Wolfgang Schäuble, „Muslime in Deutschland“ (27. September 2006)

Kurzbeschreibung

Das erste Plenum der Deutschen Islamkonferenz, einberufen durch Wolfgang Schäuble, fand am 27. September 2006 im Schloss Charlottenburg (Berlin) statt. Wolfgang Schäuble (geb. 1942) ist Mitglied der CDU und war von 1989 bis 1991 sowie von 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern. Von 2009 bis 2017 bekleidete er das Amt des Bundesfinanzministers. Im Oktober 2017 wurde Schäuble zum Präsidenten des Deutschen Bundestags gewählt.

Quelle

Im Schloß Charlottenburg wird an diesem Mittwoch die erste Deutsche Islamkonferenz eröffnet. Wer einen Blick in den Ehrenhof dieses Schlosses wirft, bekommt einen Vorgeschmack des Themas, das diese Konferenz beschäftigen wird. Das Verhältnis von Staat und Religion.

Im Hof befindet sich ein Reiterbild des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. (1620 bis 1688). Die politischen Herausforderungen, denen sich Preußen im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert gegenübersah, waren andere als heute, aber der Große Kurfürst hat in seiner Zeit richtungweisende Entscheidungen getroffen, wie der Staat und die in ihm lebenden religiösen Gruppen ein möglichst gutes Verhältnis entwickeln können.

Das Schloß Charlottenburg entstand ausgangs des 17. Jahrhunderts, in einer Epoche also, die gezeichnet war von den Kriegen Europas mit dem Osmanischen Reich, aber auch von Konfessionskonflikten in und zwischen den Mächten Zentraleuropas. Damals verschrieb sich Preußen schon früh einer Politik religiöser Toleranz, die auf dem Kontinent ihresgleichen suchte: Toleranz nicht nur gegenüber allen christlichen Konfessionen, sondern auch gegenüber Juden und Muslimen. So wurden etwa dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. zwanzig türkische Soldaten zur Verfügung gestellt. Der König ließ für sie in Potsdam einen Saal in der Nähe der neuen Soldatenkirche (Garnisonkirche) als Betsaal herrichten. Und als im Jahr 1740 Friedrich dem Großen eine Anfrage vorgelegt wurde, ob in einer evangelischen Stadt ein Katholik das Bürgerrecht erwerben dürfe, schrieb er: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind; und wenn die Türken (und Heiden) kämen und wollten das Land bevölkern, dann wollen wir ihnen Moscheen (und Kirchen) bauen.“ Der Große Kurfürst wie auch Friedrich der Große wußten als Realpolitiker sehr genau, was sie wem warum gewährten. Preußen billigte all jenen aus politischen und nicht etwa aus religiösen Gründen Toleranz zu, die bereit waren, sich aktiv und produktiv am Aufbau des Landes zu beteiligen und dessen Gesetze zu akzeptieren. Freilich verlief der Kontakt Europas mit dem Islam über Jahrhunderte ambivalent: Auf der einen Seite kam es zu einer geistigen, kulturellen, sozialen Befruchtung und Inspiration, auf der anderen Seite gab es aber immer auch Konflikte, oft genug gewaltsame. Die Muslime waren einerseits Mitbegründer der geistigen Grundlagen des mittelalterlichen Europa, da sie nicht nur die Quellen des griechischen Denkens retteten und verbreiteten, sondern auch ihren eigenen Beitrag zu Kultur, Wissenschaft und Geistesleben erbrachten, von der Naturforschung und Astronomie über die Medizin bis hin zu Literatur und Kunst. Auf der anderen Seite sind die Feldzüge der Mauren, die Kreuzzüge des christlichen Abendlandes, die Expansion der Osmanen bis vor die Tore Wiens oder die Auseinandersetzungen auf dem Balkan blutiger Teil der europäischen Geschichte.

