Reinhart Koselleck, „Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte“ (1972/79)

Kurzbeschreibung

Der folgende Textauszug erläutert die von Reinhart Koselleck geprägte Disziplin der Begriffsgeschichte sowie ihre Unabhängigkeit von der Sozialgeschichte und ihre Implikationen für letztere. Gemeinsam mit Werner Conze und Otto Brunner gab Reinhart Koselleck (1923–2006) eine achtbändige historische Enzyklopädie politisch-sozialer Begriffe heraus, die Geschichtlichen Grundbegriffe (1972-1997). Einträge (manche mehr als 100 Seiten lang) zu Begriffen wie „Bürger, Staatsbürger, Bürgertum“, „Freiheit“ oder „Gleichheit“ lassen nachvollziehen, wie die Transformation der sozialen, politischen und ökonomischen Sprache in Deutschland durch die Moderne geprägt wurde, diese aber zugleich auch aktiv gestaltete. Bekannt ist Koselleck außerdem für seine Begriffsprägung „Sattelzeit“, die sich auf die Ära der politischen und sozialen Umbrüche von 1750–1850 bezieht.

Quelle

Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte

Nach einem bekannten Diktum von Epiktet seien es nicht die Taten, die die Menschen erschüttern, sondern die Worte über die Taten.[1] Trotz der stoischen Pointe, sich nicht von Worten irritieren zu lassen, ist der Gegensatz zwischen „pragmata“ und „dogmata“ sicher vielschichtiger als Epiktets Moralanweisung zuläßt. Sie erinnert uns an die Eigenkraft der Worte, ohne deren Gebrauch unser menschliches Tun und Leiden kaum erfahrbar, sicher nicht mitteilbar sind. Epiktets Satz steht in der langen Tradition, die sich seit alters mit dem Verhältnis von Wort und Sache, von Geist und Leben, von Bewußtsein und Sein, von Sprache und Welt beschäftigt hat. Auch wer sich auf das Verhältnis der Begriffs- zur Sozialgeschichte einläßt, steht unter dem Reflexionsdruck dieser Tradition. Er gerät schnell in den Bereich theoretischer Prämissen, die hier von der Forschungspraxis her anvisiert werden sollen.[2]

Die Zuordnung zwischen Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte scheint auf den ersten Blick lose, zumindest schwierig. Beschäftigt sich doch die eine Disziplin in erster Linie mit Texten und mit Worten, während sich die andere nur der Texte bedient, um daraus Sachverhalte abzuleiten und Bewegungen, die in den Texten selber nicht enthalten sind. So untersucht etwa die Sozialgeschichte Gesellschaftsformationen oder Verfassungsbauformen, die Beziehungen zwischen Gruppen, Schichten, Klassen, sie fragt über Geschehenszusammenhänge hinaus, indem sie auf mittel- oder langfristige Strukturen und deren Wandel zielt. Oder sie bringt ökonomische Theoreme ein, kraft derer Einzelereignisse und politische Handlungsabläufe hinterfragt werden. Texte und die ihnen zugeordneten Entstehungssituationen haben hier allenthalben nur Hinweischarakter. Anders die Methoden der Begriffsgeschichte, die dem Umkreis der philosophischen Terminologiegeschichte, der historischen Philologie, der Semasiologie und der Onomasiologie entstammen, und deren Ergebnisse immer wieder durch Textexegesen überprüfbar und auf diese zurückzuführen sind.

Nun ist eine solche erste Gegenüberstellung vordergründig. Aber die methodischen Einstiege zeigen, daß das Verhältnis der Begriffs- und der Sozialgeschichte komplexer ist, als daß die eine Disziplin auf die andere reduzierbar wäre: Das erweist bereits der Sachverhalt in den Objektbereichen beider Disziplinen. Ohne gemeinsame Begriffe gibt es keine Gesellschaft, vor allem keine politische Handlungseinheit. Umgekehrt gründen unsere Begriffe in politisch-gesellschaftlichen Systemen, die weit komplexer sind, als daß sie sich bloß als Sprachgemeinschaften unter bestimmten Leitbegriffen erfassen ließen. Eine „Gesellschaft“ und ihre „Begriffe“ stehen in einem Spannungsverhältnis, das auch die ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Disziplinen der Historie kennzeichnet.

