Deutsch-jüdische Traditionen: Auch eine mystische Geschichte (1898)

Kurzbeschreibung

Es gehörte zu den geläufigen antisemitischen Topoi im Kaiserreich, das Judentum als „Verstandesreligion“ abzuwerten. Deshalb gründeten einige deutsch-jüdische Intellektuelle 1898 die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde“, um die mystischen Traditionen im Judentum zu erforschen. Sie sammelten Geschichten über polnische jüdische Mystiker oder kaukasische Bergjuden, um der Verherrlichung des Bauern in der dominanten politischen Kultur entsprechende jüdische Figuren an die Seite zu stellen. Zugleich betonten sie die Ähnlichkeit zu bekannten deutschen Märchen. Auf den zeitgenössisch ebenfalls wichtigen Heimatbegriff übertragen hieß das auch, dass sie einen gleichsam transnationalen Heimatbegriff vermittelten. Deutsch-jüdische Identität führte somit vor, dass Deutschsein auch darin bestehen könnte, verschiedene kulturelle Traditionen zu vermitteln.

Quelle

Märchen und Sagen der deutschen Juden.

Es wird dem Menschen von heimathswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet: wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er die Grenze des Vaterlands überschreitet, wo ihn jener verlässt. Diese wohlthätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte. — Grimm, Deutsche Sagen, Vorr. V.

Was für den Astronomen die Sternwarte, ist für den Völkerpsychologen die Kinderstube. Hier am Himmel des Kindergemütes erkennt der geschärfte Blick leicht die Bahnen, die des Volkes Geschick beschreibt. Hier lassen sich für seine Zukunft mit grosser Wahrscheinlichkeit kulturgeschichtliche Konstellationen berechnen. Ja, noch mehr! Wie sonst nirgends nähert sich hier die Völkerpsychologie dem Ideal aller Seelenkunde: der experimentellen Forschung. Denn das Mittel, das ihr hier zur Verfügung steht, heisst Erziehung.

Dies frühzeitig erkannt und für seinen Zweck fruchtbar gemacht zu haben, ist ein Ruhmestitel des Judentums. „Unterweisen sollt ihr eure Kinder! Erzählen sollst du deinem Kinde!“ So lauten die Leitmotive der Lehre Israels. Unterweisung durch Unterhaltung, Erziehen durch Erzählen, das ist die beispiellose Kunst der heiligen Geschichte. Und hierin das Muster aller Volkserziehung zu bewundern, war man lange vor Lessing bereits in jüdischen Kreisen gewohnt.

Doch blieb man nicht bei der Bewunderung stehen. Man lernte nicht allein diese Geschichte, man lernte auch von ihr. Die erziehliche Macht des lebendigen Beispiels, welche in den Idealgestalten der Urvätergeschichte all’ ihre Zauberkraft spielen liess und die alten wie die jungen Herzen zu bannen wusste, begnügte man sich nicht feierlich anzuerkennen, in dem man die teuren Namen einschloss in den Segenswunsch für die Zukunft des Kindes. Man bahnte auch diesen Worten den Weg zum Kindesherzen. Mehr als lebendig, wo möglich lebend wollte man diese Beispiele vor Augen führen. Jedes neue Geschlecht suchte seine Sonderart zu leben und zu denken auf diese Modelle zuzuschneiden. Und waren auch unter solchem Auftrag die Züge des Urbilds mitunter kaum noch zu erkennen, man hatte jedenfalls allgemein menschliche Typen geschaffen, sie dem Herzen erhalten. Was schadet’s Raffaels oder Rembrandts Bibelbildern, dass sie in Beiwerk und Gewandung nicht historisch sind? Und was hindert die Modernsten, an den Weg nach Emmaus die nordische Eiche zu pflanzen?

