Hans Marchwitza, Auszug aus Meine Jugend (1947)

Kurzbeschreibung

In diesem Auszug aus seinem autobiografischen Roman Meine Jugend beschreibt Hans Marchwitza (1890-1965) seinen Weg von Oberschlesien ins Ruhrgebiet, wo er ab 1910 im Bergbau arbeitete. Marchwitza stammte aus einer Bergarbeiterfamilie und hatte selbst unter Tage gearbeitet, seit er 14 Jahre alt war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er überzeugter Kommunist, musste nach der Machtübernahme ins Exil fliehen und lies sich nach seiner Rückkehr in der SBZ (später DDR) nieder, wo er zu einer führenden Figur der Kulturszene wurde.

Quelle

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Wir fahren, sagte auch Valentin Matzeck zu mir, jetzt heißt es an das neue Leben denken! Ich dachte an das uns noch allen unbekannte Hoffnungsland, in das wir fuhren. Nach den Verheißungen des feisten Agenten mußte dort das Geld auf den Sträuchern wachsen. Wenn der Schuft gelogen hat, dann müßte man ihn erwürgen. Und er lügt! Er sieht aus wie eine wandelnde, fette krummbeinige Lüge. Eine widerliche Lügenfresse – er hat mich verlockt. [] Der Zug rollte durch das flammende Westfalen – Dortmund, Bochum, Essen – die Kanonenstadt Krupps. Rauch, Donnerschlag, verrußte Kasernen, das Ruhrgebiet, das Kap der Guten Hoffnung, der Goldwesten des Reiches. Lange Reihen Bergleute, lange Reihen hastende Fabrikarbeiter, die emporragenden Schächte, alles bekannt – die schwirrenden Seile da, die Halden, die Raserei. Und dieser brodelnde schwarze Pott soll die Rettung sein? Mancher der träumenden Jungen kritzelte rasch eine Karte: Wir sind da. Bald hoffen wir euch was zu schicken! Auch Martin Marreck schrieb an Marie und las mir vor: Wenn uns die Hoffnung und der fette Teufel nicht wieder betrügen, liebe Marie, dann hol ich dich bald aus deinem Elend raus. Sonst... und ein paar Kreuzchen. Der Abend brach herein. Eine feuerkochende Nachtwelt – rollende Schächte. Ein kleiner Bahnhof – wir waren am Ziel. [] Der Agent führte uns in ein großes rotziegeliges Gebäude in der Nähe der Schachtanlage. In einem großen Eßsaal setzte man uns trotz der späten Stunde warme Stampfkartoffeln mit Sauerkraut und Würsten vor. Wir stürzten uns sofort hastig darüber her, da wir ausgehungert waren wie eine Schar frisch eingefangener Raubtiere. Und nun, meine Herren, erklärte Feist, während wir noch schlangen, ich lege es jedem noch mal ans Herz: Versucht nicht, auszureißen, denn ihr geratet dann unweigerlich in den Sumpf oder in die Fänge der hier sehr wachsamen Polizei. Ihr bleibt hier im Schlafhaus wohnen. Jeder bekommt sein anständiges Bett und Verpflegung, aber nur, wenn die Kontraktbedingungen eingehalten werden!

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Quelle: Hans Marchwitza, Meine Jugend. Berlin, 1947, S. 146-47; 152-53.

Spottkarte auf die „Ruhrpolen“ (circa 1900)

Quelle: „Heiteres aus dem Streikgebiet“, 1905, Nickels Kunstverlag, Oberhausen, Druck, 8,6 x 13,7 cm. LWL-Industriemuseum, Dortmund. WIM 1992/2316. Abgedruckt in: Rosmarie Beier de Haan, Jan Werquet, Fremde? Bilder von den »Anderen« in Deutschland und Frankreich seit 1871, Berlin 2009, S. 17.

© LWL-Industriemuseum, Dortmund

Hans Marchwitza, Auszug aus Meine Jugend (1947), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-53> [06.12.2024].