Wilhelm von Humboldt, „Vergleichende Anthropologie“ (1795)

Kurzbeschreibung

Wilhelm von Humboldt (1767–1835) war ein bedeutender deutscher Gelehrter und Staatsmann am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, der sich für eine sprachlich geeinte „deutsche Nation“ einsetzte. Seine „Vergleichende Anthropologie“ von 1795 zählt zu den klassischen Texten der Pädagogik. In seiner Wissenschaft vom Menschen geht Humboldt den anthropologischen Grundlagen des Menschen nach und arbeitet dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der „Gattung“ heraus. Zentrale Unterschiede macht er zwischen den Geschlechtern, zwischen Mann und Frau und zwischen „Völkern“ oder Nationen aus. Dabei stellt er sowohl Unterschiede in der körperlichen Beschaffenheit, der Anatomie, als auch im Charakter heraus. Zentral für eine deutsche Identität („Germanness“) sind für ihn die deutsche Sprache und ein deutscher Nationalcharakter.

Quelle

12. Plan einer vergleichenden Anthropologie.

1.
Wie man in der vergleichenden Anatomie die Beschaffenheit des menschlichen Körpers durch die Untersuchung des thierischen erläutert: ebenso kann man in einer vergleichenden Anthropologie die Eigenthümlichkeiten des moralischen Charakters der verschiedenen Menschengattungen neben einander aufstellen und vergleichend beurtheilen.

Geschichtsschreiber, Biographen, Reisebeschreiber, Dichter, Schriftsteller aller Art, selbst den speculativen Philosophen nicht ausgenommen, enthalten Data zu dieser Wissenschaft. Auf Reisen, wie zu Hause, im geschäftigen, wie im müssigen Leben bietet sich überall die Gelegenheit dar, sie zu bereichern und zu benutzen, und unter allen Studien ist kein anderes in so hohem Grade unser beständiger Begleiter, als das Studium des Menschen. Es kommt nur darauf an, den reichen Stoff, den das ganze Leben hergiebt, zu sammeln, zu sichten, zu ordnen und zu verarbeiten.

Diess zu thun ist die vergleichende Anthropologie bestimmt, welche, indem sie sich auf die allgemeine stützt, und den Gattungs-Charakter des Menschen als bekannt voraussetzt, nur seine individuellen Verschiedenheiten aufsucht, die bloss zufälligen und vorübergehenden von den wesentlichen und bleibenden absondert, die Beschaffenheit dieser erforscht, ihren Ursachen nachspürt, ihren Werth beurtheilt, die Art sie zu behandeln bestimmt, und den Fortgang ihrer Entwicklung vorhersagt.

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3. Unmittelbarer Einfluss einer individuellen Menschenkenntniss auf die Charaktereigenthümlichkeit.

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Ueberhaupt ist Verschiedenheit der Charakterformen, wenn sie auch sogar schädlich seyn sollte, dennoch einmal schlechterdings unvermeidlich, und die Frage ist bloss die, ob man dieselbe blindlings dem Zufall überlassen, oder durch vernünftige Leitung zur Eigenthümlichkeit umschaffen soll? Auf diese aber kann die Antwort unmöglich anders, als Eine seyn.

Die vergleichende Anthropologie sucht den Charakter ganzer Classen von Menschen auf, vorzüglich den der Nationen und der Zeiten. Diese Charaktere sind oft zufällig; sollen denn auch diese erhalten werden? soll der Philosoph, der Geschichtschreiber, der Dichter, der Mensch seinen Namen, seine Nation, sein Zeitalter, sein Individuum endlich sichtbar an sich tragen? – Allerdings, nur recht verstanden. Der Mensch soll alle Verhältnisse, in denen er sich befindet, auf sich einwirken lassen, den Einfluss keines einzigen zurückweisen, aber den Einfluss aller aus sich heraus und nach objectiven Principien bearbeiten. []