Es soll versucht werden, das Verhältnis der beiden Disziplinen auf drei Ebenen zu klären:

1. Inwieweit die Begriffsgeschichte der klassischen historisch-kritischen Methode folgt, aber mit erhöhter Trennschärfe dazu beiträgt, Themen der Sozialgeschichte griffig zu machen. Hier arbeitet die Begriffsanalyse der Sozialgeschichte subsidiär in die Hand.

2. Inwieweit die Begriffsgeschichte eine eigenständige Disziplin mit eigener Methodik darstellt, deren Inhalt und deren Reichweite parallel zur Sozialgeschichte, aber sich mit ihr gegenseitig überlappend, zu bestimmen ist.

3. Inwieweit Begriffsgeschichte einen genuinen theoretischen Anspruch enthält, ohne den einzulösen Sozialgeschichte nur unzulänglich betrieben werden kann.

Für die folgenden Überlegungen gelten zwei Einschränkungen: daß nicht von Sprachgeschichte, auch nicht als Teil der Sozialgeschichte, gehandelt wird, sondern nur von der politisch-sozialen Terminologie, die für die Erfahrungsbestände der Sozialgeschichte relevant ist. Ferner wird innerhalb dieser Terminologie und ihrer zahlreichen Ausdrücke vorzüglich auf Begriffe abgehoben, deren semantische Tragfähigkeit weiter reicht als die „bloßer“ Worte, die im politisch-sozialen Bereich überhaupt verwendet werden.[3]

I. Begriffsgeschichtliche Methode und Sozialgeschichte

Um die historisch-kritischen Implikationen einer Begriffsgeschichte als notwendige Hilfe für die Sozialgeschichte zu erweisen, sei ein Beispiel genannt. Es stammt aus dem Zeitraum der Französischen und der anhebenden industriellen Revolution, also aus einem Umkreis, der für die Entstehung der Soziologie und sozialhistorischer Fragen wegweisend wurde.

In seiner bekannten Septemberdenkschrift aus dem Jahre 1807 entwarf Hardenberg Richtlinien für die Reorganisation des preußischen Staates. Der ganze Staat sollte nach den Erfahrungen der Französischen Revolution wirtschaftlich und sozial neu strukturiert werden. Dabei äußerte nun Hardenberg: Überhaupt gehört eine vernünftige Rangordnung, die nicht einen Stand vor dem anderen begünstigte, sondern den Staatsbürgern aller Stände ihre Stellen nach gewissen Klassen nebeneinander anwiese, zu den wahren und keineswegs zu den außerwesentlichen Bedürfnissen eines Staates.[4] Um einen solchen für die künftige Reformpolitik Hardenbergs programmatischen Satz zu verstehen, bedarf es einer quellenkritischen Exegese, die speziell die in ihm enthaltenen Begriffe aufschlüsselt. Daß die traditionelle Unterscheidung zwischen „wahren“ und „außerwesentlichen“ Bedürfnissen von der ständischen Ordnung auf den „Staat“ übertragen wurde, war eine Sichtweise, die seit einem knappen halben Jahrhundert geläufig war und auf die hier nicht eingegangen sei. Auffällig ist zunächst, daß Hardenberg dem vertikalen Standesgefälle eine horizontale Klassengliederung gegenüberstellt. Die Standesordnung wird insofern pejorativ bewertet, als sie die Begünstigung eines Standes vor anderen impliziert, während doch alle Standesmitglieder Staatsbürger und insofern gleich sein sollen. Sie bleiben zwar in diesem Satz als Staatsbürger immer auch Standesmitglied, aber ihre Funktionen sollen nicht nach Ständen, sondern „nach gewissen Klassen“ nebeneinander definiert werden, wobei gleichwohl eine vernünftige Rangordnung entstehen soll.