Wenn heute von einem „Kampf der Kulturen“ geredet wird, dann wird dabei der Religion eine treibende, wenn nicht sogar ursächliche Kraft zugeschrieben. Besonders nach dem 11. September 2001 denken viele hierbei weniger an einen Konflikt zwischen Christen untereinander, sondern an die Auseinandersetzung zwischen christlicher und islamischer Welt. Dennoch sollte man eine nüchterne Betrachtung anstellen: Ein umfassender Kampf der Kulturen oder gar der Religionen ist nicht zu beobachten. Weder stehen die islamisch geprägten Staaten dieser Erde in einem Krieg mit dem Westen, noch können wir massenhaft Feindseligkeiten in den Bevölkerungsgruppen unserer westlichen Gesellschaften beobachten. Wahr ist aber, daß manche Angehörige der muslimischen Bevölkerungsgruppen in Europa und in Deutschland Gefallen an islamistischen Botschaften gefunden haben, und leider ebenso wahr ist, daß eine kleine Zahl sich zu terroristischen Gewaltakten berufen fühlt.

Religion wurde und wird immer wieder für die Rechtfertigung von Gewalt mißbraucht, um nicht zu sagen: pervertiert. Kardinal Lehmann hat jüngst (F.A.Z. vom 20. September) darauf hingewiesen, daß alle Religionen die Versuchung kennen, Gewalt im Namen des Glaubens zu üben oder zu verherrlichen. Es mag Zufall sein, daß in der Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts die vermeintlich religiös motivierte und religiös begründete Gewalt eine Erscheinung ist, die zu einem großen Teil mit dem Islam in Verbindung gebracht wird. Dies ist für die weit überwiegende Zahl der auf dieser Welt lebenden Muslime eine katastrophale, traumatische Erfahrung. Denn ihre Religion, ihre Kultur, ihre Lebensweise steht zunehmend und oftmals auch fälschlicherweise unter Generalverdacht, was sicherlich eines der vielen teuflischen Kalküle der geistigen Architekten des Terrors war und ist.

Dieses Problem der bewußten Aussaat von Zwietracht zwischen den Religionen und den von ihnen gestifteten Kulturen ist für Europa und Deutschland selbst nicht nur ein außenpolitisches. Es bezieht sich nicht nur auf unser Verhältnis zur islamischen Welt, sondern wir müssen es auch innenpolitisch lösen. Muslime in Deutschland sollen sich als deutsche Muslime fühlen können. Sie sollen als Bürger eines religiös neutralen, aber nicht religionsfreien demokratischen Rechtsstaates gefeit sein können gegen die Verlockungen und Irrwege terroristischer Extremisten.

Integration als eine der wichtigsten innenpolitischen Herausforderungen, das war und ist für mich einer der Gründe, warum ich zu dieser Konferenz eingeladen habe. Im Zentrum steht dabei für mich die Frage: Wie erreichen wir es, daß sich die Muslime in Deutschland noch stärker als deutsche Muslime verstehen, daß sie sich in diesem Land heimisch fühlen und sich noch stärker in seine gesellschaftlichen Belange einbringen und engagieren? Wie können alle Menschen gleich welcher Religion in Deutschland gut zusammenleben, und wie können wir es gleichzeitig vermeiden, daß auf der Grundlage unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse neue Gräben aufgerissen werden? Dafür ist es zunächst notwendig, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und darüber zu sprechen, was uns in unserer Verschiedenheit miteinander verbindet, und gleichzeitig ehrlich zu artikulieren, was uns trennt. Trennendes erkennen und Verbindendes stärken kann aber nur der, der sich seiner eigenen Wurzeln bewußt ist.

Auch wenn sich die meisten Muslime ihrer religiösen und kulturellen Identität oftmals deutlicher bewußt sind als viele der hier geborenen Deutschen, so gilt doch: Deutschland ist keine gottlose Gesellschaft, auch wenn das von manchen Muslimen, die hier leben, zuweilen so empfunden werden mag. Wir sind kein christlich dominierter Staat oder „Christenclub“, aber durchaus ein Staat, dessen Traditionen, Werte und Rechtsverständnis christliche Wurzeln und Traditionslinien haben und stets haben werden.

