Immanuel Wolf, „Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums“ (1823)
Kurzbeschreibung
Immanuel Wolf (alias Immanuel Wohlwill, 1799–1847) schreibt über das Bedürfnis, ein Bild des Judentums in seiner Gesamtheit zu zeichnen, unter Einbezug von literarischen Perspektiven, historischen Berichten und statistischen Informationen. Eine solche Wissenschaft, so sein Argument, sei unparteiisch und würde die jüdische Geschichte und Kultur mit einer europäischen (und auch weiteren menschlichen) Kultur verbinden, die diese fälschlicherweise bisher als fremd angesehen habe. Wolfs programmatische Stellungnahme erschien in der ersten Ausgabe der Zeitschrift, die der Verein für Kultur und Wissenschaft des Judenthums herausgab, den Leopold Zunz, Eduard Gans, Isaac Marcus Jost, und Moses Moser gegründet hatten.
Quelle
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Das Judenthum, wie es hier vorgestellt worden, als ein Ganzes, beruhend auf einem eigenen innern Princip, und enthalten in einer umfassenden Litteratur einerseits, anderseits aber in dem besondern Leben und Weben einer zahlreichen Menschenclasse, ist an und fuͤr sich der wissenschaftlichen Behandlung faͤhig und beduͤrftig. Allein bis jetzt ist es noch nie von einem ganz unabhaͤngigen Standpunkte aus in seinem ganzen Umfange wissenschaftlich dargestellt worden. Was von Juͤdischen Gelehrten besonders in fruͤhern Zeiten in der Art geleistet worden, ist meist theologischen Inhalts. Besonders ist die Geschichte von ihnen fast ganz vernachlaͤßigt worden. Christliche Gelehrte aber, so groß auch ihr Verdienst um die litterarische Entwickelung einzelner Theile des Judenthums ist, haben doch dieses fast immer nur Behufs einer geschichtlichen Verstaͤndigung der Christlichen Theologie bearbeitet, wenn sie nicht gar die Absicht hatten, das Judenthum selbst in ein gehaͤssiges Licht zu stellen, oder, wie man sich ausdruͤckte – zu widerlegen. Und sind auch einige bedeutendere gelehrte Arbeiten in diesem Fache von einem allgemeinern, litterarischen Gesichtspunkt und Interesse ausgegangen, nicht bloß als Vehikel oder Propaͤdeutik der Christlichen Theologie, die freilich von der Juͤdischen schwer zu trennen ist: so beziehen sich doch diese Leistungen immer nur auf einzelne Momente des ganzen Objekts. Soll nun aber das Judenthum seinem ganzen Inhalte nach an und fuͤr sich, zum Objekt einer Wissenschaft gemacht, und so eine Wissenschaft des Judenthums gebildet werden, so versteht es sich von selbst, daß da von einer ganz andern Behandlungsweise die Rede ist. Es kann aber ein jedes Objekt, von welcher Art es auch seyn mag, das seinem Wesen nach fuͤr den menschlichen Geist von Interesse, in seiner mannigfachen Gestaltung und Entfaltung aber inhaltreich ist, der Gegenstand einer besondern Wissenschaft werden. Der Inhalt dieser besondern Wissenschaft ist dann, die systematische Entwickelung und Darstellung ihres Objekts nach seinem ganzen Umfange[1], an und fuͤr sich, nicht fuͤr einen fremden Zweck. Wenden wir dies auf die Wissenschaft des Judenthums an, so ergibt sich fuͤr das Wesen derselben folgendes:
1) Die Wissenschaft des Judenthums begreift das Judenthum in seinem ganzen Umfange.
2) Sie entwickelt das Judenthum seinem Begriffe gemaͤß, und stellt es dar systematisch, das Einzelne stets auf das Grundprincip des Ganzen zurückführend.
3) Sie behandelt ihr Objekt an und fuͤr sich, um seiner selbst willen, nicht zu einem besondern Zweck, oder aus einer bestimmten Absicht. – Sie beginnt mit keiner vorgefaßten Meinung und ist unbekuͤmmert um das letzte Resultat. Sie geht weder darauf aus, ihren Gegenstand in ein vortheilhaftes, noch in ein nachtheiliges Licht, in Beziehung auf die herrschenden Ansichten, zu setzen, sondern zeigt ihn auf, wie er ist. Die Wissenschaft ist sich selbst genug, ist an und fuͤr sich wesentliches Beduͤrfniß des menschlichen Geistes. Sie braucht daher keinen Nutzen außer sich zu bezwecken. Aber darum bleibt es nicht minder wahr, daß jede Wissenschaft nicht bloß auf andere Wissenschaften, sondern auch auf das Leben den bedeutendsten Einfluß uͤbt, was dann auch von der Wissenschaft des Judenthums gar leicht nachzuweisen seyn wird.