Was vom Beispiel, gilt noch mehr vom Worte. Aus persönlicher Erfahrung, aus dem geschichtlichen und Naturleben gewann man dem Schriftwort Stützen und Belege. In immer neuem Geiste und immer wechselnden, oft seltsamen Formen versuchte sich jüdische Erziehungskunst daran, seinen Sinn zu vertiefen, seine Anwendung zu erweitern. Wie Qoheleth den ethischen Niederschlag einer ganzen Kulturepoche und zugleich die Summe eines reichen Menschenlebens, so geben uns die „Kernsprüche der Väter“, späterhin ihre „Testamente“, den Kern, das Bleibende in der Lebenserfahrung sowohl wie in den Zeiterlebnissen „der Weisen.“ Die Axen aber, um die sich diese Kristalle schliessen, sind, mehr oder minder deutlich erkennbar, Gedanken und Worte des Buches der Bücher; ihr Bildungsgesetz der Geist „des Gesetzes.“ So wird die Volksgeschichte zu einer Perlenschnur höchster sittlicher Erkenntnisse, die alle den Faden, der sich am Sinai entsponnen, durchschimmern lassen.

Denn wie den Gestalten und Worten der Bibel, so erging es den Helden und Lehren des späteren jüdischen Schrifttums. Bei aller Nüchternheit, die eher zu Anthropomorphismen als zur Apotheose neigte, wusste doch die ras[t]los und unerschöpflich schaffende Sage ihre Lieblinge in einen Nimbus literarischer Unsterblichkeit zu weben. Hand in Hand gingen Märchen, Fabel und Geschichte, um Gesetz und Brauch auf psychologischen Unterbau zu stützen. Das Maschal, das altbiblische Gleichnis, wurde hervorgeholt, zumal wo die Umgebung Muster lieferte. Die Ma'asse, das geschichtliche Ereignis, wurde zur Zeugenschaft aufgerufen. Hier liegen die Anfänge der jüdischen Geschichtsschreibung, wobei freilich noch oft genug Sage zur Geschichte, wie Geschichte zur Sage wird.

An Lust und Anregung zum Erzählen konnte es nicht fehlen da, wo dem Gebote: „Erzählen sollst du deinem Kinde!“ die Mahnung entgegenkam: „Frage deinen Vater, dass er dir erzähle!“ Und um Stoff war man nicht verlegen. Persien und Rom, Hellas und Arabien, Deutschland und Aegypten, Spanien und Polen, die Judengasse und das naturwüchsige Dorfleben, sie lagen ja dem jüdischen Streben nach Brot und Lehre nicht weit genug auseinander, um sie nicht alle mit geistigem Bande umfassen zu können. Wer als Kaufmann oder fahrender Schüler fast beständig unterwegs war, wer anderen Völkern fremde Geistesschätze, und ganz besonders ferne Märchenwelten, erschliessen konnte, wer an der Volksdichtung der Zeitgenossen regen, thätigen Anteil nahm, der hatte wohl auch zu Haus den Seinen etwas zu erzählen, der wusste wohl auch hier in der Kinderstube Orient und Occident, die alte und die neue Heimat zu verschmelzen, der besass wohl auch Sinn für die alte Sanges- und Sagenwelt der Väter.

Auch hier bewährte sich wieder der alte Grundsatz jüdischer Erziehung. Das Erzählen war dem Vater ja nicht nur Vergnügen, nicht blosse Lust am Fabuliren. „Erzählen sollst du!“, das war ein Gebot, ein Gebot Gottes. So hatte er denn wohl darauf zu achten, ob auch, was er dem Kinde erzählte, der heiligen Aufgabe entsprach, die er als erste Vaterpflicht betrachten musste: der Erziehung zum Gottesdienste.

