Eine jüdische Augenzeugin berichtet über das Novemberpogrom in Emden (Rückblick, 2000)
Kurzbeschreibung
In diesem Rückblick berichtet eine anonyme deutsch-jüdische Zeitzeugin aus der ostfriesischen Stadt Emden über die Ereignisse während des Novemberpogroms am 9./10. November 1938 sowie über die Bemühungen ihrer Familie, Deutschland zu verlassen.
Quelle
Ich bin erzogen in deutscher Kultur, aber auch in jüdischer Kultur, und das war mein großes Glück gegenüber vielen, die vertrieben worden sind im Dritten Reich. Es war mir ein großer Halt, ich hatte eine Identität, die die meisten ja überhaupt gar nicht gehabt haben, denn viele standen ja sehr an der Peripherie des Judentums, man muß nämlich unterscheiden, ob man ein Jude ist, der sich integrieren will – ich brauche gar nicht das Wort „Willen“ zu gebrauchen, das war natürlich – oder assimilieren. Das ist ein Unterschied: Assimilieren ist gleich werden, das kann man nicht als Jude, denn Jude sein ist nicht nur eine Religion, es ist eine Lebensweise, und diese Lebensweise habe ich geführt. Ich habe die strengste preußische Schule besucht, die es überhaupt gibt, damals wurden Jungen und Mädchen geteilt, waren nicht auf einem Gymnasium zusammen, und ich habe das Lyzeum „Kaiserin Augusta Victoria“ besucht. Kaiserin Augusta Victoria, sie war die Schutzpatronin, die Kaiserin, die Frau von Wilhelm II., und es war – ehrlich gesagt – eine Intelligenzkaserne. […]
Ich habe die fürchterliche Pogromnacht mitgemacht, und wer diese Nacht mitgemacht hat – Sie werden sehr viele Damen hier sprechen, die sie nicht mitgemacht haben, die haben ein anderes Verhältnis zu Deutschland als ich –, ich habe sie in der schlimmsten Form mitgemacht. Die Ostfriesen haben Österreicher kommen lassen, weil sie sich geniert haben, zu anständigen Juden zu gehen und die zu verhaften, wo die gar nichts getan haben. Es war im November in der Ecke, da wo ich gelebt habe, war es Sitte, daß man den Geburtstag von Martin Luther feierte, das war derselbe Tag. Und wir gingen alle – Kinder mit Lampions von Bäckerhaus zu Bäckerhaus und sangen: „Als Martin noch ein Knabe war, hat er gesungen manches Jahr, vor andrer Leute Türen, er sang so schön, er sang so süß, das könnt das Herze rühren.“ Dann hat ein Kind kolossal mit der Trommel gerührt. Und obwohl ich eine religiöse Jüdin war, war ich so verbunden mit den Kindern in der Straße – damals war Emden eine Kleinstadt, heute ist es eine mittelgroße Stadt daß ich auch mitgegangen bin, habe auch das mitgesungen. Und so ein Abend war auch in der Nacht vom 9. auf den 10. November, gerade war das Lied verklungen, da hörte Mama Schritte, wie sie im Stechschritt das Horst-Wessel-Lied singen: „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht‘s noch mal so gut“, das war immer der Refrain. Wir hatten ein offenes Ladengeschäft, das wir 1937 – Gott sei Dank – verkauft hatten, weil unsere Kundschaft, die eine Stammkundschaft war, das war schon ererbt vom Großvater, das war früher so, der Vater ... mein Mann wäre viel besser Jurist gewesen, aber das mußte man als ältester Sohn, das Geschäft übernehmen, und 1937 stand man schon immer mit Schildern gegenüber, auf der anderen Seite, „Kauft nicht bei Juden", und mit Photoapparaten, und die heute wurden geknipst und kamen in die Zeitung. Und da wir eine Beamtenkundenschaft hatten, die sehr abhängig war vom Staat, haben sie uns Briefe geschrieben, sie können leider nicht mehr kommen, es tut ihnen sehr leid, und damit war unser Geschäft natürlich erledigt. Wir haben es zwangsverkauft, es hat ein Nazi bekommen, und – natürlich gegen ein Butterbrot – es war ein Geschäft, genau an der Hauptstraße, an der Ecke gelegen, da kreuzten sich die beiden Hauptstraßen. Es war kein großes Geschäft, ein kleines Geschäft, aber sehr einträglich, dadurch, daß wir schon kaum Reklame machen mußten, wir eine Stammkundschaft hatten. Da hatten wir als Freund einen nichtjüdischen Architekten, und der war sehr gegen das Regime und war auch, wie viele Juden, scheinbar auch mein Mann – ich hatte damals einen viel älteren Mann geheiratet, aber es war eine Neigungsehe, ich wollte ihn unbedingt heiraten, sehr klug der hat gesagt, das ist ein Spuk, der Architekt, das geht vorüber, wandert nicht aus. Und da haben wir uns sozusagen zurückgezogen, wir haben ja so leben können von den Einkünften, da war auch ein bißchen ererbtes Geld noch dazu gekommen. Am Stadtrand, ziemlich weit am Stadtrand, aber das hat nichts genützt. Also: Gerade war das Lutherlied verklungen, da kam diese Horde, und dann kam eine Ruhepause, und da hat man wirklich gedacht, die Sache hat sich beruhigt – es war ein Fackelzug. Aber das galt nur einem Besäufnis, um sich viel Mut zu machen. Nach diesem Besäufnis sind sie losgezogen. Das ist unvorstellbar. Sie haben mit ihren Stiefeln an die Wohnungstüre geschlagen wie verrückt. Sie waren bewaffnet mit einem Gewehr, mit