Johann Gottfried Herder, „Deutsche Völker“ (1784)

Kurzbeschreibung

Johann Gottfried Herder (1744–1803) war ein deutscher Dichter, Theologe und Philosoph. In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791) befasst sich Herder aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive mit der Wissenschaft vom Menschen. Darin beschreibt Herder unter anderem die Beschaffenheit der Erde, Pflanzen und Tiere, als auch die gattungsspezifischen Merkmale des Menschen. Anschließend kommt er auf unterschiedliche Völker zu sprechen sowie den Einfluss des Klimas und der Sprache auf deren Entwicklung. Auch den „deutschen Völkern“ und dem Charakter dieser Nation ist ein Abschnitt gewidmet.

Quelle

VII.3. Was ist Klima? und welche Wirkung hat‘s auf die Bildung des Menschen an Körper und Seele?

Die beiden vestesten Punkte unsrer Kugel sind die Pole; ohne sie war kein Umschwung, ja wahrscheinlich keine Kugel selbst möglich. Wüßten wir nun die Genesis der Pole und kennten die Gesetze und Wirkungen des Magnetismus unserer Erde auf ihre verschiedne Körper: sollten wir damit nicht den Grundfaden gefunden haben, den die Natur in Bildung der Wesen nachher mit anderen höheren Kräften mannichfaltig durchwebte? Da uns aber, ohngeachtet so zahlreicher und schöner Versuche, hievon im grossen Ganzen noch wenig bekannt ist, so sind wir auch in Betracht der Basis aller Klimate nach der Weltgegend des Pols hin, noch im Dunkeln. Vielleicht, daß einst der Magnet im Reich der physischen Kräfte wird, was er uns eben so unerwartet auf Meer und Erde schon ward — —

Der Umschwung unsrer Kugel um sich und um die Sonne bietet uns eine nähere Bezeichnung der Klimate dar; aber auch hier ist die Anwendung selbst allgemein-anerkannter Gesetze schwer und trüglich. Die Zonen der Alten haben sich durch die neuere Kenntniß fremder Welttheile nicht bestätigt, wie sie denn auch, physisch betrachtet, auf Unkunde derselben gebauet waren. Ein Gleiches ists mit der Hitze und Kälte, nach der Menge der Sonnenstrahlen und dem Winkel ihres Auffalls berechnet. Als mathematische Aufgabe ist ihre Wirkung mit genauem Fleiß bestimmt worden; der Mathematiker selbst aber würde es für einen Misbrauch seiner Regel ansehen, wenn der philosophische Geschichtschreiber des Klima darauf Schlüsse ohne Ausnahmen baute. Hier giebt die Nähe des Meers, dort ein Wind, hier die Höhe oder Tiefe des Landes, an einem vierten Ort nachbarliche Berge, am fünften Regen und Dünste dem allgemeinen Gesetz eine so neue Lokalbestimmung, daß oft die nachbarlichsten Orte das gegenseitigste Klima empfinden. Ueberdem ist aus neueren Erfahrungen klar, daß jedes lebendige Wesen eine eigne Art hat, Wärme zu empfangen und von sich zu treiben, ja daß, je organischer der Bau eines Geschöpfs wird und je mehr es eigne thätige Lebenskraft äussert, um so mehr auch ein Vermögen äussert, relative Wärme und Kälte zu erzeugen. Die alten Sätze, daß der Mensch nur in einem Klima leben könne, das die Hitze des Bluts nicht übersteigt, sind durch Erfahrungen widerlegt; die neuern Systeme hingegen vom Ursprung und der Wirkung animalischer Wärme sind lange noch nicht zu der Vollkommenheit gediehen, daß man auf irgendeine Weise an eine Klimatologie nur des menschlichen Baues, geschweige aller menschlichen Seelenvermögen und ihres so willkürlichen Gebrauchs denken könnte. Freilich weiß jedermann, daß Wärme die Fibern ausdehne und erschlaffe, daß sie die Säfte verdünne und die Ausdünstung fördere, daß sie also auch die festen Theile mit der Zeit schwammig und locker zu machen vermöge u. f.; das Gesetz im Ganzen bleibt sicher, auch hat man aus ihm und seinem Gegensatz, der Kälte, mancherlei physiologische Phänomene schön erklärt; allgemeine Folgerungen aber, die man aus Einem solchen Principium oder gar nur aus einem Theil desselben, der Erschlaffung, der Ausdünstung z. E., auf ganze Völker und Weltgegenden, ja auf die feinsten Verrichtungen des menschlichen Geistes und die zufälligsten Einrichtungen der Gesellschaft machen wollte; je scharfsinniger und systematischer der Kopf ist, der diese Folgerungen durchdenkt und reihet, desto gewagter sind sie. Sie werden beinah Schritt vor Schritt durch Beyspiele aus der Geschichte oder selbst durch physiologische Gründe widerlegt; weil immer zuviel und zum Theil gegenseitige Kräfte nebeneinander wirken. Selbst dem großen Montesquieu hat man den Vorwurf gemacht, daß er seinen klimatischen Geist der Gesetze auf das trügliche Experiment einer Schöps-zunge gebauet habe. — Freilich sind wir ein bildsamer Thon in der Hand des Klima; aber die Finger desselben bilden so mannichfalt, auch sind die Gesetze, die ihm entgegenwirken, so vielfach, daß vielleicht nur der Genius des Menschengeschlechts das Verhältnis aller dieser Kräfte in eine Gleichung zu bringen vermöchte.

