Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947, deutsch 1967)
Kurzbeschreibung
Max Horkheimer (1895–1973) war Philosoph und Soziologe und Mitbegründer der berühmten Frankfurter Schule für kritische Theorie und Sozialforschung. In diesem Textauszug verweist er auf eine der wichtigsten Veränderungen in der westlichen Wissensgeschichte: die Neudefinition der Vernunft von einer objektiven Macht mit universeller Bedeutung hin zu einer subjektiven mentalen Kategorie von eigennützigem Zweck. Das bedeutete, die Vernunft wurde nicht mehr als Lieferantin von Wahrheiten und Normen gedacht, denen gegenüber jeder verantwortlich war. Vielmehr tat sie wenig mehr, als Mittel und Wege zur Befriedigung individueller Wünsche zu koordinieren. Diese Verschiebung, der viele deutsche Denker zum Durchbruch verhalfen, richtete nicht nur die deutsche Philosophie und die kritische Theorie grundlegend neu aus, sondern – indem sie rein relativistische Bewertungsmaßstäbe einführte – auch das soziale Verhalten, kulturelle Einstellungen und die Politik.
Quelle
1. Mittel und Zwecke
Verlangt man vom einfachen Menschen zu erklären, was mit dem Begriff Vernunft gemeint sei, so reagiert er fast immer zögernd und verlegen. Es wäre falsch, dies so zu interpretieren, als deute es eine Weisheit an, die zu tief, oder ein Denken, das zu abstrus ist, um in Worte gekleidet zu werden. Was es wirklich verrät, ist das Gefühl, daß es nichts zu erforschen gibt, daß der Begriff der Vernunft sich selbst erklärt, daß die Frage selbst überflüssig ist. Dringend um eine Antwort gebeten, wird der Durchschnittsmensch sagen, daß vernünftige Dinge offensichtlich nützliche Dinge sind und daß jeder vernünftige Mensch imstande sein soll zu entscheiden, was ihm nützt. Natürlich sollten die Umstände einer jeden Situation sowie Gesetze, Sitten und Traditionen berücksichtigt werden. Aber die Kraft, die letztlich vernünftige Handlungen ermöglicht, ist die Fähigkeit der Klassifikation, des Schließens und der Deduktion, ganz gleich, worin der besondere Inhalt besteht— das abstrakte Funktionieren des Denkmechanismus. Diese Art von Vernunft kann subjektive Vernunft genannt werden. Sie hat es wesentlich mit Mitteln und Zwecken zu tun, mit der Angemessenheit von Verfahrensweisen an Ziele, die mehr oder minder hingenommen werden und sich vermeintlich von selbst verstehen. Sie legt der Frage wenig Bedeutung bei, ob die Ziele als solche vernünftig sind. Befaßt sie sich überhaupt mit Zwecken, dann hält sie es für ausgemacht, daß auch sie vernünftig im subjektiven Sinne sind, das heißt, daß sie dem Interesse des Subjekts im Hinblick auf seine Selbsterhaltung dienen — sei es die des einzelnen Individuums oder die der Gemeinschaft, von deren Fortbestand der des Individuums abhängt. Der Gedanke, daß ein Ziel um seiner selbst willen vernünftig sein kann — auf Grund von Vorzügen, von denen Einsicht zeigt, daß das Ziel sie enthält —, ohne auf irgendeine Art subjektiven Gewinnes oder Vorteils sich zu beziehen, ist der subjektiven Vernunft zutiefst fremd, selbst wo sie sich über die Rücksicht auf unmittelbar nützliche Werte erhebt und sich Reflexionen über die Gesellschaftsordnung, betrachtet als ein Ganzes, widmet.