Wer in Deutschland heimisch werden will, der muß diese Wurzeln respektieren. Er darf natürlich an seinem Glauben und an vertrauten Traditionen festhalten, aber sollte gleichzeitig die Regeln, die in diesem Land gelten, kennen und für sich akzeptieren. Unsere Verfassung schützt und garantiert Grundrechte und Bürgerrechte aller, die hier leben, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Diese Regeln darf niemand außer Kraft setzen, auch nicht mit dem Hinweis auf seine kulturellen oder religiösen Überzeugungen. Dazu gehört zum Beispiel, daß nach dem Grundgesetz Frauen die gleichen Rechte wie Männer haben. Dazu gehört das Recht auf Meinungsfreiheit und eben auch die Freiheit des religiösen Bekenntnisses.

Das Einhalten dieser Regeln allein führt aber noch nicht zu gelingender Integration. Diese Einsicht beschreibt der in Frankreich lebende libanesische Schriftsteller Amin Maalouf mit den Worten: „Wenn ich mich zu meinem Gastland bekenne, wenn ich es als das meine betrachte, wenn ich der Ansicht bin, daß es fortan ein Teil von mir ist wie ich ein Teil von ihm, und wenn ich mich entsprechend verhalte, dann habe ich das Recht, jeden seiner Aspekte zu kritisieren; umgekehrt, wenn dieses Land mich respektiert, wenn es meinen Beitrag anerkennt, wenn es mich in meiner Eigenart fortan als Teil von sich betrachtet, dann hat es das Recht, bestimmte Aspekte meiner Kultur abzulehnen, die mit seiner Lebensweise oder dem Geist seiner Institutionen unvereinbar sein könnten.“

Wenn es uns nicht gemeinsam gelingt, vermittels dieser Grundrechte und Grundprinzipien Einigkeit darüber zu erreichen, was uns als Deutsche, egal ob deutsche Muslime, Juden, Atheisten oder Christen, miteinander verbindet, greifen alle Integrationsbemühungen zu kurz: Was bringt der beste Integrationskurs dem, der nichts Verbindendes finden will oder kann? Will man denn hier wirklich leben, wenn man die Sprache nicht erlernt? Darum reichen auch politische oder rechtliche Institutionen für gelingende Integration allein nicht aus. Auch eine Verfassung wird dafür allein nicht genügen. Sie bedarf selbst anderer Fundamente, damit sie von den Bürgern mit Leben erfüllt wird.

Ohne dieses Sicheinbringen des einzelnen kommt kein Staat aus: Der Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, nach dem der freiheitlich säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, wird gern und oftmals unvollständig zitiert, wenn es um die Rolle von Religion und Staat in Deutschland geht. Der ehemalige Verfassungsrichter fährt nämlich fort, daß der „säkularisierte, weltliche Staat letztlich aus inneren Antrieben und Bindungskräften leben muß, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt“. Für die Christen heiße das, daß sie „diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist“.

Dieser Satz gilt analog für die Muslime in Deutschland. Nehmen sie ihn ernst, werden sie deutsche Muslime. Zum Wohle aller einbringen wird sich der einzelne, ganz gleich ob Christ oder Muslim, nämlich nur in einem Gemeinwesen, mit dem er sich identifizieren kann, in dem er gerne lebt. Es ist kein Zufall, daß selbst ein so eifriger Verfechter des Konzepts von Verfassungspatriotismus wie Jürgen Habermas in seinem 2003 gemeinsam mit Jacques Derrida verfaßten Aufruf über die „Wiedergeburt Europas“ davon spricht, es sei letztlich die „Macht der Gefühle“, die Europas Bürger miteinander verbinde und ihnen eine gemeinsame Identität geben könne. Verfassungspatriotismus als eine Sache der Vernunft reicht eben nicht. Mit ihm allein kann ich nicht erklären, warum Millionen Deutsche und hier lebende Türken, Araber oder Afghanen bei der Fußball-Weltmeisterschaft deutsche Fahnen an ihre Autos klemmen oder auf den Balkons hissen. Wenn wir uns einem Gemeinwesen zugehörig fühlen wollen, dann muß es etwas geben, was uns auf einer tieferen menschlichen Ebene miteinander verbindet: auf genau der Ebene, auf der auch Religion und Kultur, Werte und Identität angesiedelt sind. []

