Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (1838)
Kurzbeschreibung
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) war der wichtigste protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts. Sein bekanntestes Werk ist Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), das sich an die Gebildeten richtete und sich dabei auf die Ideen Kants bezog, die Bedeutung des religiösen Gefühls zu betonen, sowie für sein dogmatisches Werk Der christliche Glaube (2. Aufl., 1830–1831). Er war aber auch ein einflussreicher Philosoph und Textkritiker. In seiner Einführung in die Hermeneutik entwickelt er ein Interpretationssystem, das die Bedeutung der Sprache, des historischen Kontexts und die Rolle des Subjekts in der Sinnkonstitution betont. Dieser Text wurde vier Jahre nach Schleiermachers Tod veröffentlicht und aus seinen Notizen und Vorlesungen rekonstruiert.
Quelle
Einleitung.
1. Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existirt noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken.
[1.] 1. Nur Kunst des Verstehens, nicht auch der Darlegung des Verstaͤndnisses[1]). Dieß waͤre nur ein specieller Theil von der Kunst zu reden und zu schreiben, der nur von den allgemeinen Principien abhaͤngen könnte.
Hermeneutik[2]) kann nach der bekannten Etymologie als wissenschaftlich noch nicht genau fixirter Name sein: a) die Kunst seine Gedanken richtig vorzutragen, b) die Kunst die Rede eines andern einem dritten richtig mitzutheilen, c) die Kunst die Rede eines andern richtig zu verstehen. Der wissenschaftliche Begriff bezieht sich auf das dritte, als das mittlere zwischen dem ersten und zweiten.
[1.] 2. Aber auch nicht nur schwieriger Stellen in fremder Sprache. Bekanntschaft mit dem Gegenstande und der Sprache wird vielmehr vorausgesetzt. Ist beides, so werden Stellen nur schwierig, weil man auch die leichteren nicht verstanden hat. Nur ein kunstmaͤßiges Verstehen begleitet stetig die Rede und die Schrift.
[1.] 3. Man hat gewoͤhnlich geglaubt wegen der allgemeinen Principien sich auf den gesunden Menschenverstand verlassen zu koͤnnen. Aber dann kann man sich auch wegen des besonderen auf das gesunde Gefuͤhl verlassen[3]).
2. Es ist schwer der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort anzuweisen.
[2.] 1. Eine Zeitlang ist sie allerdings als Anhang der Logik behandelt worden, aber als man alles angewandte in der Logik aufgab mußte dieß auch aufhören. Der Philosoph an sich hat keine Neigung, diese Theorie aufzustellen, weil er selten verstehen will, selbst aber glaubt nothwendig verstanden zu werden.
[2.] 2. Die Philologie ist auch etwas positives durch unsere Geschichte geworden. Daher ihre Behandlungsweise der Hermeneutik auch nur Aggregat von Observationen ist.
Zusatz[4]). Spezielle Hermeneutik sowohl der Gattung als der Sprache nach ist immer nur Aggregat von Observationen und genuͤgt keiner wissenschaftlichen Forderung. Das Verstehen erst ohne Besinnung (der Regeln) treiben und nur in einzelnen Faͤllen zu Regeln seine Zuflucht nehmen, ist auch ein ungleichmaͤßiges Verfahren. Man muß diese beiden Standpunkte, wenn man keinen aufgeben kann, mit einander verbinden. Dieß geschieht durch eine doppelte Erfahrung. 1) Auch wo wir am kunstlosesten verfahren zu koͤnnen glauben, entstehen oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Loͤsungsgruͤnde doch im fruͤheren liegen muͤssen. Also sind wir uͤberall aufgefordert auf das zu achten, was Loͤsungsgrund werden kann. 2) Wenn wir uͤberall kunstmaͤßig verfahren, so kommen wir doch am Ende zu einer bewußtlosen Anwendung der Regeln, ohne daß wir das kunstmaͤßige verlassen haͤtten.
3. Da Kunst zu reden und zu verstehen (correspondirend) einander gegenuͤberstehen, reden aber nur die aͤußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammenhange mit der Kunst zu denken und also philosophisch.
Jedoch so, daß die Auslegungskunst von der Composition abhaͤngig ist und sie voraussetzt. Der Parallelismus aber besteht darin, daß wo das Reden ohne Kunst ist bedarf es zum Verstehen auch keiner.
4. Das Reden ist die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklaͤrt sich die Zusammengehoͤrigkeit von Rhetorik und Hermeneutik und ihr gemeinsames Verhaͤltniß zur Dialektik.
[4.] 1. Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens fuͤr den Einzelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst. Aber wo der Denkende noͤthig findet den Gedanken sich selbst zu fixiren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des urspruͤnglichen, und wird hernach auch Auslegung noͤthig.
[4.] 2. Die Zusammengehoͤrigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen.
[4.] 3. Die Abhaͤngigkeit beider von der Dialektik besteht darin, daß alles Werden des Wissens von beiden (Reden und Verstehen) abhaͤngig ist.
Zusatz[5]) Allgemeine Hermeneutik gehoͤrt so wie mit Kritik so auch mit Grammatik[6] zusammen. Aber da es nicht nur keine Mittheilung des Wissens, sondern auch kein Festhalten desselben giebt ohne diese drei und zugleich alles richtige Denken auf richtiges Sprechen ausgeht, so sind auch alle drei mit der Dialektik genau zu verbinden.
