Friedrich Carl von Moser, „Der deutsche Nationalgeist“ (1767)

Kurzbeschreibung

Friedrich Carl von Moser (1723–1798) war Staatswissenschaftler, Politiker und sog. Reichspublizist. Er beteiligte sich an den Debatten um die Reformierbarkeit des Alten Reiches, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch unter Stichworten wie „Nationalgeist“ darum drehten, dem Reich, das keinen einheitlichen Ort mehr hatte, zumindest denkerisch noch eine einigermaßen kohärente Ordnung zu geben. In diesem 1767 veröffentlichten Text pries Moser das Reich und die Stände als politische Träger eines „deutschen“ Freiheits- und Gemeinsinns.

Quelle

Zweyter Brief

Von der würcklichen Existenz eines Deutschen National-Geists, dessen ursprünglichen characteristischen Zügen und Analogie mit dem Geist der Kirche und der Gesetze.

Mein Herr.

Ob es einen National-Geist gebe? Was er seye? Ob er unveränderlich seye? und dem Beweis, daß der Deutsche National-Geist noch eben derselbe seye, widmen Sie den größten Theil Ihrer Schrifft, mit so reicher Gelehrsamkeit umcränzt, mit so vil Blumen bestreut, zu solchem hohen Geschmack gewürzt, daß auch der, so lieber nicht Ihr Gast bey diesem Mahl gewesen seyn würde, Ihnen gleichwohl das Gratias nicht versagen kan. So mögen auch alle die ihr bescheiden Theil hinnehmen, welche in der sonderbaren Composition ihrer Schlüsse, Vergleichungen und Charakteristic zu Schimpf und Ernst nach der Reyhe vor Ihnen vorüber müssen. Bey etwas wenigerer geflissentlicher Zerstreuung würde aus dieser Carrikatur ein vortrefliches Gemählde entstanden seyn. Wir dürfen es noch von Ihnen erwarten.

So haben wir denn also, alle Ihre Beweise zusammen genommen, keinen National-Geist, oder etwa nur einen solchen, der gleich der Seele, worüber in unsern Tagen philosophische Versuche angestellet worden sind, das schwer begreifliche Mittelding von einem halb cörperlichen und halb seelischen Geist vorstellen solle.

Soll in dem National-Geist eine besondere von andern Völckerschaften uns unterscheidende Signatur verstanden werden, so wird man uns solche villeicht in dem Sinn beilegen können, wie Rom noch immer Rom ist, ohngeachtet das neue Capitolium auf den alten Fundamenten neue Facaden bekommen hat. Es haben so vile Völcker an unsern Genealogien und Stammbäumen Antheil, daß eine starke Legierung würde vorgehen müssen, um von denen mit Spaniern, Italiänern, Polaken, Franzosen, Portugiesen, Engelländern und Dänen vermählten vornehmsten Deutschen Häusern an bis auf das kleinste Dorf, worinn ein Französisches oder Englisches Haupt-Quartier eine Zeitlang gestanden hat, ursprüngliches Deutsches Blut wieder zu abstrahiren. Diß mögen die ausmachen, denen an der Stiftsmäßigkeit des Deutschen Nahmens mehr, als an der Redlichkeit unserer Gesinnungen gelegen ist.

Ich will gar nicht in Abrede seyn, daß eine so zu nennende chymisch-politische Untersuchung von dem Einfluß unserer Bekanntschaft und Vermischung mit andern Völkerschaften, von den Spuren der allmälig veränderten Denckungs- und Lebens-Art, welche wir theils selbst bey ihnen gehohlt, theils die vilerley europäischen Heere zu verschidenen Zeiten auf deutschem Boden zurück gelassen haben, ebenso sinnreiche und fruchtbare Betrachtungen über unsern National-Character überhaupt liefern würden, wie Montesquieu aus seiner Hypothese von dem Einfluß des Climats zu folgern gewußt hat: wer würde es nicht mit Vergnügen und Nuzen lesen? wie wärs, wenn Sie die in Ihrem Etwas zerstreute und verworfene Fäden in ein geordnetes Dessein zusammen zu fügen sich bemühten? aus keiner Hand würden wir es leicht so nett ge­zeichnet erhalten können.

Mein Gesichts-Punckt reicht so weit nicht, wenigstens nicht die Station, welche ich zu durchschreiten mir vorgenommen. Nehmen Sie mit dem vorlieb, was ich geben kan. Prüfen Sie, Sie sind der Mann, von dem man sich gerne prüfen läßt. Hier sind meine Gedancken.