Die spezifisch deutsche Lösung im Verhältnis von Staat und Religion beruht darauf, daß bei aller Pluralität Staat und Gesellschaft nicht nur durch Gesetze, nicht nur durch politische und rechtliche Institutionen zusammengehalten werden, sondern daß es dafür Identität stiftender Momente bedarf. Deshalb dürfen auch Muslime mit ihrem Glauben bei der Gestaltung dieses Landes nicht außen vor bleiben. Werden sie ausgeschlossen oder schließen sie sich selbst aus, dann bildet sich ein Staat im Staate, und es kommt zu Spaltungen in der Gesellschaft. Genau das war es, was man schon in Preußen verhindern wollte.

Durch eine institutionelle Regelung, die Integration ermöglicht, kann Religion auch heute ihren Beitrag zur Identitätsstiftung, zur Ausbildung von Gemeinsamkeiten von Menschen im kulturellen und politischen Leben besser leisten als bei ihrer totalen Verdrängung aus dem öffentlichen Raum. Dieser Beitrag ist und bleibt für Staat und Gesellschaft von großer Bedeutung.

Im Zuge der Deutschen Islamkonferenz werden wir uns auch wieder unserer eigenen Wurzeln gewahr werden müssen, die für die Entwicklung des einzigartigen deutschen Religionsverfassungsrechts mit all seinen Chancen für alle Religionen so prägend waren. Die Frage nach der Trennbarkeit von Religion und Staat war in Europas Mitte, in Deutschland, der Ausgangspunkt einer mehr als 1.000 Jahre währenden Entwicklung, die lange Zeit ein Kampf, phasenweise auch ein sehr blutiger Konflikt war. Das Erklären und Verstehen dieses geschichtlichen Hintergrunds unseres deutschen Verständnisses von Religion und Staat, seine Abgrenzung auch zu anderen europäischen Modellen wird eine wichtige Aufgabe im Diskurs mit den deutschen Muslimen sein. Das deutsche Religionsverfassungsrecht bietet Chancen für alle Religionen, weil es im Kern den Gedanken der religiösen Pluralisierung enthält, ohne den die Entwicklung im konfessionell pluralen Deutschland nicht möglich gewesen wäre.

Natürlich ist diese lange Entwicklung vor allem von der Auseinandersetzung des Staates mit der christlichen Kirche geprägt, und es darf daher nicht verwundern, daß der Begriff des Staatskirchenrechtes die bestehende Rechtslage präziser und enger umschreibt. Gleichwohl ist unsere Verfassung für die aus der Globalisierung und den Migrationsströmen sich ergebenden religionsrechtlichen Herausforderungen bestens gewappnet.

Gerade in diesem Bereich scheint es ratsam zu sein, einer Arbeitsteilung zwischen Staat und Kirche bei der Befassung mit religionsrechtlichen und religionsorganisatorischen Fragen das Wort zu reden. Wer, wenn nicht die christlichen Kirchen, könnte den Vertretern des Islams glaubwürdiger die Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte und die uns umgebende und bestimmende Religionsverfassungslage in Deutschland vermitteln? Ein solcher Erkenntnisprozeß, der durchaus ohne Beteiligung des Staates stattfinden könnte, wäre ein bedeutsamer Impuls, der von der Deutschen Islamkonferenz ausgehen und zu einer Annäherung der Sichtweisen führen könnte.