Wie nun eine jede Wissenschaft nach den wesentlichen Unterschiedenheiten ihres Objekts in mehrere Theile zerfällt, so wird dies auch bei unserer Wissenschaft der Fall seyn. Diese wird aber zunaͤchst nach der oben angegebenen zwiefachen Offenbarung ihres Objekts, in zwei Hauptabtheilungen zerfallen:
I. Kunde des Judenthums in seiner historisch-litterarischen Documentierung.
II. Statistische Judenthumskunde in Beziehung auf die heutigen Juden in allen Laͤndern der Erde.
Das Judenthum wird aber darzustellen seyn einmal historisch, wie es sich nach und nach in der Zeit entwickelt und gestaltet hat; dann aber philosophisch seinem innern Wesen und Begriffe nach. Beiden Darstellungsweisen muß voraus gehen die philologische Erkenntniß der Litteratur des Judenthums. Wir erhalten also: 1) eine Philologie d.J., 2) eine Geschichte d.J., 3) eine Philosophie d.J.
1. Die Philologie des Judenthums ist die hermeneutisch-critische Verstaͤndigung der gesamten Litteratur der Juden, als in welche die besondere Welt, die eigenthuͤmliche Lebens- und Denkweise der Juden niedergelegt ist. Wiefern diese Litteratur in verschiedene Sprachen gekleidet ist, verschiedene Stoffe umfaßt und verschiedenen Zeitraͤumen angehoͤrt, wird auch die Philologie ihre verschiedenen Weisen haben.
2. Die Geschichte des Judenthums ist die systematische Darstellung des Judenthums, wie es sich in der Zeit entwickelt und nach allen Richtungen gestaltet hat. Dieser Richtungen sind aber besonders Drei: die religioͤse, die politische und die litterarische, die jedoch uͤberall innigst in einander verschlungen sind, und im Zusammenhange dargestellt die allgemeine, vereinzelt aber die Religionsgeschichte, die politische Geschichte und die Litteraturgeschichte geben.
Nach den vielfachen Standpunkten, auf welchen das geistige Princip des Judenthums im Laufe der Zeiten sich zeigt, oder nach den verschiedenen Stufen, auf welchen die Idee, welche das bildende Leben des Ganzen ist, erscheint, wird die Geschichte in mehrere Perioden zerfallen[2].
3. Die Philosophie des Judenthums. Diese hat zu ihrem Gegenstande den Begriff des Judenthums an und fuͤr sich, den sie nach seiner innern Vernuͤnftigkeit zu entwickeln und in seiner Wahrheit aufzuzeigen hat. Sie lehrt die goͤttliche Idee, wie sie sich im Judenthum stufenweise offenbarte, begreifen. Sie weist ferner den Zusammenhang nach zwischen den aͤußern historischen Begebenheiten und den innern Bewegungen der lebendigen Idee. – Waͤhrend die Geschichte nur mit dem Geschehenen, mit der Vergangenheit zu thun hat, erstreckt sich die Philosophie auch auf den Standpunkt der Idee in der Gegenwart, im heutigen Judenthum. – An die Geschichte der Vergangenheit reiht sich aber unmittelbar an in Beziehung auf Nr. II. Das Judenthum in seiner noch vor uns liegenden, lebenden Gestaltung, betreffend: die allgemeine Statistik der Juden in allen Laͤndern, besonders in Ruͤcksicht auf ihren religioͤsen und politischen Zustand.