In einer jeden politischen Verfassung, von welcher Mischung sie immer sey, muß Ein großer, Ein allgemeiner Gedanke da seyn, welcher das punctum saliens, die belebende Kraft der National-Gesinnungen ins Ganze ausmacht. Dieser Gedanke ist kein anderer, als der das wahre oder das geglaubte National-Intereße in sich faßt. Wenn dieser Gedancke über die Gesinnung eines ganzen Volcks sich verbreitet, wenn er sich dessen Ueberzeugung bemeistert, wenn er dessen politischer Glaube wird, so wird es der National-Geist, die Summa der edelsten, wichtigsten, die allgemeine Denckungs-Art eines Volcks durchsäurenden Bestand-Theile, ohne deren Daseyn oder durch deren Abscheidung ein Caput mortuum zurück bleiben würde.

Die Denckungs-Art eines Volcks – Wann man jede Nation, wenigstens in Europa, in die, so regieren und in andere, so gehorchen, in Herrn und in Unterthanen abtheilen muß, so darf man mit gleichem Recht bey jedem Volk den Unterschied fest stellen zwischen denen, die dencken, und denen, so nur glauben.

Mit dem politischen Glauben einer Staats-Verfassung, worinn die Gesezgebende Macht unter mehrere getheilt ist, geht es, wie mit dem Glauben in den Religionen. Das erste Concilium hat die reinesten und ächten Lehren der Stiffter, um sie vor den Mißdeutungen und Verfälschungen zu bewahren, in Haupt-Begriffe und Bekenntniße zusammengezogen, die Ueberzeugung von deren Richtigkeit hat den Beyfall derer erhalten, welche solche als die Vorschrifft ihrer eigenen Lehrart beobachten sollten, und die allgemeine Beystimmung hat ihnen endlich dasjenige Gesezmäßige Ansehen verschafft, daß, wer als ein Glied dieser Religion gehalten werden wollte, sich diesen Lehrsäzen zu bequemen hatte. Der Fortgang davon war ganz natürlich, daß, was von so vilen vorhin schon geprüft und bewährt erfunden worden war, auf deren Treu und Glauben als richtig angenommen und geglaubt und so gar für billig und nothwendig ermessen wurde, alle in einer solchen Gemeinschafft lebende, darein tretende oder darinn gebohrne bey ihrer feyerlichen Aufnahme mit der Bedingung zu verbinden, daß sie außer diesem Glauben und Bekenntniß nicht als Mitgenossen der kirchlichen Rechte und Vortheile geachtet würden.

Weil aber die eigene Prüfung damit nicht ausgeschlossen, sondern vilmehr vorausgesetzt und der offentliche und besondere Unterricht dazu angeordnet ist, so folget daraus: daß, wer sich dieses Unterrichts unterziehen will, solches in Gemäßheit der Vorschrift thue, welche, als allgemein richtig anerkannt, schon in der Mitte liegt; daß er dahero seine Zweifel und Bedenklichkeiten der Bedeutung und Zurechtweisung derjenigen subordinire, von welchen ihm das Recht zu leben zugeteilt worden; daß solche, wenn er sich nicht belehren lassen will oder nicht überzeugen lassen kann, ihn schweigen heißen, oder endlich aus der Gemeinschaft mit ihnen ganz ausschließen können.

Daß, wann mehrere die bißherige Glaubens-Regel zugleich angreiffen, oder der Anhang des Einen sich mercklich ausbreitet und Zerrüttung des Ganzen daraus zu besorgen, auch wohl würklich schon entstanden ist, solches eine zusammengesezte Wahrnehmung mehrerer erfordere, wodurch in einzelnen Landen die Synoden und Provinzial-Conzeilien entstanden sind.

Irren diese gleichfalls oder zerfallen unter einander, so veranlaßt es Haupt-Zusammenkünfte oder Conzeilien der ganzen Religions-Parthie oder Kirche.

Können sich auch diese nicht vereinigen, so geht es mehrentheils auf offenbare, mehr oder minder große Trennungen los und das Universum tritt hernach gleichsam an die Stelle seiner Bevollmächtigten und Repräsentanten, das Gleichgewicht oder das Uebergewicht des Beyfalls entscheidet alsdann vor den siegenden Theil oder beede streitenden Theile behaupten ihren Wahl-Plaz zugleich, ohne daß einer den andern ganz zu verdringen vermag.