Für das Gelingen von Integration sind beide Seiten gefragt, der Staat und die Bürger. Es geht bei dieser Konferenz nicht nur um die Erarbeitung von Vorschlägen für die Politik oder den Staat, sondern auch um eine Aufforderung an alle religiösen Gruppen, die Chance der Freiheit als eine aus ihrem Glauben sich ergebende Aufgabe zu betrachten.

Diese Aufgabe stellt sich unter den Rahmenbedingungen unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates. Und diesen gilt es vor allen Bedrohungen von innen und außen zu schützen.

Denn Teil unserer Geschichte und europäischen Identität ist, daß neben dem Ringen um das richtige Verhältnis von Staat und Religion viele der Freiheiten, die wir heute genießen, hart und über Jahrhunderte erkämpft sind: Das Recht auf freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, die Gleichheit von Mann und Frau, freie, gleiche und geheime Wahlen – all das, was viele hierzulande als selbstverständlich erachten, ist in vielen Ländern der Welt alles andere als das. Europa mußte durch Reformation, Aufklärung und zwei von deutschem Boden ausgehende Weltkriege gehen, um dahin zu kommen, wo es heute ist: zu einer Union von derzeit 25 Ländern, die sich das Streben nach Freiheit, Recht und Frieden auf die Fahnen geschrieben hat. Das kostbare und zerbrechliche Gut der Freiheit zu schützen, die Rechte des einzelnen zu wahren und gleichzeitig für seine Sicherheit zu sorgen, das ist die vornehmste und wichtigste Aufgabe unseres Staates.

Dabei ist die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit nicht leichter geworden: Unter dem Eindruck der Terroranschläge von New York und Washington, von London und Madrid, von Bagdad und Kabul, von Djerba und Istanbul spüren viele in ganz neuer Weise die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaften. Nicht wenige haben Sorge, daß das Zusammenleben von Menschen christlichen und muslimischen Glaubens auch in Deutschland eher mehr als weniger durch Angst, Verdächtigungen und Vorurteile belastet werden könnte.

Hinzu kommt in Deutschland eine besondere Situation, die eine völlig andere ist als noch zu Zeiten des Großen Kurfürsten oder auch grundlegend anders als noch vor 40 Jahren, als die ersten Gastarbeiter in die Bundesrepublik kamen: In der Bundesrepublik leben heute mehr als drei Millionen Muslime. Die Mehrheit von ihnen lebt gerne hier, aber manchen ist Deutschland auch in der zweiten und dritten Generation immer noch fremd. Man tut sich schwer, die Sprache zu lernen, viele brechen die Schulausbildung ab, und entsprechend hoch ist die Arbeitslosenquote gerade unter Muslimen. Sie selbst und der Staat müssen darum alles tun, um ihre Integration gelingen zu lassen. Eine abgeschlossene Ausbildung und ein Arbeitsplatz sind die sicherste Grundlage für ein friedliches Miteinander, für gelingende Integration, weil sie im Ergebnis gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung durch Leistung bewirken. Und die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft muß ihr Bemühen verstärken, Vorurteile und Ängste und die daraus erwachsenden Diskriminierungen und Herabsetzungen abzubauen.

[] Die Deutsche Islamkonferenz will mehr, als nur einen unverbindlichen Dialog anstoßen, sondern sie will benennen, wo wir gemeinsam in fünf, zehn oder dreißig Jahren stehen wollen und wie wir gemeinsam dorthin kommen.

Das Gespräch über Religion und Werte, egal ob Christentum oder Islam, ist aber nicht nur eine Privatsache, sondern sie ist für viele Bürger Teil ihrer Persönlichkeit und Lebensweise, die sie in die Gestaltung des Staates einbringen. Gleichzeitig gilt auch, und das betone ich

ebenso deutlich: Eine Religionsgemeinschaft, die die Würde des Menschen für disponibel hält oder demokratische Ordnungen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ablehnt, kann keinen Schutz der positiven Religionsfreiheit reklamieren, sofern sich die damit verbundene Aktivität gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung richtet.

