Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752)

Kurzbeschreibung

Mit diesem frühen Werk des deutschen Historismus leistete Johann Martin Chladenius (1710–1769) die Vorarbeit für wichtige Entwicklungen in der Hermeneutik und der Textinterpretation. Der Auszug bezieht sich auf Chladenius’ Ideen zur Perspektive und zur Transformation von Geschichte in ein Narrativ. Angesichts des frühen modernen Wiederauflebens des Skeptizismus hinsichtlich des „Wissenkönnens“ von Tatsachen hielt Chladenius an dem Glauben an die Realität von Ereignissen, Objekten und historischen Individuen fest. Er bestand jedoch darauf, dass sich das historische Wissen von anderen Wissensformen unterschied (beispielsweise in den Naturwissenschaften) und dass man die Perspektive berücksichtigen müsse, aus der heraus diese Tatsachen erkannt oder berichtet würden.

Quelle

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Sechstes Capitel, von der Verwandelung der Geschichte im erzehlen.

§. 1. Inhalt dieses Capitels.

Wenn man die wahre Beschaffenheit der Geschichte, oder vielmehr der Erzehlungen recht einsehen will, so ist nicht genug, daß wir wissen, wie die Begebenheiten denen Zuschauern auf verschiedene Weise, gleichsam als in Spiegeln von verschiedener Gattung und Stellung vorgestellet werden, wie solches im vorigen Capitel ausgefhret worden; sondern wir mssen auch noch eine andere Handlung der Seele, welche vor der Erzehlung vorhergehet, bemercken, welche wir die Verwandelung der Geschichte nennen wollen; weil die Begebenheit niemahls vollkommen so, wie sie empfunden worden, erzehlet wird, sondern vielmehr nach einem gewissen Bilde, welches aus der Empfindung und deren Vorstellung durchs Gedchtniß herausgezogen wird. Denn wir erzehlen die Sachen nicht in der Empfindung, und whrender Vorstellung, sondern nach derselben: und richten uns also nach dem Bilde, welches durch die Empfindung in unsere Seele ist eingeprgt worden. Da nun dieses schon nicht der Empfindung vollkommen gleich ist, so wird noch erst mancherley Vernderung damit vorgenommen, so bald als der Vorsatz, die Sache andern zu erzehlen, darzu kommt.

§. 2. Nothwendige, Theilung der Begebenheiten, die zugleich vorgegangen.

In der Empfindung werden uns viele Sachen zugleich vorgestellt, die sich bey der vorhabenden Erzehlung einer Sache unmglich auf einmahl ausdrucken lassen. Bey einer Solennitt werden zugleich die Glocken gelutet, und die Stcken gelset: aber ich kan beydes nicht auf einmahl erzehlen, sondern eines muß auf das andere warten. Ein Menschengesichte sehe ich zugleich und auf einmahl, aber ich kan es nicht auf einmahl beschreiben. Und so bestehen fast alle eintzelne Empfindungen aus so vielen Umstnden, daß sie, ob sie gleich auf einmahl empfunden werden, dennoch nicht auf einmahl knnen erzehlet werden. Hieraus entstehet nun offte eine Schwierigkeit, wo man die Erzehlung, oder Beschreibung anfangen solle? Fnget man sie aber nicht bey dem rechten Ende an, so entstehet hernach eine Verwirrung, daß man aus der Sache nicht klug werden kan, oder daß die Sache wenigstens unlustig und unangenehm zu hren und zu lesen wird.

§. 3. Nothwendige Weglassung vieler Umstnde.

In der Empfindung ist sehr vieles, ja alles determinirt, nach der Lnge, Grsse, Breite, die wir nur nach dem Augenmasse, auch wohl deutlich, angeben knnen: nach der Zahl, wenn der Sachen nicht allzuviel sind, als wie viel Tische, Sthle, Spiegel vorhanden sind; nach der Farbe, welche durch Staub und andere Umstnde sich gar sehr ndern kan, ohne daß noch dieselbe ihren Nahmen oder Gattung verndert: auch nach dem Grade: als bey der Wrme, bey dem Lichte u. s. w. Dieses alles ist nicht allein schwer mit Worten auszudrucken, sondern auch beraus weitlufftig; so daß man mit Beschreibung einer gemachten sehr kurtzen Visite gar leicht ein paar Stunden zubringen knte. Diese beyden Schwierigkeiten nthigen den gewesenen Zuschauer, daß er bey seiner vorhabenden Erzehlung eine Menge von individuellen Umstnden auslsset, und auslassen muß. Man untersuche nur, wenn man erzehlet, wie es in einer Kirche, in einem Saale, in einer Werckstte, auf einer Gasse ausgesehen, ob man nicht allezeit, auch wenn man auf das ausfhrlichste die Sache erzehlen und beschreiben will, dennoch gar sehr vieles weglsset, und im Sinne behalte.