Der Charakter entsteht nicht anders, als durch das beständige Einwirken der Thätigkeit der Gedanken und Empfindungen. Dadurch dass diese gewisse Anlagen unaufhörlich, und andere niemals oder selten beschäftigen, werden die einen entwickelt und die andern unterdrückt, und so geht nach und nach die bestimmte Charakterform hervor. Durch diese durchgängige Correspondenz unsrer Art zu seyn und unsrer Art zu urtheilen, unsrer praktischen und unsrer theoretischen Beschaffenheit wird es uns möglich, bloss durch die Idee und von unserm Geiste aus thätig und praktisch auf uns einzuwirken. Man kann nichts durch den Verstand begreifen, was nicht auf irgend eine Weise in dem Gebiet der Sinne und der Empfindung angespielt ist; aber man kann auch nichts in sein Wesen aufnehmen, was nicht durch Begriffe einigermaassen vorbereitet ist. Man kann nicht einsehen, wofür man keinen Sinn hat, wozu der Stoff mangelt; aber man kann auch nichts seyn, wovon man gar keinen Begriff hat, wozu die Form fehlt.

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Vorzüglich aber bildet sich der Charakter gesellschaftlich zur Reinheit und Bestimmtheit aus, wenn er mit reinen und bestimmten Charakteren in Verbindung kommt. Es ist nicht die Aehnlichkeit allein, zu welcher sich einer dem andern anartet, es ist auch der Kontrast, in welchem sie sich einander entgegensetzen. Denn der moralischen, wie der physischen Organisation ist ein assimilirender Bildungstrieb eigen, der aber, sobald nur der eigne Charakter erst einige Bestimmtheit erlangt hat, nicht geradezu auf Aehnlichkeit, sondern auf eine verhältnissmässige Stellung der beiderseitigen Individualitäten gegen einander herausgeht. So wird der männliche Charakter reiner und männlicher, wenn ihm der weibliche gegenübergestellt ist, und umgekehrt. Uebrigens aber bemerkt man diese Eigenthümlichkeit freilich mehr bei einzelnen Individuen, als ganzen Gattungen. Vorzüglich wird sie noch bei Charakteren von Nationen vermisst, die im Verkehr unter einander noch immer mehr ihre Originalität entweder übertreiben, oder aufgeben, als zweckmässig bestimmen und bilden. Selbst die äussre Gesichtsbildung erfährt einigermaassen diesen Einfluss, wie z. B. die gewiss nicht chimärische Aehnlichkeit von verheiratheten Personen unter einander beweist.

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4. Zweck und Verfahren der vergleichenden Anthropologie im Allgemeinen. — Gefahr eines möglichen Misbrauchs.

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Der Mensch entwickelt sich nur nach Maassgabe der physischen Dinge, die ihn umgeben. Umstände und Ereignisse, die auf den ersten Anblick seinem Innern völlig heterogen sind, Klima, Boden, Lebensunterhalt, äussere Einrichtungen u. s. f. bringen in ihm neue, und oft die feinsten und höchsten moralischen Erscheinungen hervor. Durch ein physisches Mittel, durch Zeugung und Abstammung, wird die einmal erworbene moralische Natur übertragen und fortgepflanzt, und dadurch nehmen die intellectuellen und moralischen Fortschritte, die sonst vielleicht vorübergehend und wechselnd seyn würden, gewissermaassen an der Stätigkeit und der Dauer der Natur Theil. Die physische Beschaffenheit des Menschen spielt daher bei der Bildung seines Charakters eine in jeder Rücksicht bedeutende Rolle.

Noch deutlicher, als bei einzelnen Individuen, ist diess bei der Betrachtung des ganzen Menschgeschlechts. Grosse Massen, Stämme und Nationen, behalten Jahrhunderte hindurch einen gemeinsamen Charakter, und selbst, wo derselbe grosse Veränderungen erleidet, sind noch die Spuren seines Ursprungs sichtbar. Gleiche Ursachen bringen durch alle Zeiten hindurch gleiche Wirkungen hervor, und durchaus wird man daher im Ganzen ziemlich dieselben Resultate ähnlicher Kräfte finden, denselben Einfluss der äusseren Lagen, dasselbe Spiel der Leidenschaften, dieselbe Macht des Guten und Wahren, mit dem es aus dem verworrensten Gewebe von Begebenheiten und in den mannigfaltigsten Gestalten hervorgeht. Ueberall verrathen die Handlungen der Einzelnen eine eigenmächtige Willkühr der Neigung, indess die Schicksale der Masse das unverkennbare Gepräge der Natur an sich tragen. []