Wenn wir beschreiben wollen, was wir in dieser Gesellschaft voneinander erwarten und erwarten dürfen, müssen wir uns zunächst fragen, was denn unser Anspruch an uns selbst ist. Dabei werden wir feststellen, daß der Islam bei allen Kontroversen, etwa über die Rolle der Frau oder das Verhältnis von Religion und Rechtsstaat, einiges beizutragen hat, was vielen in Deutschland zu entgleiten droht: etwa die Betonung der Wichtigkeit von Familie, den Respekt vor den Alten, ein Bewußtsein und Stolz mit Blick auf die eigene Geschichte, Kultur, Religion, Tradition, das tägliche Leben der eigenen Glaubensüberzeugung. Muslime können gerade an dieser Stelle sehr viel beitragen in dieser Gesellschaft.

Neben allen rechtlichen Fragen ist die Auseinandersetzung mit dem Islam aber auch ein Diskurs über die Rolle des Menschen in der Moderne. Und das ist vielleicht der ertragreichste und am meisten herausfordernde Aspekt. Die Welt der Globalisierung mit ihrem Zusammentreffen und ihren Verwachsungen der Kulturen zwingt zu Ortsbestimmungen. Die nach 1989 zu beobachtende rasante Ausbreitung freier Märkte hat sehr viele Veränderungen mit sich gebracht. Die Freiheit der Märkte, die erstmals grenzenlos wirken können, hat Folgen für die Menschen in der ganzen Welt, die ihnen oft so nicht bewußt waren, für die sie keine Wertvorstellungen und Maßstäbe hatten und haben. Wir sind auch in Deutschland im Begriff zu erkennen, daß die vor allem auf ökonomischen Gesetzmäßigkeiten beruhende und ökonomischen Zielsetzungen gehorchende Globalisierungswelle der letzten 15 Jahre im Zusammenleben der Menschen etwas hat entstehen lassen, was man als „emotionales Vakuum“ beschreiben kann. Die Deutsche Islamkonferenz will sich daher auch der Hypothese vieler islamischer Intellektueller stellen, der Westen sei „ein auf einem Übermaß an ökonomischer Rationalität und Werterelativismus beruhendes Gesellschaftsmodell ohne Vorbildwert“. Wahr ist sicherlich, daß auch in Deutschland ein verstärkter Trend zur Suche nach kollektiven, über das Materielle hinausgehenden Identitäten zu verzeichnen ist, daß eine Sehnsucht nach Verlangsamung der Veränderung zu spüren ist, daß eine Nachfrage nach Bindungen und Verläßlichkeiten zu vernehmen ist. Für das Aufwerfen dieser Fragen auch aus der Sicht deutscher Muslime kann man durchaus dankbar sein.

Neben der Gewährleistung der inneren Sicherheit ist die Arbeit für ein weiter verbessertes Zusammenleben aller Menschen in diesem Lande die vielleicht wichtigste Aufgabe der Innenpolitik, und der angemessene Umgang mit Religion ist ein zentraler Teil von gelingender Integration. Im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz konzentriert sich das Bundesinnenministerium im Zusammenwirken mit den zuständigen Ministerien des Bundes und der Länder auf die Aufgabe, die ganz spezifisch unsere Sache ist, nämlich auf die Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften. So wie wir zu der katholischen und der evangelischen Kirche Beziehungen haben, müssen wir in Deutschland versuchen, ein Verhältnis zwischen Staat und muslimischen Gläubigen zu entwickeln. []

Quelle: Wolfang Schäuble, „Muslime in Deutschland“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. September 2006.

Wolfgang Schäuble, „Muslime in Deutschland“ (27. September 2006), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-113> [06.12.2024].