Nicht zu leinen aus dem Buche von Kühen
Und von Dieterich von Bern und Meister Hildebrand sollt ihr auch
nicht euch thun mühen.
Nun es sein wärlich eitel Schmitz,
Sie geben euch nicht noch Wärm noch Hitz.
Auch sein sie nicht gütlich darbei,
Ihr bedarft wohl, dass euch Gott verzeih.
Unsere Soferim schreiben, es ist ein Sünd as ein Haus,
Zu leinen an den heiligen Schabboth daraus.
Wollet ihr aber euer Zeit mit Leinen vertreiben,
Aso will ich ein schön Ma‘assebuch schreiben.

In dieser Absicht geht der Verfasser des Ma‘assebuches an die Arbeit, und mit ihm viele Gleichstrebende. Die Quellen, aus denen sie schöpften, waren die wiederholt zusammengestellten Märchen und Legenden in Talmud und Midrasch, das Sefer ha-qabbala, die Mussarbücher, die kabbalistischen Schriften und vor allem die mündliche Ueberlieferung. Da diese meist an bestimmte örtliche und zeitliche Verhältnisse anknüpfen und bestimmte Personen zu Trägern der Handlung machen, lässt sich hier schwerer als sonst zwischen Märchen und Sage scheiden.

Der Ton der Erzählung ist durchaus volkstümlich, die Form die bekannte Märchenart: zunächst die Frage „woher kommt das Sprichwort usw.?“. „weshalb führt diese Stadt diesen Namen?“ und dann die Antwort mit einem „es war einmal“, „Ma‘asse von einem, der usw.“ Den Schluss bildet die mitunter gereimte Moral der Geschichte, oft in einem Schriftvers wiedergegeben. Die Sprache ist die bei den damaligen deutschen Juden gebräuchliche mittelhochdeutsche, Reminiscenzen aus dem jüdischen Leben und Schrifttum sind im hebräischen Original beibehalten. Die Zeit ihrer Entstehung lässt sich bei den meisten Erzählungen, soweit nicht geschichtliche Vorgänge zu grunde liegen, ebensowenig mit Sicherheit bestimmen, wie bei den deutschen Sagen und Märchen, denen sie nachgebildet oder als beachtenswerte Ergänzungen an die Seite zu stellen sind.

So erkennt man auf den ersten Blick in (N. 2) „den drei Waffenschmieden“ zu W o r m s die Brüder Gunther, Gernot, Giselher, in der vom Drachen befreiten Königin Brunhilde wieder. Der wackere Volker von Alzey findet sein Ebenbild in dem „getreuen Lautenschläger" (N. 9). Auch der Geiger in „Frau Holle“ begegnet uns da.

An Gudruns Treue und Horants List wie an den „getreuen Johannes“ erinnert N. 3. „Der grünende Stab“ (N. 5) ist uns aus dem Tannhäuser und dem Märchen „Die drei grünen Zweige" bekannt. Das „goldene Frauenhaar“, welches eine Schwalbe dem Könige zuwirft, giebt den Anlass zu Tristans Fahrt wie zu Chaninas Abenteuern (N. 4), in denen, wie im „Fernand getrü“ die Treue der „dankbaren Tiere“ den Boten zum Ziele führt.

In den weiten Kreis der Faust- und verwandten Sagen, welche besonders nachhaltig auf die jüdische Phantasie eingewirkt haben, gehören N. 6, 7, 18 u. a. So zeigt fast eine jede der hier wiedergegebenen Erzählungen, wenn auch bunt durch einander, wie im Kaleidoskop, Beziehungen zur deutschen Volksdichtung.

Jedenfalls gewinnen wir so einen Einblick in die altjüdische Kinderstube und den Erziehungsplan des deutschen Ghettojuden.

Quelle: „Märchen und Sagen der deutschen Juden,“ in Mitteilungen der Gesellschaft für Jüdische Volkskunde, unter Mitwirkung von hervorragenden Gelehrten, herausgegeben von Max Grunwald, Bd. 2 (1898), S. 1-4. Online verfügbar unter: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2643138

Deutsch-jüdische Traditionen: Auch eine mystische Geschichte (1898), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-320> [05.12.2023].