Karl-Eduard von Schnitzler, „Der schwarze Kanal“ (1985)

Kurzbeschreibung

Karl-Eduard von Schnitzler (1918–2001) war Chefkommentator des DDR-Fernsehens (Deutscher Fernsehfunk) und leitete eine der bekanntesten Fernsehsendungen, den sog. „Schwarzen Kanal“. Sie lief wöchentlich von 1960 bis zum 30. Oktober 1989. Jeweils zwanzig Minuten lang kommentierte Schnitzler Ausschnitte aus dem sogenannten Westfernsehen. In der DDR galt „ein Schnitz“ als die Zeiteinheit, die man brauche, auf einen anderen Sender umzuschalten, sobald der Name angekündigt wurde.

Das folgende Foto zeigt Karl-Eduard von Schnitzler im Jahr 1985, dem Jahr, in dem sowohl die DDR als auch die BRD dem 8. Mai, dem vierzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, gedachten. Am 2. Februar 1985, vier Monate vor dem Jahrestag, moderierte Schnitzler eine Folge von „Der schwarze Kanal“ mit dem Titel „Trauer- oder Feiertag?“ Eine teilweise Transkription der Sendung findet sich unten. Ein Link zu einem Ausschnitt der Sendung ist unter „weiterführende Inhalte“ enthalten, ebenso wie ein Link zu einem Faksimile des gesamten Transkripts.

Die Sendung folgte dem typischen Format mit Ausschnitten aus dem Westfernsehen (in diesem Fall Aufnahmen aus der Sendung „Bild und Ton: BRD-Fernsehen“), die mit Schnitzlers scharfem kritischen Kommentar durchsetzt waren. Obwohl Schnitzler klarstellte, dass der ehemalige westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer keineswegs ein Nationalsozialist war, kritisierte er Adenauer dafür, dass er so viele ehemalige Nazis in Kabinetts- und andere Machtpositionen in der frühen Bundesrepublik berufen hatte und damit ein beunruhigendes Maß an Kontinuität zwischen den nationalsozialistischen und den westdeutschen Nachkriegseliten sicherstellte. Er fuhr fort, dass die DDR erfolgreicher als die BRD darin gewesen sei, eine der lang verschwiegenen Ursachen des Krieges zu identifizieren und zu bekämpfen: die Rüstungsindustrie und andere Profiteure.

Quelle

Transkription – „Trauer- oder Feiertag?“ („Der schwarze Kanal“ am 4. Febraur 1985)

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Bild und Ton: BRD-Fernsehen: „Im Bonn der Politik natürlich auch Denkmäler für Politiker. In unmittelbarer Nähe des Kanzleramtes Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler dieser Republik.“

Schnitzler: Damit es kein Missverständnis gibt, meine Zuschauer: ohne Zweifel war Konrad Adenauer natürlich kein Nazi. Er hat zwar von ihnen seine Pension weiterbezogen; von einer kurzen Haft abgesehen, konnte er unangefochten in Rhöndorf leben—mit dem herrlichen Blick auf das Rheintal zu Füßen des Siebengebirges und hinüber, über die Godesburg hinweg bis auf die Eifel (anderen waren solche Ausblicke durch Gitter und Stahltüren verschlossen); aber Nazi war der erste Kanzler nicht. Was mag ihn getrieben haben, sich den Dr. Hans Maria Globke zum wichtigsten Staatssekretär zu nehmen und zu seinem Vertrauten zu machen, zum einflussreichsten Mann im Staat? Globke, der im preußischen Innenministerium an den Nürnberger Rassegesetzen gebastelt, sie kommentiert und den denunzierenden Judenstern erfunden hat? Dieser Mann gestaltete den Bonner Staat. Da konnten Hitlers Generale die Bundeswehr aufbauen und führen; Hitlers Richter sprachen wiederum „Recht“ (oder was sie dafür hielten); überführte Verbrecher gegen die Menschlichkeit wurden im halben Dutzend gleich Bundesminister; Beamte des Reichsinnenministers Heinrich Himmler wurden Bonner Staatsbeamte; Hitler-Lehrer unterrichteten Kinder in der Schule und Goebbels-Journalisten bildeten Meinung. Nein, für sie und ähnliche war jener 8. Mai natürlich der „Tag der Kapitulation“. Sie hatten ja verloren, sie haben also Grund zur Trauer.

Aber mittlerweile sind vierzig Jahre vergangen. Wie denken nun solche, die damals noch Kinder oder Jugendliche waren, unbelastet, politisch unschuldig?