Wie naiv oder oberflächlich diese Definition der Vernunft auch erscheinen mag, sie ist ein wichtiges Symptom eines tiefgreifenden Wandels der Anschauungsweise, der in den letzten Jahrhunderten im abendländischen Denken stattgefunden hat. Lange Zeit herrschte eine diametral entgegengesetzte Ansicht von der Vernunft. Diese Ansicht behauptete das Dasein der Vernunft als einer Kraft nicht nur im individuellen Bewußtsein, sondern auch in der objektiven Welt — in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen, in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen. Große philosophische Systeme, wie die von Platon und Aristoteles, die Scholastik und der deutsche Idealismus, waren auf einer objektiven Theorie der Vernunft begründet. Sie zielte darauf ab, ein umfassendes System oder eine Hierarchie alles Seienden einschließlich des Menschen und seiner Zwecke zu entfalten. Der Grad der Vernünftigkeit des Lebens eines Menschen konnte nach seiner Harmonie mit dieser Totalität bestimmt werden. Deren objektive Struktur, und nicht bloß der Mensch und seine Zwecke, sollte der Maßstab für individuelle Gedanken und Handlungen sein. Dieser Begriff von Vernunft schloß subjektive Vernunft niemals aus, sondern betrachtete sie als partiellen, beschränkten Ausdruck einer umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien für alle Dinge und Lebewesen abgeleitet wurden. Der Nachdruck lag mehr auf den Zwecken als auf den Mitteln. Das höchste Bestreben dieser Art von Denken war es, die objektive Ordnung des „Vernünftigen“, wie die Philosophie sie begriff, mit dem menschlichen Dasein einschließlich des Selbstinteresses und der Selbsterhaltung zu versöhnen. So will Platon in seinem „Staat“ zeigen, daß, wer im Licht der objektiven Vernunft lebt, auch im Leben erfolgreich und glücklich ist. Im Brennpunkt der Theorie der objektiven Vernunft stand nicht die Zuordnung von Verhalten und Ziel, sondern die Begriffe — wie mythologisch sie uns auch heute anmuten mögen —, die sich mit der Idee des höchsten Gutes beschäftigten, mit dem Problem der menschlichen Bestimmung und mit der Weise, wie höchste Ziele zu verwirklichen seien.
Zwischen dieser Theorie, derzufolge Vernunft ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip ist, und der Lehre, sie sei ein subjektives Vermögen des Geistes, besteht ein grundlegender Unterschied. Nach der letzteren kann einzig das Subjekt in einem genuinen Sinne Vernunft haben: wenn wir sagen, daß eine Institution oder irgendeine andere Wirklichkeit vernünftig ist, so meinen wir gewöhnlich, daß die Menschen sie vernünftig organisiert haben, daß sie auf eine mehr oder minder technische Art Unlogisches, kalkulatorisches Vermögen auf sie angewandt haben. Letzten Endes erweist sich subjektive Vernunft als die Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und dadurch einem gegebenen Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen. Diese Definition scheint mit den Ideen vieler hervorragender Philosophen, insbesondere englischer Denker seit den Tagen von John Locke, übereinzustimmen. Natürlich übersah Locke andere geistige Funktionen nicht, die unter dieselbe Kategorie fallen könnten, zum Beispiel Unterscheidungsvermögen und Reflexion. Aber auch diese Funktionen helfen fraglos bei der Zuordnung von Mitteln und Zwecken, die schließlich das gesellschaftliche Interesse der Wissenschaft und in gewisser Weise die raison d’être jeder Theorie im gesellschaftlichen Produktionsprozeß ist.
In der subjektivistischen Ansicht, worin „Vernunft“ eher gebraucht wird, ein Ding oder einen Gedanken zu bezeichnen denn einen Akt, bezieht sie sich ausschließlich auf das Verhältnis eines solchen Gegenstandes oder Begriffs zu einem Zweck, nicht auf den Gegenstand oder Begriff selbst. Das bedeutet, daß das Ding oder der Gedanke zu etwas anderem taugt. Es gibt kein vernünftiges Ziel an sich, und es wird sinnlos, den Vorrang eines Ziels gegenüber anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren. Vom subjektiven Ansatz her ist eine solche Diskussion nur möglich, wenn beide Ziele einem dritten und höheren dienen, das heißt, wenn sie Mittel, keine Zwecke sind.[1]
