Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik (1750-58)

Kurzbeschreibung

Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der zunächst in Halle, später in Frankfurt/Oder Professor war, wird die Prägung des Begriffs „Ästhetik“ als der Philosophie (oder Wissenschaft) von Kunst und Schönheit zugeschrieben. Baumgartens Schriften stehen in der philosophischen Tradition von Christian Wolff. Er verteidigt die philosophische Betrachtung der „unteren“ Sinne. Die Wissenschaft von der Ästhetik, fordert er in diesem Auszug, solle theoretisch informiert, an Regeln der Interpretation ausgerichtet (heuristisch) und methodologisch sein. Später sollte dies zu einem wichtigen Kriterium für die Philosophen und Kritiker seines eigenen Jahrhunderts werden, darunter Lessing, Winckelmann, Goethe und Kant.

Quelle

VORBEMERKUNGEN

§ 1 DIE ÄSTHETIK (Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst des Analogons der Vernunft) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.

§ 2 Der natürliche, nur durch den Gebrauch, ohne dogmatische Lehre beförderte Grad der Verfassung der unteren Erkenntnisvermögen kann die NATÜRLICHE ÄSTHETIK genannt und, gleichwie man es bei der natürlichen Logik zu tun pflegt, in eine angeborene – den angeborenen schönen Geist – und eine erworbene Ästhetik unterschieden werden, und diese wiederum in eine lehrende und eine ausübende.

§ 3 Der höhere Nutzen der zur natürlichen hinzutretenden künstlichen Ästhetik wird, unter anderen, der sein, daß sie 1) den Wissenschaften, die sich vornehmlich auf die Verstandeserkenntnis gründen, einen geeigneten Stoff bereitstellt, 2) wissenschaftlich Erkanntes der Auffassungsgabe jedwedes Menschen anpaßt, 3) die Verbesserung der Erkenntnis auch über den Maueranger der von uns deutlich erkannten Dinge hinaus erweitert, 4) geeignete Grundsätze für alle sanftmütigeren Bestrebungen und alle freien Künste darreicht, 5) im gemeinen Leben, wenn die übrigen Umstände die gleichen sind, bei allen Dingen, die zu tun sind, Vorzüge besitzt.

§4 Hieraus ergeben sich ihre besonderen Nutzanwendungen: 1) eine philologische, 2) eine hermeneutische, 3) eine exegetische, eine rhetorische, 5) eine homiletische, 6) eine poetische, 7) eine musische usw.

§ 5 Man mag gegen unsere Wissenschaft einwenden, 1) daß sie sich allzu weit erstrecke, als daß sie in einem Büchlein, in einer Vorlesung könne erschöpft werden. Ich antworte, indem ich dies zugebe. Aber etwas ist besser als nichts. 2) Daß sie ein und dasselbe sei mit der Rhetorik und Poetik. Ich antworte: a) Sie erstreckt sich weiter, b) sie umfaßt Dinge, die diesen und anderen Künsten gemein­sam sind und die sie auch unter sich gemeinsam haben, durch die, nachdem sie hier an dem ihnen zukommenden Ort ein für allemal durchdrungen wurden, jedwede Kunst ihren jeweiligen Grund und Boden ohne unnütze Tautologien glücklicher bearbeiten mag. 3) Daß sie ein und dasselbe sei mit der Kritik. Ich antworte: a) Es gibt auch eine logische Kritik, b) eine gewisse Art der Kritik ist ein Teil der Ästhetik, c) für diese ist ein gewisser Vorbegriff der ganzen übrigen Ästhetik beinahe unerläßlich, wenn man in der Beurteilung von schön Gedachtem, Gesagten und Geschriebenen nicht über den bloßen Geschmack gelehrt streiten will.

§ 6 Man mag gegen unsere Wissenschaft einwenden, 4) daß Sinnliches, Einbildungen, Märchen, die Wirrnisse der Leidenschaften usw. den Philosophen unwürdig seien und unter ihrem Horizont lägen. Ich antworte: a) Ein Philosoph ist ein Mensch unter Menschen, und er tut nicht gut daran, wenn er glaubt, ein so großer Teil der menschlichen Erkenntnis sei ungehörig für ihn, b) die allgemeine Theorie des schön Gedachten wird hier mit der Praxis und Ausübung im einzelnen verwirrt.

§ 7 Man mag einwenden: 5) Die Verwirrung ist die Mutter des Irrtums. Ich antworte: a) Aber sie ist die unerläßliche Bedingung zur Auffindung der Wahrheit, weil die Natur keinen Sprung macht aus der Dunkelheit in die Deutlichkeit. Aus der Nacht führt die Morgenröte zum Mittag. b) Deswegen muß man für die Verwirrung Sorge tragen, damit aus ihr keine Irrtümer entstehen, wie sie alle und in großer Menge bei denen auftreten, die sich nicht um sie bekümmern, c) Es wird nicht die Verwirrung empfohlen, sondern die Erkenntnis verbessert, insofern jener notwendigerweise etwas an Verwirrung beigemischt ist.