Rein sprachlich bereitet ein solcher mit politisch-sozialen Ausdrücken gespickter Satz nicht geringe Verständnisschwierigkeiten, auch wenn die politische Pointe, gerade auf Grund der semantischen Zweideutigkeit, herausspringt. An die Stelle der überkommenen Standesgesellschaft soll eine Gesellschaft (formal gleichberechtigter) Staatsbürger treten, deren Zugehörigkeit zu (wirtschaftlich und politisch zu definierenden) Klassen eine neue (staatliche) Rangordnung ermöglicht.

Es ist klar, daß der genaue Sinn nur aus dem Kontext des ganzen Memorandums hervorgeht, aber ebenso aus der Lage des Verfassers und des Adressaten abgeleitet werden muß, ferner daß die politische Situation und die soziale Gesamtlage des damaligen Preußen dabei zu berücksichtigen sind, wie schließlich der Sprachgebrauch des Autors, seiner Zeitgenossen und der ihm vorausgehenden Generation verstanden werden muß, mit der er in einer Sprachgemeinschaft lebte. Alle diese Fragen gehören zur herkömmlichen historisch-kritischen, speziell zur historisch-philologischen Methode, auch wenn bereits Fragen auftauchen, die mit dieser Methode allein nicht beantwortbar sind. Das betrifft speziell die soziale Struktur des damaligen Preußen, die ohne ökonomische, politologische oder soziologische Frageraster nicht hinreichend erfaßbar ist.

Die spezielle Einengung unserer Fragestellung auf die Untersuchung der in einem solchen Satz verwendeten Begriffe leistet nun entschieden Hilfe, über das Verständnis dieses einen Satzes hinaus sozialgeschichtliche Fragen zu stellen und zu beantworten. Wird vom Sinn des Satzes selber hinübergeleitet zur historischen Einordnung der darin verwendeten Begriffe wie „Stand“, „Klasse“ oder „Staatsbürger“ so zeigt sich schnell, welche verschiedenen Schichten des damaligen Erfahrungshaushaltes in diesen Satz eingegangen sind.

Indem Hardenberg von Staatsbürgern spricht, verwendet er einen terminus technicus, der gerade geprägt worden war, der im Allgemeinen Preußischen Landrecht legal noch nicht verwendet wurde und der eine polemische Pointe gegen die altständische Gesellschaft anmeldete. Es handelte sich noch um einen Kampfbegriff, der sich gegen die ständische Rechtsungleichheit richtete, ohne daß damals ein Staatsbürgerrecht existierte, das einem preußischen Bürger politische Rechte zugesprochen hätte. Der Ausdruck war aktuell, zukunftsträchtig, er verweist auf ein Verfassungsmodell, das nunmehr zu verwirklichen sei. –