Nicht Hitze und Kälte ists allein, was aus der Luft auf uns wirket; vielmehr ist sie nach den neuern Bemerkungen ein großes Vorratshaus anderer Kräfte, die schädlich und günstig sich mit uns verbinden. In ihr wirkt der elektrische Feuerstrom, dies mächtige und in seinen animalischen Einflüssen uns noch fast unbekannte Wesen; denn so wenig wir die innern Gesetze seiner Natur kennen: so wenig wissen wir, wie der menschliche Körper es aufnimmt und verarbeitet. Wir leben vom Hauch der Luft; allein der Balsam in ihr, unsere Lebensspeise, ist uns ein Geheimniß. Fügen wir nun die mancherlei, beinah unnennbaren Localbeschaffenheiten ihrer Bestandtheile nach den Ausdünstungen aller Körper ihres Gebietes hinzu; erinnern wir uns der Beispiele, wie oft durch einen unsichtbaren, bösen Samen, dem der Arzt nur den Namen eines Miasma zu geben wußte, die sonderbarsten, oft fürchterliche und in Jahrtausenden unaustilgbare Dinge entstanden sind: denken wir an das geheime Gift, das uns die Blattern, die Pest, die Lustseuche, die mit manchem Zeitalter verschwindenden Krankheiten gebracht hat, und erinnern uns, wie wenig wir nicht etwa den Hermattan und Sammiel, den Sirocco und den Nordostwind der Tatarei, sondern nur die Beschaffenheit und Wirkung unsrer Winde kennen; wieviel mangelnde Vorarbeiten werden wir inne, ehe wir an eine physiologisch-pathologische, geschweige an eine Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskräfte kommen können! Auch hier indessen bleibt jedem scharfsinnigen Versuche sein Kranz, und die Nachwelt wird unserer Zeit edle Kränze zu reichen haben.

Endlich die Höhe oder Tiefe eines Erdstrichs, die Beschaffenheit desselben und seiner Produkte, die Speisen und Getränke, die der Mensch genießt, die Lebensweise, der er folgt, die Arbeit, die er verrichtet, Kleidung, gewohnte Stellungen sogar, Vergnügen und Künste, nebst einem Heer anderer Umstände, die in ihrer lebendigen Verbindung viel wirken; alle sie gehören zum Gemählde des vielverändernden Klima. Welche Menschenhand vermag nun dieses Chaos von Ursachen und Folgen zu einer Welt zu ordnen, in der jedem einzelnen Dinge, jeder einzelnen Gegend sein Recht geschehe und keins zu viel oder zu wenig erhalte? Das Einzige und Beste ist, daß man nach Hippokrates Weise mit seiner scharfsehenden Einfalt einzelne Gegenden klimatisch bemerke und sodann langsam, langsam allgemeine Schlüsse folgere. Naturbeschreiber und Aerzte sind hier physicians, Schüler der Natur und des Philosophen Lehrer, denen wir schon manchen Beytrag einzelner Gegenden zur allgemeinen Lehre der Klimate und ihrer Einwirkung auf den Menschen auch für die Nachwelt zu danken haben. - Da hier aber von seinen speciellen Bemerkungen die Rede seyn kann: so wollen wir nur in einigen allgemeinen Anmerkungen unsern Gang verfolgen.