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§. 8. Bedchtliche Aussonderung gewisser Stcke der Begebenheit.

Da der Sehepunckt eines Zuschauers schon so viel verursacht, daß die Zuschauer die Sache nicht auf einerley Weise ansehen (§. 8. seqq. C. 5.); so gilt dieses nochmehr von einer Geschichte, wenn es mit derselben zur Erzehlung kommt. Beym Zuschauen sind wir nicht vllig Meister, was wir wahrnehmen wollen, weilen es hauptschlich darauf ankommt, was unsere Sinnen am meisten und strcksten in Bewegung setzet. Ein Kleid mit vielen grossen Diamanten wird bey einer grossen Solennitt auch solche Zuschauer aufmercksam machen, welche nichts weniger willens waren, als auf den Kleiderpracht achtung zu geben: sie werden die Macht des funckelnden Lichtes sphren. Ein bellender Hund macht auch die aufmercksamsten Zuhrer irre. Kurtz, wir wissen, daß wir unsere Sinne nicht vllig in unserer Gewalt haben (S. v. Wolfs Gedancken von GOtt, der Welt &c. §. 226.). Wenn wir aber die Vorstellung der Sache einmahl in Sinn gefasset haben, denn sind wir Meister von unserer Vorstellung; dabey kan hernach jeder nach seinem Sehepunckte recht frey gedencken. Und da gehet auch hauptschlich das an, was wir gewiesen haben, daß man die Sachen nur immer auf einer Seite ansehe (§. 13. C. 5.), und dabey eine gewisse Einsicht ussere (§. 14. C. 5.). Wir lassen nehmlich weg, was uns nicht anstehet, und lassen solche Umstnde bey uns dunckel werden; und wir beschfftigen uns mit dem, was uns gefllet, oder zu unsern Umstnden dienet: welches denn in unsere Erzehlungen, wenn wir es gleich nicht mercken, und nicht willens sind, etwas daran zu ndern, dennoch einen grossen Einfluß hat: ffters aber auch wissentlich und vorsetzlich geschiehet.

§. 9. Einrichtung der Erzehlung nach einer gewissen Absicht.

Denn es muß doch, wenn wir etwas erzehlen wollen, eine Ursach vorhanden seyn, warum wir es erzehlen wollen; deren sich verschiedene Arten gedencken lassen. 1. Hat der Mensch einen natrlichen Trieb, seine Gedancken andern bekannt zu machen; und es ist wie eine grosse Erleichterung des Hertzens, wenn wir unsere Angelegenheiten, welche nichts anders als Geschichte sind, andern erffnen drffen. Dies ist die erste Quelle vieler Erzehlungen; bey welcher insbesondere zu mercken ist, daß ein jeder bald merckt, es sey einem andern mit Anhrung alltglicher Geschffte und Begebenheiten wenig gedienet, als die er vor sich selbst wissen kan (§. 8. C. 4.); daher suchet denn ein jeder seine Erzehlung nach seinem Vermgen so einzurichten, daß sie ein sonderbares, oder gar wunderbares Ansehen bekomme, und was neues sey. 2. Ist jeder, dem was aufgetragen worden zu erkundigen, oder auszurichten, verbunden, von dem, was geschehen, und wie er die Sachen befunden, Bericht abzustatten. Dabey wird hauptschlich das Umstndliche erfordert. 3. Offters erzehlet einer dem andern etwas zum Schertz und Zeitvertreib; wobey nothwendig das Verdrßliche wegbleiben muß; ausser in so ferne es auf einer plaisanten Seite vorgestellet werden kan. 4. Hauptschlich aber erzehlen wir, daß sich der Zuhrer darnach richten, und eine Entschlssung fassen soll, und denn ist klar, daß man hierbey nur so viel aus der uns beywohnenden Geschichte heraus zu nehmen habe, als zu dem Geschffte und zu der Entschlssung dienen kan: so wird wegen der verschiedenen Absichten die Erzehlung immer etwas anders aussehen, als die Empfindung, worauf sich die Erzehlung grndet, beschaffen war. Und diese Arten, die Geschichte zu verwandeln, sind principia Logicæ naturalis, die von selbst sich in der Seele ussern; und als eine angebohrne Erzehlungskunst knnen angesehen werden.

