Stefano Jacini, Die italienische Auswanderung nach Deutschland (1915)

Kurzbeschreibung

Graf Stefano Jacini (1886-1952) war ein italienischer Jurist und Publizist, der später als Parlamentsabgeordneter, Minister und Senator politische Karriere machte. In diesem Auszug aus einem Artikel, der 1915 in der Zeitschrift Weltwirtschaftliches Archiv erschien, beschreibt er die italienische Arbeitsmigration nach Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

Quelle

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Die Arbeiter reisen zum Beginn des Frühjahres in meist recht großen Gruppen ab. In Italien haben sie das Recht auf besondere Fahrpreisermäßigungen auch wenn sie alleine reisen. Da sich aber an den Grenzen die Gruppen vereinigen müssen um die ausländischen Fahrtermäßigungen in Anspruch nehmen zu können, und da meist Männer aus dem gleichen Dorfe sich nach dem gleichen Arbeitszentrum wenden, so bilden sich diese größeren Gruppen meist schon in Italien selbst. Solche Gesellschaften setzen sich gewöhnlich aus jungen Leuten in der charakteristischen Kleidung der Auswanderer zusammen: weite Samthosen, roter Gürtel, Hemden in lebhaften Farben, dunkle Jacke – eine Kleidung, die keiner Provinz Italiens besonders eigenartig ist, die aber die Auswanderer fast wie ein Wahrzeichen angenommen haben, obwohl sie meines Wissens französischen Ursprunges ist. Mit ihnen reisen einige Frauen, Mütter und Schwestern: zahlreicher sind die „boccias“ (halbwüchsige Jungen), die gleich den minderjährigen Mädchen eine der Hauptgefahren und der Hauptplagen der italienischen Auswanderung ausmachen und deren Abreise durch strenge Gesetze beschränkt und geregelt wird.

Den fremden Unternehmungen ist in Italien die Werbung von Arbeitern verboten, trotzdem aber üben viele sie aus, sei es durch Lösung staatlicher angestellter Erlaubnisscheine (die schweren und stets widerrufbaren Bedingungen unterworfen sind), sei es heimlich durch geheime Agenten, die der italienischen Polizei zu entgehen wissen. Für die einen wie für die anderen ist jedoch die Werbung schwierig: der italienische Arbeiter ist schnell in seinen Entschlüssen und die Agenten machen sie einander an den Grenzen, während der Reise und im Auslande selbst durch allerlei verführerische Versprechungen abspenstig. Es kann daher vorkommen, dass von 100 in Italien angeworbenen Arbeitern kaum 50 mit Mühe am Bestimmungsort ankommen, so sehr auch der Transport bewacht ist. Was die nicht angeworbenen Arbeiter anbelangt, so richten sich diese hauptsächlich nach wohlbekannten Arbeitszentren, die sie selbst schon oder durch Briefe ihrer Angehörigen oder Freunde kennen gelernt haben. Trotzdem der italienische Arbeiter oft verlegen erscheint und manchmal ein etwas wildes Aussehen aufweist, ist er weder das eine noch das andere: er hat z.B. einen guten Instinkt bei der Auswahl der Arbeit und weiß sich auch selbst zu helfen, ohne viel auf die offiziellen Kundmachungen zu achten.

Die Transportverhältnisse der italienischen Auswanderer haben sich in den letzten Jahren wesentlich verbessert: die ausländischen Eisenbahngesellschaften haben mit Hilfe der „Gesellschaft für nach Europa auswandernde italienische Arbeiter“ von der später die Rede sein wird, Spezialzüge eingerichtet, die regelmäßig und direkt die Arbeiter von den Grenzen nach bedeutenden Arbeitszentren bringen (z.B. Ala–Dortmund), so dass eine solche Reise mit stark reduziertem Tarif sich wesentlich schneller vollzieht als es beim normalen Reisenden der Fall ist. Außerdem machen besonders Kundgebungen – stets in Verbindung mit der genannten Hilfsgesellschaft – auf die besten Anschlüsse aufmerksam, und Wechselbureaus, Hospize und Auskunftssekretariate für Arbeitsverhältnisse stehen an den Grenzen zur Verfügung. Dieser wohlausgebildeten Organisationen ist es denn auch zu verdanken, dass der Auswanderer heute 40 Stunden zur Reise von Piemont nach Westfalen braucht, während er 1900 mindestens 4 Tage reiste. Andere spezielle Erleichterungen in Bezug auf den Grenzverkehr wurden neuerdings eingeführt: es ist den Auswanderern z.B. gestattet, nach Deutschland oder nach andern Ländern einen Vorrat ihrer Nationalprodukte (Salami usw.) einzuführen, um ihren Strafen zu ersparen, denen sie sich unwissentlich aussetzten.