Die Worthalter und Gesetzgeber des Ganzen stehen unter sich in gleichem Verhältniß. Wann einer oder etliche derselben die allgemeine Verfassung angreifen und umstoßen wollten, haben die an­dere dagegen zu stehen.

Weil alles dieses in ein unendliches Detail von Besorgungen, Aufsicht, Wahrnehmungen etc. läuft, so ist unvermeidlich, daß solche unter mehrere, nach verschiedenen Verhältnissen der Einsicht und Gewalt vertheilt werden müssen.

Diese Eintracht der Gesinnungen zu Einem gemeinschaftlichen Zweck, diese Sorgfalt um die Aufrechterhaltung der Grund-Regeln der Lehre, diese Harmonie der Bemühungen heißt und ist der Geist der Kirche.[1]

Trifft es aber auf getheilte Gesinnungen in derselben oder in einer politischen Verfassung, so artet es in den Geist der Parthie aus. Nach dieser Aehnlichkeit habe ich die Gesinnungen, welche den Häuptern und Vätern unsers Vaterlands, allen ihren Gehülfen, Rathgebern und Dienern, allen Patrioten und ächten Söhnen Germaniens eigen seyn sollten, in Absicht auf unsere allgemeine Staats-Verfassung, den Deutschen National-Geist genannt.

Jene Säze liegen zwar schon in den ersten Grund-Zügen aller großen Societäten, welche Ordnung und Dauer haben sollen, die Betrachtung unserer besondern Deutschen Verfassung wird aber ergeben, daß selbige von ihren ersten Anfängen auf diese Principien sich gegründet und solche unter allen Revolutionen und Abwechslungen sich noch immer so erhalten, wie in einem Religions-System, bey noch so tiefem Verfall in Lehre und Leben, sich gewisse Fundamental-Wahrheiten immer noch durchringen, sich immer noch Zeugen finden, die vor dieselbe wachen und streiten, sie wieder ans Licht zu bringen und in ihre erste Lauterkeit wieder herzustellen bemühet sind.

Freiheyt! ware von den ältesten Zeiten unserer vaterländischen Geschichte an immer das große Wort, so in der Mitte des Volcks lag, die allgemeine Loosung der ganzen Nation.

Die Bestimmung derselben in ihren mannigfaltigen Verhältnissen zwischen einem Deutschen Volck gegen das andere, die Abwiegung der Rechte der Könige mit den Freyheits-Rechten und Pflichten des Volcks, das Gleichgewicht zwischen der Gewalt des Reichs-Oberhaupts und der Landesherrn, die Gränzen der wechselweisen Gerechtsame von diesen und den Ständen und Unterthanen der einzeln Lande waren die Quelle so viler Kriege, die Ursache so viler, nach den abwechselnden Zeitläuften und Bedürfnissen, abgemessenen Gesetze, die Veranlassung der großen und kleineren Reichs-Gerichte; die Beschützung und Verteidigung der Freyheit war der erste Grund zu den Würden und Besitzungen der mehresten höhern Reichsstände und die Erhaltung der Freyheit war von allen Zeiten und ist noch vom Kayser an bis auf den lezten denckenden Deutschen Mann ein National-Gedancke.

Kein Reichs-Stand hat sichs noch ermächtigt, seinen Mit-Ständen auf den Kopf hin zu sagen: daß es auf ihre Unterjochung angesehen, daß es mit ihrer Freyheit zu Ende sey; kein Kayser, wann er auch in dem Geist und auf den Wegen eines Conqueranten wandelte, hat sich dieses zu sagen herausgenommen; selbst in der Wuth der drey heftigsten Kriege, die seit 200 Jahren Deutschland betroffen haben, hat kein Theil selbst diese Sprache geführt, noch weniger ähnliche Beschuldigungen des andern auf sich kommen lassen wollen.

Nimmt man dieses vor wahr an, wie es nach dem Zeugniß der Reichs-Geschichte wahr ist, bezeichnet man diese allgemeine und fortwürkende Gesinnung, dieses anhaltende Bestreben vor die Erhaltung der Freyheit mit dem Nahmen des National-Geistes, so umfaßt solches zugleich alle die verschiedenen Stuffen, so zusammen genommen die Deutsche Freyheit überhaupt ausmachen, in ihrer Entstehungsart, in ihrer Begründung, Verbesserung, geraden oder abweichenden Richtung und der ganzen Beschaffenheit, wie sie würklich ist und wie sie seyn soll und kan.