Die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen von Vernunft ist nicht bloß eine des Gegensatzes. Historisch hat es beide Aspekte der Vernunft, den subjektiven und den objektiven, seit Anbeginn gegeben, und das Vorherrschen jenes über diesen kam im Verlaufe eines langen Prozesses zustande. Vernunft im eigentlichen Sinne als logos oder ratio war immer wesentlich aufs Subjekt bezogen, auf sein Denkvermögen. Alle Termini, von denen sie bezeichnet wird, waren einmal subjektive Ausdrücke; so leitet der griechische Terminus sich her von λέϒειν, „sagen“, und bezeichnet das subjektive Vermögen der Sprache. Das subjektive Denkvermögen war das kritische Agens, das den Aberglauben auflöste. Aber indem es die Mythologie als eine falsche Objektivität denunzierte, das heißt als ein Erzeugnis des Subjekts, mußte es Begriffe gebrauchen, die es als adäquat anerkannte. So entwickelte es stets eine eigene Objektivität. Im Platonismus wurde die pythagoreische Zahlenlehre, die der astralen Mythologie entstammte, zu der Ideenlehre umgebildet, die den höchsten Inhalt des Denkens als eine absolute Objektivität zu bestimmen versucht, die, obgleich mit ihm verbunden, letztlich jenseits des Denkvermögens liegt. Die gegenwärtige Krise der Vernunft besteht im Grunde in der Tatsache, daß das Denken auf einer bestimmten Stufe entweder die Fähigkeit verlor, eine solche Objektivität überhaupt zu konzipieren, oder begann, sie als einen Wahn zu bestreiten. Dieser Prozeß erstreckte sich allmählich auf den objektiven Inhalt eines jeden rationalen Begriffs. Schließlich kann keine besondere Realität per se als vernünftig erscheinen; ihres Inhalts entleert, sind alle Grundbegriffe zu bloß formalen Hülsen geworden. Indem Vernunft subjektiviert wird, wird sie auch formalisiert.[2]
Die Formalisierung der Vernunft hat weitreichende theoretische und praktische Konsequenzen. Wenn die subjektivistische Ansicht stichhaltig ist, kann das Denken nicht helfen zu bestimmen, ob irgendein Ziel an sich wünschenswert ist. Die Annehmbarkeit von Idealen, die Kriterien für unser Handeln und unsere Überzeugungen, die leitenden Prinzipien der Ethik und Politik, alle unsere letzten Entscheidungen werden von anderen Faktoren als der Vernunft abhängig gemacht. Sie sollen eine Angelegenheit der Wahl und des Beliebens sein, und es ist sinnlos geworden, bei praktischen, moralischen oder ästhetischen Entscheidungen von Wahrheit zu sprechen. „Ein Tatsachenurteil“, sagt Russell[3], einer der objektivistischsten Denker unter den Subjektivisten, „ist einer Eigenschaft fähig, die ‚Wahrheit‘ genannt wird, die ihm ganz unabhängig davon, was einer sich dabei denkt, zukommt oder nicht zukommt. ... Aber ... ich sehe keine der ‚Wahrheit‘ analoge Eigenschaft, die zu einem ethischen Urteil gehört oder nicht gehört. Das, so muß zugegeben werden, ordnet die Ethik einer von der Wissenschaft verschiedenen Kategorie zu.“ Jedoch kennt Russell mehr als andere die Schwierigkeiten, in die sich eine solche Theorie notwendig verstrickt. „Ein inkonsequentes System kann durchaus weniger Falsches enthalten als ein konsequentes[4].“ Trotz seiner Philosophie, die behauptet, daß „die obersten sittlichen Werte subjektiv sind“[5], scheint er die objektiven moralischen Qualitäten menschlicher Handlungen und unsere Weise, sie wahrzunehmen, zu unterscheiden: „Was schrecklich ist, will ich als schrecklich sehen“. Er hat den Mut zur Inkonsequenz und bleibt so, indem er von bestimmten Aspekten seiner antidialektischen Logik abrückt, in der Tat zugleich ein Philosoph und ein Humanist. Wollte er an seiner szientivischen Theorie konsequent festhalten, so müßte er zugeben, daß es keine schrecklichen Handlungen oder unmenschlichen Verhältnisse gibt und daß das Übel, das er sieht, nur eine Einbildung ist.
Nach solchen Theorien dient das Denken jedem partikularen Bestreben, sei es nun gut oder schlecht. Es ist ein Werkzeug für alle Unternehmen der Gesellschaft, aber es darf nicht versuchen, die Strukturen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens zu bestimmen, die von anderen Kräften bestimmt werden sollen. In der laienhaften ebenso wie in der wissenschaftlichen Diskussion ist es dazu gekommen, daß Vernunft gewöhnlich als eine intellektuelle Fähigkeit der Zuordnung betrachtet wird, deren Wirksamkeit durch methodischen Gebrauch und den Ausschluß nicht-intellektueller Faktoren, wie bewußter oder unbewußter Emotionen, gesteigert werden kann. Die Vernunft hat die gesellschaftliche Realität niemals wirklich geleitet, aber jetzt ist sie so gründlich von jeder spezifischen Tendenz oder Neigung gereinigt, daß sie schließlich sogar auf die Aufgabe verzichtet hat, Handlungen und Lebensweise des Menschen zu beurteilen. Die Vernunft hat diese zur endgültigen Sanktion den im Widerstreit liegenden Interessen überlassen, denen unsere Welt tatsächlich ausgeliefert zu sein scheint.