5. Methode. Ausdehnung und Grenzen. Eintheilung.

Die vergleichende Anthropologie ist nach dem Vorigen ein Zweig der philosophisch-praktischen Menschenkenntniss. Wie diese wird sie daher die Empirie, so wie die blosse Speculation vermeiden, und sich allein und durchaus auf Erfahrung stützen. Auch wird sie die Hauptregeln anerkennen, und befolgen, welche diese aufstellt. Sie wird demnach:

1. die Data zu ihren Charaktergemählden aus den Aeusserungen des ganzen Menschen zugleich aus seiner physischen, intellectuellen und moralischen Natur hernehmen, um sich des vollständigsten Stoffs zu versichern.

2. unter diesen vorzüglich auf diejenigen Züge achten, welche recht eigentlich den Charakter, und zwar denselben da, wo er individuell verschieden zu seyn pflegt, bezeichnen – auf das Verhältniss und die Bewegung der Kräfte.

3. immer nur auf die innere Beschaffenheit und Vollkommenheit, nie bloss oder auch nur hauptsächlich auf die Tauglichkeit zu äusseren Zwecken sehen.

4. den Charakter soviel als möglich genetisch schildern.

5. von den Thatsachen und Aeusserungen aus zu den allgemeinen Eigenschaften, und von da zum eigentlichen innern Wesen übergehen.

6. die zufälligen Eigenschaften von den wesentlichen genau absondern, und nach den verschiednen Graden ihrer Zufälligkeit ordnen.

7. den bisher mehr nach einzelnen Seiten betrachteten Charakter in die höchste Einheit zusammenziehn, aus dem vollständig gezeichneten Bilde den Begriff herausnehmen, – was dadurch am besten geschieht, dass man die Art, wie er zu den höchsten und ganz allgemeinen Zwecken des Menschen gelangt, auf einmal auszusprechen versucht.

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Der Mensch bedarf eines gewissen, nicht geringen Grades der Cultur, um eine individuelle Form zu erlangen. Seine erste Ausbildung ist durchaus nur in Massen, nur in rohen, noch durch wenige Züge bestimmten Formen. Dieser Grad der Cultur muss schon zu einer beträchtlichen Höhe gestiegen seyn, wenn der Charakter so verfeinert, und seine Form so bestimmt seyn soll, dass er auch nur einzelne Züge zeigt, welche eine Erweiterung des Begriffs der Menschheit in ihrer Vollendung erwarten lassen, noch mehr aber dass er als eine Bahn erscheine, in welcher der Mensch sich dieser Vollendung auf eine zweckmässige Weise nähern kann. Denn die ersten Eigenthümlichkeiten noch roherer Völker sind meistentheils entweder nur äussre, oder zufällige und unbedeutende, oder gar fehlerhafte Verschiedenheiten; auf diese folgen einzelne mehr oder weniger versprechende Züge; und erst die letzte Stufe ist es, wenn die Eigenthümlichkeit sich über alle Kräfte verbreitet, und einen durchaus individuellen Charakter zu bilden anfängt.

Selbst in unserm cultivirten Europa finden wir noch alle diese Stufen neben einander. Auf jener höchsten stehen unstreitig Franzosen, Engländer u. s. f.; Pohlen, Spanier und Portugiesen wohl nur auf der mittleren; und gewiss auf der untersten noch Russen und Türken. Wer möchte es unternehmen, von dieser letzteren einen individuell-idealischen Charakter aufzustellen, wer nur überhaupt nach Abzug der äussern oder zufälligen Verschiedenheiten, einen individuellen Charakter, der sich noch von dem allgemeiner menschlichen auf eine irgend für die Betrachtung dankbare Weise unterscheide?

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6. Quellen und Hülfsmittel. Noth wendige Geistesstimmung.