Betrachten wir nun die Arbeitermasse, so wie wir sie in fast allen Orten Deutschlands beschäftigt finden. Wegen der Tatsache, dass fast zwei Drittel der nach Deutschland auswandernden Arbeiter unqualifizierte Arbeit leisten, halten sich manche deutsche Nationalökonomen für berechtigt, diese Arbeit ausschließlich als quantitativ zu bewerten und vergleichen sie derjenigen der Neger und Chinesen. Sie unterscheiden nicht mehr das Individuum in der proletarischen Masse: sie betrachten das italienische Element als einen notwendigen Faktor zur Erreichung gewisser Zwecke, als „Lohnsklaven“, deren Persönlichkeit an sich und für den Fortschritt der sie beherbergenden Nation gleichgültig ist. Sie betrachten die „unzivilisierten“ italienischen Auswanderer als eine amorphe Masse, die nach Belieben zu ersetzen ist und finden die Begründung dieser Annahme in einer ganzen Reihe von Erscheinungen, welche die italienischen Arbeiter charakterisieren. So z.B. der hohe Prozentsatz der Analphabeten, die Gewohnheit geringer Sauberkeit, die schwache Verschmelzung mit der übrigen Bevölkerung, die ausnehmend einfache und manchmal ungenügende Beköstigung, die Auswahl der ärmlichsten und ungesundesten Wohnungen usw. Betrachtet man jedoch diese Erscheinungen näher, so erweist sich solche Wertschätzung doch als rein äußerlich. Vor allem ist die Vorstellung einer „quantitativen“ Auswanderung, die durch Elend hervorgerufen wird und das Sichfügen in einen die Bedürfnisse des täglichen Lebens knapp deckenden Lohn bedingt, unhaltbar. Wie wir oben betonten, ist die italienische Auswanderung – geringe Ausnahmen zugelassen – nicht durch den Hunger veranlasst, sondern bringt einen Nettogewinn von rund einer halben Milliarde. Und muss außerdem eine Arbeit, die für manche Unternehmen ganz unersetzlich ist, wirklich als nicht qualifiziert angesehen werden? Z.B. bedient man sich der italienischen Arbeiter beim Tunnelbau und in den Eisengruben nicht allein deswegen, weil sie billig sind, sondern solche Arbeitermasse nicht mit Lasttieren verglichen werden, wenn von einer ganzen Reihe staatlicher Behörden und privater Institute ihre Handlungen studiert, ihren Beschwerde abgeholfen wird, ihre Rechte anerkannt werden, was für die italienische Auswanderung in ihrer ganzen Ausdehnung zutrifft oder zutreffen sollte.

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Quelle: Stefano Jacini, „Die italienische Auswanderung nach Deutschland“, in Weltwirtschaftliches Archiv, Band 5 (1915), S. 124-36, hier S. 128-30.

Italienische Arbeiter beim Bau des Schiffshebewerkes Henrichenburg am Dortmund-Ems-Kanal bei Waltrop (1893)

Quelle: Italienische Arbeiter beim Bau des Schiffshebewerkes Henrichenburg am Dortmund-Ems-Kanal bei Waltrop im Sommer 1893. LWL-Industriemuseum, Dortmund.

© LWL-Industriemuseum, Dortmund

Stefano Jacini, Die italienische Auswanderung nach Deutschland (1915), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-35> [08.12.2024].