Kriminalstatistik für das Jahr 1895: „Die Jugendlichen“ (1898)

Kurzbeschreibung

In der Neuzeit nutzten die Staatsregierungen überall gesammeltes und verwaltetes Wissen, um soziale Probleme anzugehen, aber auch um Macht auszuüben. Die Datenerhebung hatte die Reduzierung der Bevölkerung auf die Statistik zur Folge, denn bei der „Mathematisierung“ der Bevölkerung konnten mit modernen Analysemethoden ausgebildete Bürokraten Tendenzen und Trends verfolgen, die dem Staat das Ausmaß seines verbesserten „Fortschritts“ offenbarten. Hier sehen wir diese Art von Bemühungen bei der Arbeit im Bereich der Jugendkriminalität. Die folgenden Statistiken wurden von Beamten des Reichsstatistikamtes erstellt, das im Juni 1872, ein Jahr nach Reichsgründung, eingerichtet wurde. Aufgabe des Amtes war es, den Landesbehörden verwertbare Daten zur Optimierung des Reiches zur Verfügung zu stellen. Sie stellen ein Beispiel für wissenschaftliche Ambitionen dar, die auf die Staatsführung angewandt wurden.

Quelle

[]

Vierter Abschnitt.
Die Jugendlichen.
(Hierzu die Uebersichten 11 bis 15)

I. Die Uebersicht 11 bringt in derselben Weise wie die Uebersicht 21 des vorigen Jahrganges die Verurtheilungen der Jugendlichen, das heißt derjenigen Personen, welche zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung das zwölfte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatten, zur Darstellung. Jedoch mußten auch hier die Berechnungen über das Verhältniß der Verurtheilungen zu der Zahl der jugendlichen Civilbevölkerung im Reiche und in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken wegfallen.

Während des Berichtsjahrs sind im Ganzen 44384 jugendliche Personen verurtheilt worden; das sind 2112 weniger als im Jahre 1892, in welchem die bisher höchste Zahl zu verzeichnen war, und 1170 weniger als im Jahre 1894. Wenn also, wie im ersten Abschnitte gezeigt, die Zahl der Verurtheilten überhaupt im Berichtsjahre höher ist als im Vorjahre, so ist dies ausschließlich auf die Vermehrung der Verurtheilungen Erwachsener zurückzuführen.

Nach dem Ergebniß der neuen Berechnungen über den Stand der jugendlichen Bevölkerung des Reichs in den Jahren zwischen den beiden letzten Volkszählungen ist übrigens bereits mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß diese Altersklasse seit dem Jahre 1893 abgenommen hat. Indeß scheint die Abnahme, soweit das Berichtsjahr in Betracht kommt, nicht erheblich zu sein. Daher ist anzunehmen, daß der Rückgang in der absoluten Zahl der Verurtheilungen Jugendlicher thatsächlich auch eine Abschwächung der Kriminalität der Jugendlichen bedeutet. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die im vorigen Jahrgange für das Jahr 1894 berechnete Kriminalitätsziffer voraussichtlich zu niedrig angenommen worden ist.

Von den einzelnen Gattungen der Verbrechen und Vergehen, für die im ersten Abschnitt eine Zunahme der Verurtheilungen überhaupt gegenüber dem Vorjahre nachzuweisen war, zeigen nur Körperverletzungen, strafbarer Eigennutz sowie die Verletzungen der Eidespflicht eine Zunahme der Verurtheilungen Jugendlicher.

Am stärksten haben sich auch bei den Jugendliche die Verurtheilungen wegen Körperverletzung vermehrt und zwar um 288 oder 3,5%. Die Zunahme der Verurtheilungen Jugendlicher wegen strafbaren Eigennutzes und Verletzung fremder Geheimnisse beträgt 162 oder 26,8%. Sie hat hauptsächlich darin ihren Grund, daß wegen der zu dieser Gruppe gehörigen Jagd- und Fischereivergehen 161 Jugendliche mehr verurtheilt worden sind als im Vorjahre. Die gleiche Erscheinung zeigt sich auch bei den Erwachsenen, von denen 1354 mehr als im Jahre 1894 wegen dieser Vergehen bestraft wurden. Da jedoch bei dem fraglichen Vergehen schon mehrfach starke Schwankungen zu beobachten waren[1], so wird der Zunahme im Berichtsjahre zunächst keine besondere Bedeutung beigelegt worden können. Bei dem zu der nämlichen Gattung gehörigen Vergehen der Verletzung fremden Gebrauchs- oder Zurückhaltungs-Rechts ist das preußische Gesetz, betreffend die Rechte des Vermiethers an den in die Miethsräume eingebrachten Sachen, vom 12. Juni 1894 auch bei den Jugendlichen nicht ohne Einfluß gewesen; die Verurtheilungen wegen dieses Vergehens, die sich in den letzten Jahren fortgesetzt vermehrt hatten und im Vorjahre noch 42 betrugen, sind auf 28 zurückgegangen. Wegen Verletzungen der Eidespflicht sind im Berichtsjahre 23 Personen oder 49% mehr verurtheilt worden als im Vorjahre. In dieser verhältnißmäßig erheblichen Vermehrung wird man jedoch ein bedenkliches Anzeichen noch nicht erblicken dürfen, da bei der Geringfügigkeit der Zahlen Zufälligkeiten nicht ausgeschlossen sind. Außer den drei vorstehend besprochenen Deliktsgattungen haben noch die Verbrechen und Vergehen, welche sich auf die Religion beziehen, sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt, bei denen die Verurtheilungen im Allgemeinen abgenommen haben, eine Zunahme der Verurtheilungen Jugendlicher aufzuweisen. Indeß ist auch die Vermehrung der Verurtheilungen Jugendlicher sehr unbedeutend; sie beträgt bei den Ersteren 3 oder 4,9% bei den Letzteren 5 oder 1,1%