Das Gesetz ist es also nicht, das unsern National-Geist erschaffen hat, sondern aus dem National-Geist ist das Gesetz erst entstanden.

Wir können auch auf uns deuten, was Paulus sagt: das Gesetz richtet nur Zorn an; weil wir einen Begriff mit diesem Wort zu verbinden pflegen, der sich mehr vor die Befehle eines unumschränkten Monarchen, als auf die Entstehungs-Art unserer Freyheits-Briefe schicken würde.

Was wir in dem vollkommensten und vorzüglichsten Sinn Reichs-Gesetze nennen, sind nichts anders als National-Verträge, welche theils das Oberhaupt des Reichs mit allen oder den vor­nehmsten Ständen des Reichs, als Gewalthabern der ganzen Deutschen Nation, geschlossen, theils die von und mit auswärtigen vor die Deutsche Freyheit sich intereßierenden Mächten zum Besten des Reichs eingegangen und von denen das gesamte Reich repräsentirenden Ständen genehmigt worden.

So geht es durch alle Grade und Classen des gemeinen Deutschen Wesens schlechterdings hindurch.

Der Kayser wird mit der Bedingung erwählt und als allgemeines Haupt und Richter anerkannt, um alles das zu halten, was er in seiner Capitulation vor den Schutz der allgemeinen Deutschen Freyheit und Rechte dessen Ständen und Gliedern gelobet hat. Indem er sich dazu verstanden, ist es Ihm ein Gesetz; da er aber nichts von allem dem, was er versprochen, würde halten können, wenn er durch Gehorsam gegen seine Gebote und deren Befolgungen dazu nicht immer in Stand gesetzt würde, so kan sich der Kayser auf seine Capitulation so gut gegen die Stände berufen, als die Stände, ja der geringste Reichs-Unterthan, gegen ihn.

Daß keine Provinz Deutschlands die andere, kein mächtiger den schwächern Nachbar überziehe und unterdrücke, daß man sich an gleich und Recht des Richterlichen Ausspruchs begnügen lassen wolle, verordnet der Landfriede; und ist dieser ewige Friedens-Bund nicht mit Berathschlagung samtlicher auf dem Wormser Reichstag versammelt gewesener Reichs-Stände und nach den eigenen Entwürfen der drey Reichs-Collegien geschlossen worden? []

Anmerkungen

[1] Als ich im Begriff war, dieses dem Druck zu übergeben, hatte ich Gelegenheit, einem nach seiner tiefen Kenntniß der Deutschen Geschichte und wahren Vaterlands-Liebe gleich Hochachtungswürdigen und Verdienstvollen Mann diesen Gedancken von der Aehnlichkeit des politischen National-Geists mit dem Geist der Kirche vorzulegen. Er fande die Vergleichung sehr bedencklich; ich habe sie zu wiederholten mahlen nochmals überlegt und finde selbst, daß Mißdeutungen dabey stattfinden können; da ich aber meine ganze Idee durch keine andere analogische Vorstellung so deutlich, als durch diese machen kan, so habe ich sie lieber mit Gefahr beybehalten, als mit eben so viler Gefahr unverständlich bleiben wollen. Ich protestire aber dabey gegen allen politischen Gewissens- Zwang und doch weiß ich auch von keiner andern Deutschen Freyheit zu dencken, als wobey Verstand und Wille den Gesezen ehrerbietig untergeordnet ist.

Quelle: Friedrich Carl von Moser, Patriotische Briefe. o.O., 1767, S. 20–38. Online verfügbar unter: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10015403

Thomas Nutz, „Varietäten des Menschengeschlechts“: die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Köln: Böhlau Verlag, 2009.

Ute Planert, „Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte“, Aus Politik und Zeitgeschichte 39 (2004), S. 11–18.

Ute Planert, „Wann beginnt der ‚moderne‘ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit“, in Jörg Echternkamp und Sven Müller, Hrsg., Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, 1760–1960 (Studien zur Militärgeschichte, Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Bd. 56), München 2002, S. 25–59.

Georg Schmidt, Hrsg., Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 80), München 2010.

Friedrich Carl von Moser, „Der deutsche Nationalgeist“ (1767), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-298> [24.10.2024].