[…]
Nachdem sie die Autonomie aufgegeben hat, ist die Vernunft zu einem Instrument geworden. Im formalistischen Aspekt der subjektiven Vernunft, wie er vom Positivismus hervorgehoben wird, wird ihre Beziehungslosigkeit zu einem objektiven Inhalt betont; in ihrem instrumentellen Aspekt, wie er vom Pragmatismus hervorgehoben wird, wird ihre Kapitulation vor heteronomen Inhalten betont. Die Vernunft ist gänzlich in den gesellschaftlichen Prozeß eingespannt. Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur, ist zum einzigen Kriterium gemacht worden. Die Begriffe wurden auf Zusammenfassungen von Merkmalen reduziert, die mehrere Exemplare gemeinsam haben. Indem sie eine Ähnlichkeit bezeichnen, entheben die Begriffe der Mühe, die Qualitäten aufzuzählen, und dienen so dazu, das Material der Erkenntnis besser zu organisieren. Man sieht in ihnen bloße Abbreviaturen der einzelnen Gegenstände, auf die sie sich beziehen. Jeder Gebrauch, der über die behelfsmäßige, technische Zusammenfassung faktischer Daten hinausgeht, ist als eine letzte Spur des Aberglaubens getilgt. Begriffe sind zu widerstandslosen, rationalisierten, arbeitssparenden Mitteln geworden. Es ist, als ob Denken selbst auf das Niveau industrieller Prozesse reduziert worden wäre, einem genauen Plan unterworfen – kurz, zu einem festen Bestandteil der Produktion gemacht. Toynbee[6] hat einige der Konsequenzen dieses Prozesses für die Geschichtsschreibung aufgezeigt. Er spricht von der „Tendenz des Töpfers, zum Sklaven seines Tons zu werden... In der Welt des Handelns wissen wir, daß es verhängnisvoll ist, Tiere oder menschliche Wesen zu behandeln, als wären sie Klötze und Steine. Warum sollten wir diese Behandlung in der Welt der Ideen als weniger irrig ansehen?“
Je automatischer und je instrumentalisierter die Ideen wurden, desto weniger erblickt noch einer in ihnen Gedanken mit einem eigenen Sinn. Sie werden als Dinge, als Maschinen betrachtet. Die Sprache ist im gigantischen Produktionsapparat der modernen Gesellschaft zu einem Werkzeug unter anderen reduziert. Jeder Satz, der kein Äquivalent einer Operation in diesem Apparat ist, erscheint dem Laien als ebenso bedeutungslos, wie er den heutigen Semantikern zufolge sein soll, nach denen der rein symbolische und Operationelle, das heißt völlig sinnlose Satz einen Sinn ergibt. Bedeutung wird verdrängt durch Funktion oder Effekt in der Welt der Dinge und Ereignisse. Soweit Wörter nicht offenkundig dazu verwandt werden, technisch relevante Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen, oder anderen praktischen Zwecken dienen, unter die selbst die Erholung fällt, geraten sie in Gefahr, als leeres Geschwätz verdächtigt zu werden; denn Wahrheit ist kein Selbstzweck.
