Christian Wolff, Vernünftige Gedanken [Deutsche Logik] (1712)
Kurzbeschreibung
Im Vorwort zu diesem Werk, das unter dem Titel Deutsche Logik bekannt wurde, definiert Christian Wolff (1679–1754) die Philosophie und ihre verschiedenen Bereiche. Wolffs Lehrbuch erschien zuerst 1712 und wurde häufig nachgedruckt. Sein Ziel war es, eine einheimische Philosophie zu vermitteln, die zugleich zugänglich und praktisch war. Wolff entwickelte seine Philosophie durch ein komplexes und sorgfältiges System von Beweisführungen und Schlussfolgerungen. Seine zahlreichen Werke im Bereich der Logik, der Metaphysik, der Mathematik, der Psychologie und der natürlichen Theologie stellten bis Kant die Grundlage für die deutsche akademische Philosophie dar.
Quelle
Vorbericht von der Welt-Weisheit
Was Welt-Weisheit ist.
§. 1. Die Welt-Weisheit ist eine Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind.
Was Wissenschaft ist.
§. 2. Durch die Wissenschaft verstehe ich eine Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun. Welche Gründe unwidersprechlich sind, und wie man etwas auf unumstößliche Weise darthut, wird in gegenwärtigen Gedancken von dem Gebrauche der Kräfte des Verstandes in Erkäntniß der Wahrheit dargethan werden. (Wolffi Logick.)
Was möglich ist.
§. 3. Möglich nenne ich alles, was seyn kan, es mag entweder würcklich da seyn, oder nicht.
Alles hat einen Grund, warum es ist.
§. 4. Weil von nichts sich nichts gedencken lässet; so muß alles, was seyn kan, einen zureichenden Grund (oder eine raison) haben, daraus man sehen kan, warum es vielmehr ist, als nicht ist: welches an seinem Orte (§.30.31. Met.) weiter erwiesen wird.
Erkäntniß eines Welt-Weisen
§. 5. Solchergestalt muß ein Welt-Weiser nicht allein wissen, daß etwas möglich sey, sondern auch den Grund anzeigen können, warum es seyn kan (§. 1.2.). Es ist z. E. nicht genung, daß ein Welt-Weiser weiß, es könne regnen, sondern er muß auch sagen können, wie es zugehet, daß es regnet, und aus was für Ursachen es regnet.
Wie sie von der gemeinen unterschieden.
§ 6. Hierdurch wird die gemeine Erkäntniß von der Erkäntniß eines Welt-Weisen unterschieden. Nemlich einer, der die Welt-Weisheit nicht verstehet, kan wohl auch aus der Erfahrung vieles lernen, was möglich ist: allein er weiß nicht den Grund anzuzeigen, warum es seyn kan. Z. E. Er lernet aus der Erfahrung, daß es regnen könne, kan aber nicht sagen, wie es zugehet, daß es regnet, noch die Ursachen anzeigen, warum es regnet.
Nutzen der Erkäntniß eines Welt-Weisen.
§ 7. Nun könten wir zwar meinen, die gemeine Erkäntniß sey zulänglich genung, die Glückseeligkeit des menschlichen Lebens zu befördern: allein, da alle Dinge nur unter gewissen Umständen angehen; so kan derjenige, der nur eine gemeine Erkäntniß davon hat, öfters einen Umstand übersehen, und alsdenn vor allgemein ausgeben, was nur in gewissen Fällen eintrift. Die Erfahrung lehret solches zur Gnüge. Z. E. Man siehet, daß man gegen einen Nothleidenden mitleidig wird, wenn man seinen Jammer erkennet, und bildet sich daher als allgemein ein, so man einen mitleidig machen wolle, dörffe man ihm nur die Noth des Elenden vorstellen. Gleichergestalt siehet man in den Gärten, daß der Roßmarin fortgepflanzet wird, wenn man junge Zweiglein abschneidet, und mit dem unteren Theile in die Erde stecket. Man würde sich aber sehr betrügen, wenn man solches mit allen Gewächsen, die beständig sind, vornehmen wolte. Hingegen ein Welt-Weiser darf sich nicht fürchten, daß er seine Sätze unrecht anbringe, indem er die Ursache weiß, warum und wenn sie zutreffen müssen (§ 6.), als in dem ersten Exempel, daß die Vorstellung der Noth des Elenden alsdenn erst mitleidig mache, wo das Gemüthe vorher geneigt ist, an des andern Glücke sich zu vergnügen; und in dem anderen Exempel, daß ein Zweiglein, so in die Erde gestecket wird, Wurtzeln schlage, wenn ein Knoten in die Erde komme, das Zweiglein nicht leicht verwelcket und die Rinde von den durchbrechenden Wurtzeln sich leicht durchbohren lässet. Er kan über dieses aus denen erkandten Wahrheiten andere unbekandte erfinden, und schöpffet aus seiner Erkäntniß ein so süsses Vergnügen, dergleichen uns nichts anders in der Welt gewehren kan.