[…]
Doch das Judenthum hat nicht bloß ein historisches Interesse, es ist kein vergangenes, vormaliges, bloß durch die Blaͤtter der Geschichte aufbewahrtes Princip; es lebt noch, es wird noch anerkannt von einem integrirenden, auch der Zahl nach nicht unbedeutenden Theil der Menschheit, selbst der Europaͤischen Menschheit. Und noch rathschlagen sie uͤber die Stellung dieser lebendigen Zeugen des Alterthums zu den Voͤlkern Europens. Die Einrichtungen des Mittelalters haben hier, wie in mehreren Punkten, ihre Anwendbarkeit verloren. Der Standpunkt der Menschheit ist veraͤndert, aber noch kein fester geworden. Auch uͤber das Verhaͤltniß der Juden hat man noch kein allgemeingiltiges Princip gefunden; und soll es je zu einer gerechten Entscheidung uͤber diesen Vorwurf kommen: so kann dies wohl nicht anders als auf wissenschaftlichem Wege geschehen. Die wissenschaftliche Kunde des Judenthums muß uͤber den Werth oder Unwerth der Juden, uͤber ihre Faͤhigkeit oder Unfaͤhigkeit, andern Buͤrgern gleich geachtet und gleich gestellt zu werden, entscheiden. Sie allein lehrt den innern Karakter des Judenthums kennen, das Wesentliche vom Zufaͤlligen, das Urspruͤngliche vom Hinzugethanen trennen. Die Wissenschaft allein ist uͤber die Parteilichkeit, Leidenschaften und Vorurtheile des niedern Lebens erhaben; denn ihr Zielpunkt ist die Wahrheit. Ich meine aber die eigentliche Wissenschaft, die freie, die unendliche, „die hohe, die himmlische Goͤttinn;“ nicht jene vorgebliche, Afterwissenschaft, die nur in einem leeren Raisonnement, in einer willkuͤhrlichen Zusammenstellung einzelner Meinungen besteht, zu denen auch die vorgefaßten des Eigennutzes, der Herrschsucht, des Neides und der Eitelkeit gehoͤren; die immer nur behauptet, statt zu entwickeln, die sich auf die Autoritaͤt der Vorstellungen stuͤtzt, die einmal unter der Menge gaͤng und gaͤbe sind, statt sich auf den innern Begriff ihres Gegenstandes zu gruͤnden. Mit einer solchen Gegnerin laͤßt sich die wahre Wissenschaft nicht ein, denn jene verschwindet vor dieser wie die Nacht vor dem anbrechenden Tage.
Noch ist uͤbrig, eine Seite mit wenigen Worten anzudeuten, von der aus betrachtet die Begruͤndung einer Wissenschaft des Judenthums als nothwendiges Erforderniß unserer Zeit erscheint. Dies ist die innere Welt der Juden selbst. Auch diese Welt ist durch das unaufhaltsame Fortschreiten des Geistes und die damit verknuͤpften Veraͤnderungen im Leben der Voͤlker, in ihrem Innern mannigfach bewegt und erschuͤttert worden. Ueberall aͤußert es sich, daß das Grundprincip des Judenthums wiederum in einer innern Gaͤhrung begriffen ist, sich zu einer dem Zeitgeiste gemaͤßen Gestaltung zu entwickeln strebt. Zeitgemaͤß kann aber diese Entwickelung nur geschehen auf dem Wege der Wissenschaft. Denn der Standpunkt der Wissenschaftlichkeit ist der eigenthuͤmliche unserer Zeit. Da nun die Bildung einer Wissenschaft des Judenthums ein wesentliches Beduͤrfniß der Juden selbst ist, so ist klar, daß, obgleich das Feld der Wissenschaften Gemeinplatz aller Menschen ist, doch Juͤdische Maͤnner vorzugsweise zur Bearbeitung derselben berufen sind. Die Juden muͤssen sich wiederum als ruͤstige Mitarbeiter an dem gemeinsamen Werke der Menschheit bewaͤhren; sie muͤssig sich und ihr Princip auf den Standpunkt der Wissenschaft erheben, denn dies ist der Standpunkt des Europaͤischen Lebens. Auf diesem Standpunkte muß das Verhaͤltniß der Fremdheit, in welchem Juden und Judenthum bisher zur Außenwelt gestanden, – verschwinden. Und soll je ein Band das ganze Menschengeschlecht umschlingen, so ist es das Band der Wissenschaft, das Band der reinen Vernuͤnftigkeit, das Band der Wahrheit.
Anmerkungen
Quelle: Immanuel Wolf, „Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums“, in Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1823, Heft 1, S. 16–20, 22–24.
Weiterführende Inhalte
Michael Graetz und Nils Roemer, „Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums“, Encyclopaedia Judaica, herausgegeben von Michael Berenbaum und Fred Skolnik, zweite Ausgabe, Bd. 20, Macmillan Reference USA, 2007, S. 509.