Im Zeitalter des Relativismus, in dem selbst Kinder Ideen als Annoncen oder Rationalisierungen ansehen, hat gerade die Furcht, daß die Sprache mythologischen Resten noch einen Unterschlupf gewähren könnte, den Wörtern einen neuen mythologischen Charakter verliehen. Zwar sind die Ideen radikal funktionalisiert worden, und die Sprache wird als bloßes Werkzeug betrachtet, sei es zur Aufstapelung und Kommunikation der intellektuellen Elemente der Produktion oder zur Lenkung der Massen. Zugleich rächt sich die Sprache sozusagen, indem sie auf ihre magische Stufe zurückfällt. Wie in den Tagen der Magie wird jedes Wort als eine gefährliche Macht betrachtet, die die Gesellschaft zerstören könnte und wofür der Sprecher verantwortlich gemacht werden muß. Dementsprechend wird unter der sozialen Kontrolle das Streben nach Wahrheit geschmälert. Der Unterschied zwischen Denken und Handeln wird für nichtig erklärt. Daher wird jeder Gedanke als ein Tun angesehen; jede Reflexion ist eine These und jede These eine Parole. Jedermann muß einstehen für das, was er sagt oder nicht sagt. Alles und jeder wird klassifiziert und mit einem Etikett versehen. Die Qualität des Menschlichen, die ausschließt, das Individuum mit einer Klasse zu identifizieren, ist „metaphysisch“ und hat in der empiristischen Erkenntnistheorie keinen Ort. Das Schubfach, in das ein Mensch geschoben wird, umschreibt sein Schicksal. Sobald ein Gedanke oder ein Wort zu einem Werkzeug wird, kann man darauf verzichten, sich dabei tatsächlich etwas zu „denken“, das heißt die logischen Akte nachzuvollziehen, die in ihrer verbalen Formulierung enthalten sind. Wie oft und richtig dargelegt, besteht der Vorteil der Mathematik — das Modell allen neopositivistischen Denkens — gerade in dieser „Denkökonomie“. Komplizierte logische Operationen werden ausgeführt, ohne daß alle die geistigen Akte wirklich vollzogen würden, auf denen die mathematischen und logischen Symbole beruhen. Solche Mechanisierung ist in der Tat wesentlich für die Expansion der Industrie; aber wenn sie zum Charakterzug des Geistes wird, wenn Vernunft selbst sich instrumentalisiert, nimmt sie eine Art von Materialität und Blindheit an, wird sie ein Fetisch, eine magische Wesenheit, die mehr akzeptiert als geistig erfahren wird.
Was sind die Konsequenzen der Formalisierung der Vernunft? Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die, wie erwähnt, in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr sanktioniert sein sollten, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch Ziele und Zwecke, aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen. Approbiert durch verehrungswürdige historische Dokumente, mögen sie sich noch eines gewissen Prestiges erfreuen, und einige sind im Grundgesetz der größten Länder enthalten. Nichtsdestoweniger ermangeln sie der Bestätigung durch die Vernunft in ihrem modernen Sinne. Wer kann sagen, daß irgendeines dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als sein Gegenteil? Nach der Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es nur eine Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als Klassifikation von Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Die Feststellung, daß Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. An sich klingt sie mittlerweile gerade so sinnlos wie die Feststellung, Rot sei schöner als Blau oder ein Ei besser als Milch.
[…]
Seiner rationalen Grundlage beraubt, wird das demokratische Prinzip ausschließlich abhängig von den sogenannten Interessen des Volkes, und diese sind Funktionen blinder oder nur zu bewußter ökonomischer Mächte. Sie bieten keinerlei Garantie gegen Tyrannei[7]. In der Periode des Systems des freien Marktes zum Beispiel wurden die auf der Idee der Menschenrechte basierenden Institutionen von vielen Menschen als ein gutes Instrument akzeptiert, die Regierung zu kontrollieren und den Frieden aufrechtzuerhalten. Wenn sich aber die Lage ändert, wenn mächtige ökonomische Gruppen es nützlich finden, eine Diktatur zu errichten und die Herrschaft der Mehrheit abschaffen, kann ihrem Handeln kein auf der Vernunft begründeter Einwand entgegengesetzt werden. Wenn sie eine reale Erfolgschance haben, wären sie einfach närrisch, sie nicht wahrzunehmen. Die einzige Erwägung, die sie davon abhalten könnte, wäre die Möglichkeit, daß ihre eigenen Interessen gefährdet würden, und nicht die Sorge, eine Wahrheit oder die Vernunft zu verletzen. Ist einmal die philosophische Grundlage der Demokratie zusammengebrochen, so ist die Feststellung, Diktatur sei schlecht, nur für solche Menschen rational gültig, die nicht ihre Nutznießer sind, und es gibt kein theoretisches Hindernis, diese Feststellung in ihr Gegenteil zu verwandeln.
[…]
Anmerkungen
Quelle der deutschen Übersetzung: Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus dem Englischen von Alfred Schmidt. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Mai 1967, S. 15–20, S. 30–33, S. 36–37.
Die Originalausgabe von Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Teil I dieses Buches) ist ursprünglich unter dem Titel Eclipse of Reason im Verlag Oxford University Press, Inc., New York erschienen.