Einwurf wider die Erklärung der Welt-Weisheit.
§ 8. Vielleicht werden sich einige verwundern, daß sich die Welt-Weisheit auf alle mögliche Dinge erstrecken soll, da doch der Allerweiseste unter der Sonnen sich nicht weiter rühmen kan, als er habe nur einen gantz geringen Theil davon begriffen. Wäre es also nicht besser, daß man die Beschreibung der Welt-Weisheit nicht so hochmüthig einrichtete?
Beantwortung desselben.
§ 9. Wem diese Gedancken einfallen, dem gebe ich zu bedencken, daß es allerdinges viel rathsamer sey, man richte die Beschreibung der Welt-Weisheit nach ihrer grösten Vollkommenheit ein, die sie in sich haben kan, als entweder nach seinem eigenen, oder eines andern Mannes Begriffe, den er davon erlanget. Denn auf solche Weise werden dem Wissen keine unnöthige Schrancken gesetzet, wodurch viele abgehalten werden, denen Sachen weiter nachzudencken, und demnach viele nützliche Erfindungen zurücke bleiben: wie es diejenigen Zeiten zur Gnüge ausweisen, da man glaubte, Aristoteles habe in der Welt-Weisheit das weiteste Ziel erreichet, dahin menschlicher Verstand gelangen kan. Vielmehr wird ein jeder aufgemuntert, weiter als seine Vorgänger zu gehen, indem er siehet, daß noch gar viel zu erfinden übrig ist: wie es die gegenwärtigen Zeiten sonderlich bey den Mathematicis zeigen. Man wird auch zugleich gedemüthiget, daß man sich seiner vermeinten hohen Gaben nicht überhebet, indem man erkennet, der gröste Theil desjenigen, so wir wissen, sey der geringste von denen Dingen, die wir noch nicht wissen. Und überhaupt ist bekandt, daß man die Sachen, welche verschiedene Grade haben können, jederzeit allgemein, ohne auf einen gewissen Grad seine Absicht zu richten, zu erklären pfleget. Z. E. Unter denen, die mäßig sind, besitzet nicht ein jeder die Mäßigkeit in einem gleichen Grade. Wenn man nun die Mässigkeit erklären soll; richtet man sich nicht nach dem Grade, in welchem die Mäßigkeit bey diesem oder jenem Manne anzutreffen, sondern man erkläret sie so, wie sie seyn soll, wenn sie den höchsten Grad erreichet, damit nichts weiter daran auszusetzen ist.
Erster Theil der Welt-Weisheit.
§ 10. Wenn wir auf uns selbst acht haben; so werden wir überführet, es sey in uns ein Vermögen zu gedencken, was möglich ist, welches wir den Verstand zu nennen pflegen. Allein, wie weit sich dieses Vermögen erstrecke, und wie man sich desselben bedienen müsse, so wohl durch eigenes Nachsinnen die uns verborgene Wahrheit zu erkennen, als die von andern an das Licht gestellete vernünftig zu beurtheilen, fället nicht gleich einem jeden in die Augen. Derowegen damit wir wissen, ob wir zu der Welt-Weisheit geschickt sind, oder nicht; soll dieses unsere erste Arbeit seyn, daß wir die Kräfte des menschlichen Verstandes und ihren rechten Gebrauch in Erkäntniß der Wahrheit erkennen lernen. Der Theil der Welt-Weisheit, darinnen dieses gezeiget wird, heisset die Logick, oder Vernunft-Kunst, oder auch Vernunft-Lehre.
Anderer Theil.
§ 11. Unter denen Dingen, die möglich sind, muß eines nothwendig selbstständig seyn, denn sonst wäre etwas möglich, davon man keinen Grund anzeigen könnte, warum es ist, welches dem zuwider lieffe, so bereits oben (§ 4.) bestätiget worden. Das selbstständige Wesen nennen wir GOtt: die anderen Dinge, welche ihren Grund, warum sie sind, in dem selbstständigen Wesen haben, heissen Creaturen. Da nun die Welt-Weisheit den Grund zeiget, warum etwas seyn kan (§ 5.); so muß billig die Lehre von GOtt, oder dem selbstständigen Wesen erst vorgenommen werden, ehe man sich auf eine genaue Erkäntniß der Creaturen leget, die man bis auf die ersten Gründe hinaus führet, oder vielmehr aus ihnen herleitet, ob wir zwar nicht leugnen, daß einer eine gemeine Erkäntniß derselben zuvor haben muß, die er aber nicht nöthig hat, aus der Welt-Weisheit zu holen, indem wir durch die tägliche Erfahrung von Jugend auf dazu gelangen (§ 6.). Der Theil der Welt-Weisheit, darinnen von GOTT und dem Ursprunge der Creaturen von ihm gehandelt wird, heisset die natürliche Theologie oder Gottes-Gelehrtheit.