Die übrigen Gattungen von Verbrechen und Vergehen weisen zum Theil keine Veränderung, zum Theil eine Abnahme der absoluten Zahlen auf.

Die erheblichste Abnahme ist auch hier bei Diebstahl und Unterschlagung zu verzeichnen. Es sind 972 oder 3,9% Jugendliche weniger verurtheilt worden als im Jahre 1894. Diese Abnahme ist jedoch allein durch den Rückgang der Verurtheilungen wegen Diebstahls veranlaßt, der 1050 oder 4,5% beträgt. Wegen Unterschlagung sind 78 Jugendliche mehr verurtheilt als im Vorjahre.

Im Gegensatz zu der bisherigen Entwicklung ist für das Berichtsjahr auch bei der Sachbeschädigung ein Rückgang festzustellen und zwar um 294 oder 10,2%; die Verurtheilungen wegen Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit, deren stetige beträchtliche Zunahme bisher nur einmal im Jahr 1888 unterbrochen worden war, zeigen im Berichtsjahre gleichfalls eine Abnahme, die sich auf 125 oder 8,8% beläuft. Weniger ins Gewicht fällt die Abnahme der Verurtheilungen wegen Majestätsbeleidigung, Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung, Beleidigung, Verbrechen und Vergehen wider das Leben, Verbrechen und Vergehen wider die persönliche Freiheit, Raub und Verbrechen und Vergehen im Amte, da bei der Abnahme der jugendlichen Bevölkerung die geringfügige Verminderung der absoluten Ziffern eine Abnahme der Kriminalitätsziffern nicht zur Folge haben dürfte.

II. Die Uebersichten 12 bis 14 setzen die im vorigen Jahrgang in den Uebersichten 22 bis 24 begonnenen Nachweisungen darüber fort, in welchem Umfange Freisprechungen Jugendlicher auf Grund des §56 des Strafgesetzbuches erfolgt sind. Wegen der Bedeutung dieser Nachweisungen kann auf die Ausführungen im vorigen Jahrgange Seite I.53 verwiesen werden. Die Einrichtung der Uebersichten ist die gleiche geblieben. Die erste bringt die Zahlen der Freisprechungen für die einzelnen Verbrechen und Vergehen die zweite berechnet das Verhältniß dieser Freisprechungen zu den Verurtheilungen, die dritte macht ersichtlich, welche Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken in der Anwendung der bezeichneten Gesetzesbestimmung bestehen.

Die Gesammtzahl der Freisprechungen auf Grund des §56 beträgt im Berichtsjahre 1578 gegen 1615 im Vorjahre. Die geringe Abnahme der Zahl entspricht ungefähr der im Vorstehenden besprochenen Abnahme der Verurteilungen. Sie macht 2,3% der Freisprechungen im Jahre 1894 aus, während die Abnahme der Verurtheilungen 2,5% beträgt. So ist auch das Verhältniß zu den Verurtheilungen fast das gleiche geblieben. Auf 100 Verurtheilungen kamen im Jahre 1894 3,5, im Berichtsjahre 3,6 Freisprechungen der fraglichen Art.

Wie sich diese Freisprechungen auf die einzelnen Gattungen von Verbrechen und Vergehen vertheilen, ist im vorigen Jahrgange näher gezeigt worden. Im Berichtsjahre sind nur geringe Abweichungen festzustellen, die das Gesammtbild nicht ändern.

[]

Anmerkungen

[1] Die Zahl der Verurtheilungen Jugendlicher wegen Jagd- und Fischereivergehen beitrug 1890 464, 1891 664, 1892 494, 1893 658, 1894 511.

Quelle: „Kriminalstatistik für das Jahr 1895: Die Jugendlichen“, Statistik des Deutschen Reiches, herausgegeben vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Neue Folge, Bd. 89. Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht, 1898, S. 34–35. Online verfügbar im Internet Archive, https://archive.org/details/statistikdesdeu02reicgoog/page/n48

Kriminalstatistik für das Jahr 1895: „Die Jugendlichen“ (1898), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-135> [24.10.2024].