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Der Mensch, auch als Gattung betrachtet, ist offenbar ein Glied in der Kette der physischen Natur. Er artet, wie die übrigen Thiere, in Rassen aus, diese Rassen pflanzen ihre Eigenthümlichkeiten fort, und erzeugen mit einander halbschlächtige Blendlinge. Hier und in andern ähnlichen Fällen sind offenbar Naturwirkungen, die nicht zurückgewiesen werden können, nur benutzt und geleitet werden müssen. In dieser Rücksicht gehört der Mensch schlechterdings der Natur an. Er kann, wie sie, beobachtet werden, und was das eigentlich charakteristische Kennzeichen hiebei ist, es ist möglich, mit ihm zu experimentiren.

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Jede theoretische Bearbeitung eines Stoffs setzt eine Beurtheilung nach Gesetzen voraus, und nur insofern der menschliche Charakter einer solchen fähig ist, verstattet er eine wissenschaftliche Behandlung.

Die organische Natur des Menschen lässt allerdings Gesetze sehen, die regelmässig und unfehlbar eintreffen. So ist es z. B. ein allgemeines Naturgesetz, dass ein Theil der Individualität der Eltern auf die Kinder übergeht. Aber die verwickelte Oekonomie des menschlichen Körpers, seine noch unbegreiflichere Verbindung mit dem moralischen Charakter, und die grosse Schwierigkeit, mit dem Menschen zu experimentiren, macht, dass jene Gesetze noch immer so unvollkommen, und schwerlich je durchaus vollständig erkannt werden. So ist es in dem vorigen Beispiel nicht möglich zu bestimmten, was gerade, in welchem Grade, und unter welchen Umständen mehr oder minder durch die Zeugung forterbt. Selbst, was doch bei weitem einfacher ist, die physische und physiologische Eigenthümlichkeit eines Individuums als ein Ganzes zu kennen; giebt es noch nicht einmal eine allgemeine Formel oder Methode. Man beobachtet und kennt bloss einzelne Verschiedenheiten, aus denen sich wenig oder nichts schliessen lässt.

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Am wenigsten Gesetzmässigkeit zeigt ein bloss historisch behandelter Stoff. Alles Einzelne erscheint in demselben eben so regellos, als der Zufall und die Willkühr, die es hervorbringen. Dennoch kehren auch hier, sobald man nur grosse Massen auf einmal ins Auge fasst, gleiche Ereignisse in einer gewissen, obgleich weniger strengen und schwerer zu beobachtenden Regelmässigkeit zurück.

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In der That sehen wir, dass auf der einen Seite der Mensch sich Eigenschaften dergestalt anzueignen vermag, dass sie sich mit allem in ihm verbinden, in seine physische Beschaffenheit sogar übergehen, und von ihm aus sich auch auf andere fortpflanzen; dass er auf der andern, sobald sein Geist eine andere Wendung nimmt, aus der bisherigen Form heraustreten und sie mit einer andern verwechslen kann. Diese letztere Kraft zeigt sich manchmal in dem Kampf individueller Züge mit dem Charakter des Geschlechts, oder der Nation in einem bewundernswürdigen Grade. []

Quelle: Wilhelm von Humboldts Werke (= Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abteilung). Herausgegeben von Albert Leitzmann. Behr, Berlin 1903 (Band 1 = Schriften Band 1: 1785–1795), S. 377, 384–398. Online verfügbar unter: https://archive.org/details/gesammelteschrif01humbuoft

Thomas Nutz, „Varietäten des Menschengeschlechts“: die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Köln: Böhlau Verlag, 2009.

Ute Planert, „Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte“, Aus Politik und Zeitgeschichte 39 (2004), S. 11–18.

Ute Planert, „Wann beginnt der ‚moderne‘ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit“, in Jörg Echternkamp und Sven Müller, Hrsg., Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, 1760–1960 (Studien zur Militärgeschichte, Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Bd. 56). München, 2002, S. 25–59.

Georg Schmidt, Hrsg., Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 80). München, 2010.

Wilhelm von Humboldt, „Vergleichende Anthropologie“ (1795), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-297> [05.12.2024].