Der Begriff des Standes enthielt um die damalige Jahrhundertwende unendlich viele Be­deutungsstreifen politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Art, so daß aus dem Wort selber keine eindeutige Zuordnung abzuleiten ist. Indem Hardenberg Stand und Begünstigung zusammendachte, hat er jedenfalls die traditionellen Herrschaftsrechte der oberen Stände kritisch unterlaufen, während der Gegenbegriff in diesem Zusammenhang Klasse lautet. – Der Begriff „Klasse“ enthielt damals ebenso mannigfaltige Bedeutungen, die sich streckenweise mit dem von „Stand“ überlappten. Immerhin kann für den deutschen, speziell den preußischen Sprachgebrauch der Bürokratie gesagt werden, daß damals eine Klasse eher durch wirtschaftliche und verwaltungsrechtliche Kriterien bestimmt wurde als durch politische oder gar geburtsständische Kriterien. In diesem Zusammenhang muß etwa die physiokratische Tradition berücksichtigt werden, innerhalb derer die alten Stände erstmalig nach ökonomisch funktionalen Kriterien umdefiniert wurden: ein Vorhaben, das Hardenberg in wirtschaftsliberaler Absicht teilte. Die Verwendung von „Klasse“ zeigt, daß hier ein soziales Modell ins Spiel gebracht wird, das in die Zukunft weist, während der Begriff des Standes an eine jahrhundertealte Tradition anknüpft, an Strukturen, wie sie im Landrecht gerade noch einmal legalisiert worden sind, dessen Ambivalenzen aber bereits Risse im Standesgefüge und seine Reformbedürftigkeit anzeigten. – Die Ausmessung des Bedeutungsraumes jedes der verwendeten zentralen Begriffe zeugt also von einer gegenwartsbezogenen, polemischen Pointe, von einer planerischen Zukunftskomponente, und von dauerhaften aus der Vergangenheit herrührenden Elementen der Sozialverfassung, deren spezifische Zuordnung den Sinn dieses Satzes freigibt. In der temporalen Ausfächerung der Semantik liegt schon die geschichtliche Aussagekraft beschlossen.

Innerhalb der Textexegese gewinnt also die spezielle Hinblicknahme auf den Gebrauch von politisch-sozialen Begriffen, die Untersuchung ihrer Bedeutungen einen sozialgeschichtlichen Rang. Die in einer konkreten politischen Situation enthaltenen Momente der Dauer, des Wandels und der Zukünftigkeit werden im sprachlichen Nachvollzug erfaßt. Damit werden – noch allgemeiner gesprochen – soziale Zustände und ihr Wandel bereits thematisiert.

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Anmerkungen

[1] Epiktet, Encheiridion, c. V.
[2] Die folgenden Überlegungen gründen auf der Redaktionsarbeit an dem von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebenen Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland« (6 Bände, Stuttgart, Band I, 1972; Band 2, 1975). Zur Ergänzung der folgenden Gesichtspunkte sei auf die Einleitung des Lexikons verwiesen. Für Herkunft und gegenwärtigen Forschungsstand der Begriffsgeschichte – nicht nur als historischer Disziplin – vgl. den gleichnamigen Artikel von H. G. Meier, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 1, Basel-Stuttgart 1971, S. 788-808.
[3] Eine klare und bibliographisch gründliche Aufarbeitung der politischen Se­mantik findet sich bei Walther Dieckmann, Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg 1969. Spe­ziell zur Methode und Theorie seien genannt Richard Koehner, Semantics and Historiography, in: Cambridge Journal 7 (1953); Mario A. Cattaneo, Sprach­analyse und Politologie, in: Methoden der Politologie, hrsg. von Robert H. Schmidt, Darmstadt 1967; sowie Louis Girard, Histoire et lexicographie, in: Annales 18 (1963), eine Besprechung von Jean Dubois, Le vocabulaire politique et social en France de 1869 à 1872, Paris 1962. Demnächst auch Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. von R. Koselleck, Stuttgart 1978.
[4] Georg Winter, Hrsg., Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg. Erster Teil, Band I, Leipzig 1931, S. 316. Für den sozialgeschichtlichen Zusammenhang der Interpretation vgl. mein Buch Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (Industrielle Welt, Band 7), Stuttgart 1967, S. 158, 190 f. und Exkurs II zur Begriffsbestimmung des Staatsbürgers und ähnlicher termini.

Quelle: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1988 [S. 107-12]. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Erstveröffentlichung: Reinhart Koselleck. „Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte“, in Peter Christian Ludz, Hrsg., Soziologie und Sozialgeschichte. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1972, S. 116–31.

Reinhart Koselleck, „Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte“ (1972/79), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-129> [05.12.2024].