Bild und Ton: BRD-Fernsehen: Interview mit Helmut Kohl

Kohl: [ . . . ] Zunächst einmal muss man ja die Frage beantworten: warum gerade der vierzigste Jahrestag? Es ist ja eine erstaunliche Frage, die immer wieder kommt. Ich glaube es ist ganz wichtig, wenn wir eine Sekunde dabei verharren. Das ist eben der Unterschied zum zwanzigsten Jahrestag, das war ‘65 und da lebten vier Fünftel der damals Lebenden noch in der wachen Erinnerung, eigenen persönlichen Erinnerung an den Zusammenbruch, an die Nazi-Barbarei, an den Krieg und das ganze Elend. Heute sind es eben zwei Drittel, die überhaupt keine persönliche Erfahrung mehr haben. Ich glaube zunächst einmal, also ein Feiertag ist das überhaupt nicht.

[ . . . ] Erste Feststellung: Adolf Hitler hat den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Er hat mit seinem Regime Schreckliches im deutschen Namen über die Menschen gebracht. Auschwitz, Treblinka und Dachau und alles, was dazu führt steht für das Leiden und das Elend von Millionen Menschen, und das ist nicht aus unserer Geschichte wegzuwischen. Wir sind die Hauptverantwortlichen, darüber gibt es ... wir als Deutsche, als deutsches Volk und müssen die volle Last der Geschichte tragen für den Zweiten Weltkrieg.

Wahr ist aber auch, dass dieser Zweite Weltkrieg beispielsweise in der Form unter anderem so abgelaufen ist, dass Hitler und Stalin einen Pakt abgeschlossen haben. Wahr ist auch, dass Polen nach dem Überfall durch die Deutschen auch von den Russen okkupiert wurde, Teile von Polen von der Sowjetunion okkupiert wurde.

Filmausschnitt (aus der BRD)

Hitlers Nachfolger Großadmiral Dönitz war ohne jede Machtbasis. Das Sagen hatten die Alliierten. Die ließen ihn dann einfach verhaften.

Schnitzler: Meine Zuschauer, alles, was hier eben gesagt worden ist, entspricht bundesdeutscher Schulweisheit und dortigen Geschichtsdarstellungen. Historisch—von Hitlers Verbrechen abgesehen—historisch ist nichts davon haltbar.

Der Großadmiral Dönitz zum Beispiel, den Hitler vor seinem Selbstmord zu seinem Nachfolger als Führer und Reichskanzler ernannt hatte, war nicht von den Alliierten einfach verhaftet worden: Er hatte unter britischem Schutz in Flensburg eine „Reichsregierung“ bilden dürfen – ohne Hitler, aber mit einigen Nazi-Ministern sogar – und erst nachhaltige sowjetische Warnungen und Forderungen haben dem Flensburger Spuk ein Ende gemacht.

Und der so genannte „Hitler-Stalin-Pakt“? Es war ein Nichtangriffspakt, der Sowjetunion von Deutschland angeboten—nicht mehr. Ein Nichtangriffspakt, wie Polen 1934 einen mit Deutschland geschlossen hat und England und Frankreich 1938 ihn geschlossen haben. Der Zweite Weltkrieg ist nicht wegen dieses Paktes ausgebrochen, sondern weil die Westmächte sich beharrlich geweigert hatten, mit der Sowjetunion ein ehrliches Bündnis gegen den Bedroher Europas abzuschließen.

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Und was die Kriegsschuld angeht: Wollte unser Volk Krieg? Ganz gewiß nicht. Wir tragen Verantwortung dafür, daß sich so viele für Hitler, für Herrenmenschentum und „Drang nach dem Osten“ manipulieren ließen. Aber wer hat manipuliert, wer ließ manipulieren? Die Rüstungsprofite und Kriegsprofite wollten „Lebensraum“, das heißt fremde Länder, fremde Reichtümer, fremde Rohstoffe, fremde Märkte. Über diese wahren Schuldigen wird nicht gesprochen im Zusammenhang mit dem 8. Mai. Nichts darüber, dass der Feind seit je im eigenen Lande stand! Und die ihn immer erkannt und bekämpft—und heute die Macht haben in einem eigenen Staat, im ersten deutschen Friedensstaat?

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Transkription: Insa Kummer

Quelle: Karl-Eduard von Schnitzler, „Der schwarze Kanal,“ undatiertes Foto von 1985. Foto: Klaus Winkler

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Original-Aufnahme der DDR-Fernsehsendung „Der schwarze Kanal“, mit Karl-Eduard von Schnitzler. Thema: der 8. Mai. Ausstrahlung 4. Februar 1985, https://www.youtube.com/watch?v=GGSsAmLi__s (letzter Zugriff: 7. Juli 2021)

Transkript, „Der schwarze Kanal“ am 4. Febraur 1985, „Trauer- oder Feiertag?“, online verfügbar über das Deutsche Rundfunkarchiv unter: http://sk.dra.de/kanal_pdf/E028-00-06_0004056.pdf (letzter Zugriff: 7. Juli 2021)

Mary Fulbrook, A History of Germany: The Divided Nation. Chichester, UK: Wiley-Blackwell, 2015. 

Karl-Eduard von Schnitzler, „Der schwarze Kanal“ (1985), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:image-91> [07.12.2024].