einer Pistole. Mein Schwager und meine Schwester waren im Begriff, am nächsten Tag nach Ekuador auszuwandern, weil es schon keine anderen Länder mehr gab, die waren alle voll – entweder das Boot ist voll oder die Quote ist überzogen, und Palästina war damals unter englischer Mandatsmacht, die haben keine Juden mehr reingelassen. Also die wollten am nächsten Tag los – hatten alles fertig, Mann, Frau und zwei Kinder, nach Ekuador auswandern, bis Bremerhaven fahren, aufs Schiff gehen usw. Mein Schwager hatte das Eiserne Kreuz erster Klasse; wenn ein Jude im Kaiserreich das Eiserne Kreuz erster Klasse hat, dann hat er etwas besonderes geleistet, sonst hätte er es nicht bekommen. Mein Schwager wollte den Kerlen das Eiserne Kreuz zeigen, haben sie in die Ecke geworfen, wollte die Ausreisepapiere zeigen, haben sie in die Ecke geworfen, haben unsere beiden Männer in der eiskalten Novembernacht – es ist sehr kalt im Norden da oben – verhaftet, und dann wurden sie durch die Stadt getrieben, bis auf einen Schulhof. Da hatten sie alle männlichen Juden zusammengetrieben, man kann dazu nicht sagen „versammelt.“ Es waren sogar auch einige Frauen dabei, uns hat man – Gott sei Dank – gelassen. Aber wir saßen mit weinenden Kindern. Sie können sich das ja vorstellen. Es war alles bei uns sehr beholfen, meine Geschwister sollten die letzte Nacht bei uns verbringen, die hatten ja schon keine Wohnung mehr. Also, wir mußten erstmal weinende Kinder trösten, dann sahen wir rote Glut am Himmel, das war der Brand der Synagoge, und – ja was tun? Meine Schwester hatte alle Ausweise, Reisepapiere, es ist alles befristet, Schiffe gab es sehr schwer, also, wir kamen, schweren Herzens, zu dem Entschluß, sie muß mit den Kindern alleine ausreisen. Und – ich habe mir das damals nicht so schwer gedacht – ich habe gesagt, ich werde alles tun, daß Dein Mann bald nachkommt. Daß ich gar nichts tun konnte, habe ich ja gar nicht gewußt. Die haben die ganze Nacht auf dem eiskalten Hof verbracht, das nicht alleine; man hat sie gezwungen, zu miauen wie die Kaizen, zu bellen wie die Hunde. Aber, sie wußten wohl nicht wohin mit ihnen, man konnte den Männern am anderen Tag Decken bringen. Das KZ Sachsenhausen, dahin sind sie nämlich dann gekommen, am übernächsten Tag, das war wohl noch nicht fertig. Ich bin hingegangen, habe Decken gebracht, alles natürlich immer schon unter Bewachung, und wir haben uns bemüht, sehr tapfer zu sein bei dem Abschied. Es kam erst überhaupt keine Nachricht, und die erste Nachricht, die kam, war, daß ein sehr ehrenwerter, sechzigjähriger Mann beim Eintrieb – es muß furchtbar gewesen sein, wie die Tiere haben sie sie eingetrieben – tot zusammengebrochen war, damals hat man noch die Schlüssel und die Uhr der Frau zurückgeschickt. Und dann kamen Karten von unseren Männern, „es geht uns sehr gut“, mein Mann hat aber dabei geschrieben: „besondere Grüße, an Erna und Anna“, das waren meine beiden Schwestern, die eine war in die Staaten ausgewandert, aber die konnte nichts mehr machen, und die andere war nach Ekuador ausgewandert. „Besondere Grüße“ habe ich verstanden. Dann habe ich mich um Auswanderung bemüht, in das damalige Palästina, wir kriegten die Nachricht, „ist überfüllt, die Mandatsmacht hat geschlossen“, USA hatte die Quote schon weit überzogen, sie hätten aber noch viel mehr aufnehmen können, sie hätten Bedingungen stellen können: Ihr könnt nicht in New York, Ihr könnt nicht in Washington, Ihr könnt meinetwegen nicht in Cincinnati – oder was immer, aber es ist das große Alaska da, also die hätten können, die haben sich auch versündigt. Nun war aber mein Sohn, damals 12 Jahre alt, Ende 1937 vom Gymnasium geflogen. Die Pädagogen scheinen nichts von Pädagogik verstanden zu haben, ich habe selbst ein pädagogisches Examen. Die haben, vor versammelter Klasse, zu zwei jüdischen Kindern gesagt, morgen dürft Ihr nicht wiederkommen, weil Ihr Juden seid, Ihr dürft deutschen Boden nicht mehr betreten. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet, für einen 12jährigen Jungen? Er kam kreidebleich nach Hause. Er war ein begabtes Kind. Was machen Sie mit einem 12jährigen Kind, das von der Schule geflogen ist? Während mein Mann noch im KZ war, ein nicht ganz gesunder Mann, er hatte ein schwaches Herz, bekam ich ein Telegramm aus Paris, da war 1929 ein Schwager von mir hingezogen, weniger als Auswanderung, die wollten in Frankreich leben, er hat ein Telegramm geschickt, daß an einem französischen Gymnasium 100 Kinder angefordert werden, jüdische Kinder, und er hat sofort meinen Sohn angemeldet, und ich soll meinen Sohn schicken. Dazu konnte ich mich nicht entschließen, man kann kein Kind von einem Vater wegnehmen, ohne daß er es weiß. […]
Quelle: A. Kruse, E. Schmitt, Wir haben uns als Deutsche gefühlt. Lebensrückblick und Lebenssituation jüdischer Emigranten und Lagerhäftlinge. Darmstadt: Steinkopf, 2000, S. 102-108.