Die[7]) Zusammengehoͤrigkeit der Hermeneutik und Grammatik beruhet darauf, daß jede Rede nur unter der Voraussetzung des Verstaͤndnisses der Sprache gefaßt wird. – Beide haben es mit der Sprache zu thun. Dieß fuͤhrt auf die Einheit von Sprechen und Denken, die Sprache ist die Art und Weise des Gedankens wirklich zu sein. Denn es giebt keinen Gedanken ohne Rede. Das Aussprechen der Worte bezieht sich bloß auf die Gegenwart eines andern, und ist insofern zufaͤllig. Aber niemand kann denken ohne Worte. Ohne Worte ist der Gedanke noch nicht fertig und klar. Da nun die Hermeneutik zum Verstehen des Denkinhalts fuͤhren soll, der Denkinhalt aber nur wirklich ist durch die Sprache, so beruht die Hermeneutik auf der Grammatik, als der Kenntniß der Sprache. Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mittheilung durch die Sprache, welche eben die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dieß keine andere Tendenz als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen. So ergiebt sich das gemeinsame Verhaͤltnis der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens. – Jede Rede kann ferner nur verstanden werden durch die Kenntniß des geschichtlichen Gesammtlebens, wozu sie gehoͤrt, oder durch die Kenntniß der sie angehenden Geschichte. Die Wissenschaft der Geschichte aber ist die Ethik. Nun aber hat auch die Sprache ihre Naturseite; die Differenzen des menschlichen Geistes sind auch bedingt durch das Physische des Menschen und des Erdkoͤrpers. Und so wurzelt die Hermeneutik nicht bloß in der Ethik, sondern auch in der Physik. Ethik aber und Physik fuͤhren wieder zuruͤck auf die Dialektik, als die Wissenschaft von der Einheit des Wissens.
5. Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat, auf die Gesammtheit der Sprache und auf das gesammte Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Thatsache im Denkenden.
[5.] 1. Jede Rede setzt voraus eine gegebene Sprache. Man kann dieß zwar auch umkehren, nicht nur fuͤr die absolut erste Rede, sondern auch für den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden; aber die Mittheilung setzt auf jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der Sprache also eine gewisse Kenntniß derselben voraus. Wenn zwischen die unmittelbare Rede und die Mittheilung etwas tritt, also die Kunst der Rede anfaͤngt: so beruht dieß theils auf der Besorgniß, es moͤchte dem hoͤrenden etwas in unserem Sprachgebrauch fremd sein.
[5.] 2. Jede Rede beruht auf einem fruͤheren Denken. Man kann dieses auch umkehren, aber in Bezug auf die Mittheilung bleibt es wahr, denn die Kunst des Verstehens geht nur bei fortgeschrittenem Denken an.
[5.] 3. Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigenthuͤmliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalitaͤt der Sprache. Dann aber ist er auch ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Thatsache von diesem im Zusammenhange mit den uͤbrigen.
Der Einzelne ist in seinem Denken durch die (gemeinsame) Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben. Ein anderer neuer Gedanke koͤnnte nicht mitgetheilt werden, wenn nicht auf schon in der Sprache bestehende Beziehungen bezogen. Dieß beruht darauf, daß das Denken ein inneres Sprechen ist. Daraus erhellt aber auch positiv, daß die Sprache das Fortschreiten des Einzelnen im Denken bedingt. Denn die Sprache ist nicht nur ein Complexus einzelner Vorstellungen, sondern auch ein System von der Verwandtschaft der Vorstellungen. Denn durch die Form der Woͤrter sind sie in Verbindung gebracht. Jedes zusammengesetzte Wort ist eine Verwandtschaft, wobei jede Vor- und Endsylbe eine eigenthuͤmliche Bedeutung (Modification) hat. Aber das System der Modification ist in jeder Sprache ein anderes. Objectiviren wir uns die Sprache, so finden wir, daß alle Akte des Redens nur eine Art sind, wie die Sprache in ihrer eigenthuͤmlichen Natur zum Vorschein kommt, und jeder Einzelne nur ein Ort ist, in dem die Sprache erscheint, wie wir denn bei bedeutenden Schriftstellern unsere Aufmerksamkeit auf ihre Sprache richten und bei ihnen eine Verschiedenheit des Styles sehen. – Eben so ist jede Rede immer nur zu verstehen aus dem ganzen Leben, dem sie angehört, d.h. da jede Rede nur als Lebensmoment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmomente erkennbar ist, und dieß nur aus der Gesammtheit seiner Umgebungen, wodurch seine Entwicklung und sein Fortbestehen bestimmt werden, so ist jeder Redende nur verstehbar durch seine Nationalitaͤt und sein Zeitalter.
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Anmerkungen
Da aber alles, was er hier darüber sagt, viel ausgearbeiteter zu lesen ist, in den beyden Akademischen Abhandlungen über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolf’s Andeutungen und Ast’s Lehrbuch (in den Reden und Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften, sämmtliche Werke, dritte Abtheil. Zur Philosophie. Dritter Band. S. 344-380), so haben wir uns bis auf einige wenige Ausnahmen billig enthalten, den unvollkommenen mündlichen Vortrag aus den nachgeschriebenen Heften hier aufzunehmen.
Quelle: Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. 1. Auflage. Sämtliche Werke. Berlin: Reimer, 1838, S. 7–13. Online verfügbar unter: http://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/31
Weiterführende Inhalte
Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers; herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. Berlin: Suhrkamp Verlag, 1999.