Dritter Theil.
§ 12. Die Creaturen äussern ihre Thätlichkeit entweder durch Bewegung, oder durch Gedancken. Jene nennen wir Cörper; diese Geister. Da nun die Welt-Weisheit sich bemühet, von allen Dingen richtigen Grund anzuzeigen; muß sie sowohl die Kräfte und Würckungen derer Dinge untersuchen, welche das Ihrige durch Bewegung verrichten, als der anderen, welche durch ihre Gedancken ihnen selbst bewust sind. Also zeiget sie, was in der Welt möglich ist, sowohl durch die Kräfte der Cörper, als der Geister. Derjenige Theil der Welt-Weisheit, darinnen man erkläret, was durch die Kräfte der Geister möglich ist, wird die Pneumatologie oder Geister-Lehre genennet: der andere hingegen, darinnnen man zeiget, was durch die Kraft der Cörper möglich ist, bekommet den Namen der Physick, oder Natur-Wissenschaft, oder Natur-Lehre.
Vierter Theil.
§ 13. Das Wesen, welches in uns dencket, nennen wir die Seele. Da nun die Seele unter die Zahl der Geister gehöret (§ 12.), und ausser dem Verstande auch einen Willen hat, davon viel in der Welt herrühret; so muß in der Welt-Weisheit auch gewiesen werden, was durch den Willen der Seelen möglich ist: wohin alles dasjenige gehört, was insgeheim von dem Rechte der Natur, der Ethick oder Sitten-Lehre, Politick oder Staats-Kunst etc. gesaget wird.
Fünfter Theil.
§ 14. Weil alle Dinge, sie mögen Cörper, oder Geister und Seelen betreffen, in einigen Stücken einander ähnlich sind; so hat man auch zu erwegen, was allen Dingen überhaupt zukommet und worinnen der allgemeine Unterscheid derselben anzutreffen, und nennet man den Theil der Welt-Weisheit, darinnen die allgemeine Erkäntniß der Dinge abgehandelt wird, die Ontologie oder Grund-Wissenschaft. Die Grund-Wissenschaft, Geister-Lehre und natürliche Gottes-Gelehrtheit machen die Metaphysick oder Haupt-Wissenschaft aus.
Ursprung der Mathematick.
§ 15. Unsere Erkäntniß stehet entweder stille, wenn wir wissen, durch was vor Kräfte etwas in der Natur gewürcket werden kan, oder sie gehet weiter fort, und misset sowohl die Grösse der Kräfte, als der Würckung auf das genaueste aus, damit augenscheinlich erhelle, daß eine Würckung von gewissen Kräften herrühren könne. Als zum Exempel: Ich lasse mich entweder vergnügen, wenn ich weiß, die mit Gewalt zusammen gepresste Luft könne das Wasser in einem Spring-Brunnen sehr hoch treiben, oder ich bemühe mich, genau zu erfahren, wie starck das Vermögen der Luft zunimmet, nachdem sie in den halben, oder dritten, vierdten etc. Theil des vorigen Raumes gepresset worde, und wie viel Schuhe hoch sie in jedem Falle das Wasser treiben könne. Der letztere Grad der Erkäntniß erfordert, daß man alle Dinge, die eine Grösse haben, auszumessen wisse: aus welcher Absicht die Mathematick erfunden worden. Von deren unterschiedenen Theilen habe ich in den Anfangs-Gründen der mathematischen Wissenschaften und in dem daraus gemachten Auszuge gehandelt.
Nutzen derselben.
§ 16. Solchergestalt bringet uns die Mathematick zu der allergenauesten und vollkommensten Erkäntniß, welche zu erlangen möglich ist.
Vorhaben des gegenwärtigen Werckes.
§ 17. Da aber nicht jedermanns Werck ist, sich mit der Welt-Weisheit so weit einzulassen; so werden wir uns um diesen vollkommenen Grad in gegenwärtigen Anfangs-Gründen nicht bemühen, sondern damit zufrieden seyn, daß wir die Kräfte der Dinge richtig erkennen und daraus urtheilen lernen, was durch sie in der Natur möglich ist. Die aber nach dem weiter zu gehen gesonnen, denen soll, wo GOTT will, bey anderer Gelegenheit mit dienlichem Unterrichte aufgewartet werden: zu geschweigen, daß sie in meinen mathematischen Schriften, sonderlich denen, die in Lateinischer Sprache heraus kommen sind, schon gute Anweisung dazu finden.
Ende des Vorberichts.
Quelle: Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes & ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntnis der Wahrheit. Halle: Renger, 1713; abgedruckt in Christian Wolff, Gesammelte Werke. Herausgegeben und bearbeitet von J. Ecole, J. E. Hofmann, M. Thomann und H. W. Arndt, Band 1. Hildesheim: Georg Olms Verlagsbuchhandlung: 1965, S. 115–20. Mit freundlicher Genehmigung von Olms Verlag (www.olms.de).