§ 8 Man mag einwenden: 6) Die deutliche Erkenntnis ist besser. Ich antworte: a) Bei einem begrenzten Geist nur bei wichtigeren Dingen, b) die Setzung des einen bedeutet nicht die Ausschließung des anderen, c) deswegen gehen wir geradewegs zuerst gemäß deutlich erkannten Regeln zu den Dingen, die auf schöne Weise erkannt werden müssen, aus denen dann bisweilen eine um so vollkommenere Deutlichkeit hervorgehen mag.

§ 9 Man mag einwenden: 7) Es muß befürchtet werden, daß durch die Pflege des Analogons der Vernunft das Land der Vernunft und der Gründlichkeit einen Schaden erleidet. Ich antworte: a) Dieses Argument gehört zu denen, die mehr Beweiskraft besitzen, weil es ebendiese Gefahr ist, die, wann immer eine zusammengesetzte Vollkommenheit erstrebt wird, zur Behutsamkeit mahnt und dazu rät, die wahre Vollkommenheit nicht zu vernachlässigen, b) Ein nicht gepflegtes und einigermaßen verderbtes Analogon der Vernunft ist der Vernunft selbst und der strengeren Gründlichkeit nicht weniger hinderlich.

§ 10 Man mag einwenden: 8) Die Ästhetik ist eine Kunst, keine Wissenschaft. Ich antworte: a) Dies sind keine gegensätzlichen Fertigkeiten. Wie viele Künste, die einst nur dies waren, sind heute nicht zugleich Wissenschaften? b) Daß unsere Kunst wissenschaftlich erwiesen werden kann, beweist die Erfahrung und ist a priori offenbar, weil die Psychologie usw. Grundsätze hierfür darbietet, die gewiß sind. Daß sie es verdient, zu einer Wissenschaft erhoben zu werden, lehren die Nutzanwendungen, die, unter anderen, in §§ 3,4 angeführt wurden.

§ 11 Man mag einwenden: 9) Ästhetiker werden – ebenso wie die Dichter – geboren, Ästhetiker kann man nicht werden. Ich antworte mit Horaz, Cicero, Bilfinger, Breitinger: Eine vollständigere, durch die Autorität der Vernunft noch empfehlenswertere, genauere, weniger verworrene, gewissere und weniger unsichere Theorie unterstützt den geborenen Ästhetiker.

§12 Man mag einwenden: 10) Die unteren Vermögen und das Fleisch müssen eher besiegt als aufgeweckt und bestärkt werden. Ich antworte: a) Bei den unteren Vermögen ist eine Herrschaft, keine Tyrannei erforderlich, b) Hierzu, sofern dies auf natürliche Weise erreicht werden kann, führt uns die Ästhetik gleichsam bei der Hand, c) Die unteren Vermögen dürfen von den Ästhetikern nicht, insofern sie verderbt sind, erweckt und bestärkt werden, sondern sie müssen von ihnen gelenkt werden, damit sie nicht durch verkehrte Übungen noch mehr verderbt werden und damit uns nicht unter dem faulen Vorwand, daß ein Mißbrauch vermieden werden müsse, der Gebrauch einer uns von Gott gegebenen Gabe genommen wird.

§ 13 Unsere Ästhetik ist, gleichwie die Logik, ihre ältere Schwester, I) THEORETISCH, lehrend, allgemein, Teil I, indem sie Regeln vorgibt: 1) HEURISTISCH hinsichtlich der Sachen und der zu denkenden Dinge, Kap. I, 2) hinsichtlich der lichtvollen Ordnung, als METHODOLOGIE, Kap. II, 3) hinsichtlich der Zeichen des schön Gedachten und Angeordneten, als SEMIOTIK, Kap. III. Sie ist II) PRAKTISCH, ausübend, Besonderes betreffend, Teil II. Für beide Seiten gilt:

Wer seinem Können gemäß sich das Thema gewählt hat,
dem wird es nicht an sprachlicher Kraft noch an lichtvoller Anordnung fehlen.

Der Sache soll deine erste Sorge gelten, der lichtvollen Ordnung die zweite, und die Zeichen sollen an letzter Stelle dein drittes Besorgnis sein.

Quelle: Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik (1750-58). Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach. Bd. 1. Lateinisch-deutsch. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2007, S. 11–18. © 2009 Felix Meiner Verlag, Hamburg. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik (1750–58). Philosophische Bibliothek 572a/b.

Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik (1750-58), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-136> [29.11.2023].