§. 10. Grosse Geschichte werden in eine Begebenheit verwandelt.

Nun haben fast alle mgliche Arten der Begebenheiten ihre allgemeinen Begriffe und Arten, die so gar im gemeinen Leben bekannt sind (§. 21. C. 4.): diese fallen nun nebst denen dazu gehrigen Worten einem Zuschauer nothwendig ein: er wird also unter andern Verkehrungen, auch diese Vernderung, dessen, was er gesehen und angeschauet hat, vornehmen, daß er die gantze Geschichte auf einen solchen allgemeinen Begriff reducirt, und als eine einige Begebenheit in einem eintzigen Satze vorstellet, der nur sehr wenige Merckmahle einer individuellen Begebenheit, als der Zeit, oder der Personen, oder des Ortes, als die nothwendigsten (§. 21. C. 4.), in sich enthlt: Z. E. es erzehlt jemand ein Beylager, eine Belagerung, eine Gesandschafft, eine Mißion, wo er dabey gewesen ist. Da wir Geschichte von vielen Jahren und Jahrhunderten, als eine Geschichte anzusehen pflegen: als der dreißigjhrige Krieg: die Kriege der Nachfolger des Alexanders: so ist das wenige, wobey ein eintzelner Mensch einen Zuschauer abgegeben, noch leichter in eine solche Krtze zusammen zu fassen.

§. 11. Das Hauptwerck aus einer Geschichte heraus nehmen.

Wenn eine Geschichte in einen einigen Satz verwandelt wird, so heisset dieser Satz und was darinnen angegeben wird: das Hauptwerck, der Hauptpunckt, die Substantz der Historie. Es ist also eine bey der Erzehlung merckwrdige Vernderung der Geschichte, daß man das Hauptwerck heraus nimmt (§. 10.). Dieses ist gemeiniglich das, was auch diejenigen, die am wenigsten von der Sache wissen, dennoch wissen und in Erfahrung bringen, da hingegen die Zuschauer in Ansehung der Umstnde und Particularitten verschiedene Nachrichten zu haben pflegen. Der Ursprung dieses Begriffes aber giebt zu erkennen, daß das Hauptwerck doch nicht lediglich von der innerlichen Beschaffenheit der Sache, sondern hauptschlich mit vom Zuschauer abstamme, der nach seiner Einsicht dasjenige, was er an der Geschichte wahrgenommen, in einen einigen Satz zusammen ziehet.

§. 12. Urbild und Erzeugung der Erzehlung.

Alle Vorstellungen der Dinge werden Bilder genennet; zumahl wenn es Dinge sind, die sich durch die Augen erkennen lassen. Nunmehro sehen wir also, wie das Bild der Geschichte, welches ein Zuschauer durch seine Sinne erhalten hat, gendert werde, ehe es zur Erzehlung kommt, und zwar auf so verschiedene Weise: als durch Theilung der Dinge die zugleich geschehen (§. 2.); durch Vermischung der Empfindung und der Begebenheit (§. 5.); durch allgemeine Ausdrcke (§. 4.); durch unvermeidliche Auslassung vieler individuellen Umstnde (§. 3.); durch unvorsetzliches Vergrssern und Verkleinern (§. 6.); durch die Bildung allgemeiner Anmerckungen (§. 7.); durch Herauslassung vieler Stcke (§. 8.), und das auf verschiedene Weise (§. 9.); endlich durch Verwandelung der gantzen Geschichte in eine einige Begebenheit (§. 10.); welches denn alles auch wohl in einer einigen Erzehlung zusammen kommt. Damit wir nun von diesen Bildern einer einigen Begebenheit ohne Vermengung reden, und Lehrstze geben knnen: so wollen wir die Vorstellung einer Geschichte, wie sie lediglich anfangs durch die Sinne ist hervorgebracht worden, das Urbild der Geschichte nennen; die Vernderungen aber die mit diesem Bilde vorgehen, ehe es zur Erzehlung kommt, wollen wir die Erzeugung der Erzehlung nennen.

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Quelle: Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752, S. 115–18, 122–27. Online verfügbar unter: http://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/151

Frederick C. Beiser, Chladenius and the New Science of History in the German Historicist Tradition. Oxford: Oxford University Press, 2011.

Peter Hassel, „Geschichtsdidaktik im 18. Jahrhundert: Johann Martin Chladenius“, in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 42 (1991), S. 22–29.

Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-28> [23.10.2024].