Mühen ernten wird, wenn er, um die Bewegungen des Geistes zu ordnen und zu besänftigen, um die ungeheuer großen Gemütsregungen, die mit Hitze und Eifer aus dem Geist hervortreten, zu beruhigen, untersucht, wodurch der Geist bewegt wird, durch welche Kraft er zur Handlung angetrieben wird und wie beschaffen die hitzigen oder milden Reize des Geistes seien. Auf diese Weise nämlich wird er wieder zu rechter Beschaffenheit und Mäßigung bringen können, was sich jenseits des Mittelwegs befindet.
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Deutsche:
Diejenigen nämlich, die von maßvoller Kälte erfüllte Geister haben, sind beständig und auch standhaft in den ihnen widerfahrenden Dingen, und sie nehmen alles mit standhaftem Mut in Angriff, so dass sie nicht einfach von einmal gefassten Meinungen ablassen, tatsächlich sind sie wegen der Kälte und der ermüdenden Hitze, wenn nicht der Fleiß der Bildung an sie herantritt, der schon längst begonnen hat, sie zu verfeinern, nicht sonderlich geistreich noch von klugem Scharfsinn oder wenigstens gewandt oder schlau, daher tun sie ferner nichts hinterlistiges und verschlagenes, um die Feinde zu hintergehen.
Niederländer:
Jenen nämlich, denen entweder aufgrund der Beschaffenheit der Region oder der Eigenschaften der Luft ein feuchter Geist innewohnt, gibt er, so er nur maßvoll beschaffen ist, eine leichte und unbeschwerte Auffassungsgabe für die Formen, die jedoch flüchtig ist und schnell dahinschwindet. Es ist nämlich nicht möglich, dass die Gestalt und die Form einer Sache leicht eingeprägt wird, so wie dies auch in fließendem oder flüssigem Wachs nicht möglich ist. Deshalb sind sie vergesslich, schläfrig, ungeeignet für die zu erlernenden Künste, sie haben einen dummen, überaus wenig scharfsinnigen Verstand, und dadurch, dass sie einen fetten und feuchten Körper haben, schätzen sie das Erinnerungsvermögen gering: Dasselbe muss auch über extreme Trockenheit gesagt werden.
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Quelle: Levinus Lemnius, De habitu et constitutione corporis, quam Graeci Krasin triviales complexionem vocant, libri duo. Antverpiae: Simon, 1561, o. S. (hier: Complexionib. Lib. I). Online verfügbar unter: http://data.onb.ac.at/rep/108F1819 (scans 44–46, 51)