1. Da unsere Erde eine Kugel und das veste Land ein Gebürge über dem Meer ist: so wird durch vielerlei Ursachen auf ihr eine klimatische Gemeinschaft befördert, die zum Leben der Lebendigen gehöret. Nicht nur Tag und Nacht und der Reihentanz abwechselnder Jahrszeiten verändern das Klima eines jeden Erdstrichs periodisch: sondern der Streit der Elemente, die Gegenwirkung der Erde und des Meers, die Lage der Berge und Ebnen, die periodischen Winde, die aus der Bewegung der Kugel, aus der Veränderung der Jahres- und Tageszeilen und aus soviel kleinern Ursachen entspringen, unterhalten diese Gesundheitbringende Vermählung der Elemente, ohne welche alles in Schlummer und Verwesung sänke. Es ist Eine Atmosphäre, die uns umgiebt, Ein elektrisches Meer, in dem wir leben; beide aber (und wahrscheinlich der magnetische Strom mit ihnen) sind in einer ewigen Bewegung. Das Meer dunstet aus; die Berge ziehen an und gießen Regen und Ströme zu beiden Seiten hinunter. So lösen die Winde einander ab; so erfüllen Jahre oder Jahrreihen die Summe ihrer klimatischen Tage. So heben und tragen einander die verschiednen Gegenden und Zeiten; alles auf unserer Kugel steht in gemeinsamer Verbindung. Wäre die Erde platt oder hätte sie die Winkelgestalt, von der die Sinesen träumten: freilich, so könnte sie in ihren Ecken die klimatischen Ungestalten nähren, von denen jetzt ihr regelmäßiger Bau und seine mittheilende Bewegung nichts weiß. Um den Thron Jupiters tanzen ihre Horen im Reihentanz, und was sich unter ihren Füßen bildet, ist zwar nur eine unvollkommene Vollkommenheit, weil Alles auf die Vereinigung verschiedenartiger Dinge gebauet ist, aber durch eine innre Liebe und Vermählung mit einander wird allenthalben das Kind der Natur gebohren, sinnliche Regelmäßigkeit und Schönheit.

2. Das bewohnbare Land unsrer Erde ist in Gegenden zusammengedrängt, wo die meisten lebendigen Wesen in der ihnen gnügsamsten Form wirken; diese Lage der Welttheile hat Einfluß auf ihrer aller Klima. Warum fängt im südlichen Hemisphär die Kälte schon so nahe der Linie an? Der Naturphilosoph antwortet: „Weil daselbst so wenig Land ist; daher die kalten Winde und Eisschollen des Südpols weit hinaufströmen.“ Wir sehen also unser Schicksal, wenn das ganze feste Land der Erde in Inseln umhergeworfen wäre. Jetzt wärmen sich drei zusammenhangende Welttheile aneinander; das vierte, das ihnen entfernt liegt, ist auch aus dieser Ursache kälter, und im Südmeer fängt, bald jenseit der Linie, mit dem Mangel des Landes auch Misgestalt und Verartung an. Wenigere Geschlechter vollkommenerer Landthiere sollten also daselbst leben; das Südhemisphär war zum großen Wasserbehältniß unsrer Kugel bestimmt, damit das Nordhemisphär ein besseres Klima genösse. Auch geographisch und klimatisch sollte das Menschengeschlecht ein zusammenwohnendes, nachbarliches Volk seyn, das so wie Pest, Krankheiten und klimatische Laster, auch klimatische Wärme und andre Wohlthaten einander schenkte.

3. Durch den Bau der Erde an die Gebürge ward nicht nur für das große Mancherlei der Lebendigen das Klima derselben zahllos verändert: sondern auch die Ausartung des Menschengeschlechts verhütet, wie sie verhütet werden konnte. Berge waren der Erde nöthig; aber nur einen Bergrücken der Mogolen und Tibetaner giebts auf derselben; die hohen Cordilleras und so viel andre ihrer Brüder sind unbewohnbar. Auch öde Wüsten wurden durch den Bau der Erde an die Gebürge selten; denn die Berge stehn wie Ableiter des Himmels da und gießen ihr Füllhorn aus in befruchtenden Strömen. Die öden Ufer endlich, der kalte oder feuchte Meeresabhang ist allenthalben nur später entstandenes Land, welches also auch die Menschheit erst später und schon wohlgenährt an Kräften beziehen dorfte. Das Thal von Quito war gewiß eher bewohnt als das Feuerland, Kaschmire eher als Neuholland oder Nova-Zembla. Die mittlere größeste Breite der Erde, das Land der schönsten Klimate zwischen Meer und Gebürgen, war das Erziehungshaus unsres Geschlechts und ist noch jetzt der bewohnteste Teil der Erde. —

Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die Pflanze wie das Thier beyträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darinn zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre. Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Thiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem Dienst erzog: hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirket. Europa war vormals ein feuchter Wald, und andre jetzt cultivierte Gegenden warens nicht minder: es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert. Ohne Policei und Kunst wäre Aegypten ein Schlamm des Nils worden: es ist ihm abgewonnen, und sowohl hier als im weitern Asien hinauf hat die lebendige Schöpfung sich dem künstlichen Klima bequemt. Wir können also das Menschengeschlecht als eine Schar kühner, obwohl kleiner Riesen betrachten, die allmälich von den Bergen herabstiegen, die Erde zu unterjochen und das Klima mit ihrer schwachen Faust zu verändern. Wie weit sie es darinn gebracht haben mögen, wird uns die Zukunft lehren.

4. Ists endlich erlaubt, über eine Sache, die so ganz auf einzelnen Fällen des Orts und der Geschichte ruht, etwas allgemeines zu sagen: so setze ich verändert einige Cautelen her, die Baco zu seiner Geschichte der Revolutionen giebt Die Wirkung des Klima erstreckt sich zwar auf Körper allerlei Art, vorzüglich aber auf die zärtern, die Feuchtigkeiten die Luft und den Aether. Sie verbreitet sich vielmehr auf die Massen der Dinge als auf die Individuen, doch auch auf diese durch jene. Sie geht nicht auf Zeitpunkte, sondern herrscht in Zeiträumen, wo sie oft spät und sodann vielleicht durch geringe Umstände offenbar wird. Endlich: Das Klima zwinget nicht, sondern es neigt; es giebt die unmerkliche Disposition, die man bei eingewurzelten Völkern im ganzen Gemälde der Sitten und Lebensweise zwar bemerken, aber sehr schwer, insonderheit abgetrennt, zeichnen kann. Vielleicht findet sich einmal ein eigner Reisender, der ohne Vorurtheile und Uebertreibungen für den Geist des Klima reist. Unsre Pflicht ist jetzt, vielmehr die lebendigen Kräfte zu bemerken, für die jedes Klima geschaffen ist und die schon durch ihr Daseyn es mannichfalt modificieren und ändern.

Quelle: Johann Gottfried von Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga und Leipzig, 1785, S. 93–104. Online verfügbar unter: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/105

Thomas Nutz, „Varietäten des Menschengeschlechts“: die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Köln: Böhlau Verlag, 2009.

Ute Planert, „Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte“, Aus Politik und Zeitgeschichte 39 (2004), S. 11–18.

Ute Planert, „Wann beginnt der ‚moderne‘ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit“, in Jörg Echternkamp und Sven Müller, Hrsg., Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, 1760–1960 (Studien zur Militärgeschichte, Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Bd. 56). München, 2002, S. 25–59.

Georg Schmidt, Hrsg., Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 80). München, 2010.

Johann Gottfried Herder, „Deutsche Völker“ (1784), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-296> [05.12.2024].