Max Weber, Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung, Wirtschaft und Gesellschaft (1921)

Kurzbeschreibung

In der 1921 posthum veröffentlichten Schrift Wirtschaft und Gesellschaft diskutiert Max Weber (1864–1920) mehrere zentrale Begriffe. In den Auszügen wird zunächst allgemein die Bedeutung der Begriffe „Macht“ und „Herrschaft“ dargelegt. Der zweite Ausschnitt behandelt die von Weber definierten „Typen der Herrschaft“: rationale, traditionale und charismatische Herrschaft, wobei insbesondere der Abschnitt zur dritten Herrschaftsform detailliert vorgestellt wird.

Quelle

Kapitel I. Soziologische Grundbegriffe

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§ 16. Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.

Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden.

1. Der Begriff „Macht“ ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen. Der soziologische Begriff der „Herrschaft“ muß daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden.

2. Der Begriff der „Disziplin“ schließt die „Eingeübtheit“ des kritik- und widerstandslosen Massengehorsams ein.

Der Tatbestand einer Herrschaft ist nur an das aktuelle Vorhandensein eines erfolgreich andern Befehlenden, aber weder unbedingt an die Existenz eines Verwaltungsstabes noch eines Verbandes geknüpft; dagegen allerdings — wenigstens in allen normalen Fällen — an die eines von beiden. Ein Verband soll insoweit, als seine Mitglieder als solche kraft geltender Ordnung Herrschaftsbeziehungen unterworfen sind, Herrschaftsverband heißen.

1. Der Hausvater herrscht ohne Verwaltungsstab. Der Beduinenhäuptling, welcher Kontributionen von Karawanen, Personen und Gütern erhebt, die seine Felsenburg passieren, herrscht über alle jene wechselnden und unbestimmten, nicht in einem Verband miteinander stehenden Personen, welche, sobald und solange sie in eine bestimmte Situation geraten sind, kraft seiner Gefolgschaft, die ihm gegebenenfalls als Verwaltungsstab zur Erzwingung dient. (Theoretisch denkbar wäre eine solche Herrschaft auch seitens eines einzelnen ohne allen Verwaltungsstab.)

2. Ein Verband ist vermöge der Existenz seines Verwaltungsstabes stets in irgendeinem Grade Herrschaftsverband. Nur ist der Begriff relativ. Der normale Herrschaftsverband ist als solcher auch Verwaltungsverband. Die Art wie, der Charakter des Personenkreises, durch welchen, und die Objekte, welche verwaltet werden, und die Tragweite der Herrschaftsgeltung bestimmen die Eigenart des Verbandes. Die ersten beiden Tatbestände aber sind im stärksten Maß durch die Art der Legitimitätsgrundlagen der Herrschaft begründet (über diese s. u. Kap. III.).

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Kapitel III. Die Typen der Herrschaft.

1. Die Legitimitätsgeltung

§ 1. „Herrschaft“ soll, definitionsgemäß (Kap. I, § 16) die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam, zu finden. Nicht also jede Art von Chance, „Macht“ und „Einfluß“ auf andere Menschen auszuüben. Herrschaft („Autorität“) in diesem Sinn kann im Einzelfall auf den verschiedensten Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen, beruhen. Ein bestimmtes Minimum an Gehorchen wollen, also Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.

Nicht jede Herrschaft bedient sich wirtschaftlicher Mittel. Noch weit weniger hat jede Herrschaft wirtschaftliche Zwecke. Aber jede Herrschaft über eine Vielzahl von Menschen bedarf normalerweise (nicht: absolut immer) eines Stabes von Menschen (Verwaltungsstab, s. Kap. 1, § 12), d. h. der (normalerweise) verläßlichen Chance eines eigens auf Durchführung ihrer generellen Anordnungen und konkreten Befehle eingestellten Handelns angebbarer zuverlässig gehorchender Menschen. Dieser Verwaltungsstab kann an den Gehorsam gegenüber dem (oder: den) Herren rein durch Sitte oder rein affektuell oder durch materielle Interessenlage oder ideelle Motive (wertrational) gebunden sein. Die Art dieser Motive bestimmt weitgehend den Typus der Herrschaft. Rein materielle und zweckrationale Motive der Verbundenheit zwischen Herrn und Verwaltungsstab bedeuten hier wie sonst einen relativ labilen Bestand dieser. Regelmäßig kommen andere — affektuelle oder wertrationale — hinzu. In außeralltäglichen Fällen können diese allein ausschlaggebend sein. Im Alltag beherrscht Sitte und daneben: materielles, zweckrationales, Interesse diese wie andere Beziehungen. Aber Sitte oder Interessenlage so wenig wie rein affektuelle oder rein wertrationale Motive der Verbundenheit könnten verläßliche Grundlagen einer Herrschaft darstellen. Zu ihnen tritt normalerweise ein weiteres Moment: der Legitimitätsglaube.

Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre „Legitimität“ zu erwecken und zu pflegen. Je nach der Art der beanspruchten Legitimität aber ist auch der Typus des Gehorchens, des zu dessen Garantie bestimmten Verwaltungsstabes und der Charakter der Ausübung der Herrschaft grundverschieden. Damit aber auch ihre Wirkung. Mithin ist es zweckmäßig, die Arten der Herrschaft je nach dem ihnen typischen Legitimitätsanspruch zu unterscheiden. Dabei wird zweckmäßigerweise von modernen und also bekannten Verhältnissen ausgegangen.

1. Daß dieser und nicht irgendein anderer Ausgangspunkt der Unterscheidung gewählt wird, kann nur der Erfolg rechtfertigen. Daß gewisse andere typische Unterscheidungsmerkmale dabei vorläufig zurücktreten und erst später eingefügt werden können, dürfte kein entscheidender Mißstand sein. Die „Legitimität“ einer Herrschaft hat — schon weil sie zur Legitimität des Besitzes sehr bestimmte Beziehungen besitzt — eine durchaus nicht nur „ideelle“ Tragweite.

2. Nicht jeder konventional oder rechtlich gesicherte „Anspruch“ soll ein Herrschaftsverhältnis heißen. Sonst wäre der Arbeiter im Umfang seines Lohnanspruchs „Herr“ des Arbeitgebers, weil ihm auf Verlangen der Gerichtsvollzieher zur Verfügung gestellt werden muß. In Wahrheit ist er formal ein zum Empfang von Leistungen ,,berechtigter“ Tauschpartner desselben. Dagegen soll es den Begriff eines Herrschaftsverhältnisses natürlich nicht ausschließen, daß es durch formal freien Kontrakt entstanden ist: so die in den Arbeitsordnungen und -anweisungen sich kundgebende Herrschaft des Arbeitgebers über den Arbeiter, des Lehensherrn über den frei in die Lehensbeziehung tretenden Vasallen. Daß der Gehorsam kraft militärischer Disziplin formal „unfreiwillig“, der kraft Werkstattdisziplin formal „freiwillig“ ist, ändert an der Tatsache, daß auch Werkstattdisziplin Unterwerfung unter eine Herrschaft ist, nichts. Auch die Beamtenstellung wird durch Kontrakt übernommen und ist kündbar, und selbst die „Untertanen“-Beziehung kann freiwillig übernommen und (in gewissen Schranken) gelöst werden. Die absolute Unfreiwilligkeit besteht erst beim Sklaven. Allerdings aber soll andererseits eine durch monopolistische Lage bedingte ökonomische „Macht“, d. h. in diesem Fall: Möglichkeit, den Tauschpartnern die Tauschbedingungen zu „diktieren“, allein und für sich ebensowenig schon „Herrschaft“ heißen, wie irgendein anderer: etwa durch erotische oder sportliche oder diskussionsmäßige oder andere Überlegenheit bedingter „Einfluß“. Wenn eine große Bank in der Lage ist, anderen Banken ein „Konditionenkartell” aufzuzwingen, so soll dies so lange nicht „Herrschaft“ heißen, als nicht ein unmittelbares Obödienzverhältnis derart hergestellt ist: daß Anweisungen der Leitung jener Bank mit dem Anspruch und der Chance, rein als solche Nachachtung zu finden, erfolgen und in ihrer Durchführung kontrolliert werden. Natürlich ist auch hier, wie überall, der Übergang flüssig: von Schuldenverpflichtung zur Schuldverknechtung finden sich alle Zwischenstufen. Und die Stellung eines „Salons“ kann bis hart an die Grenze einer autoritären Machtstellung gehen, ohne doch notwendig „Herrschaft“ zu sein. Scharfe Scheidung ist in der Realität oft nicht möglich, klare Begriffe sind aber dann deshalb nur umso nötiger.

3. Die „Legitimität“ einer Herrschaft darf natürlich auch nur als Chance, dafür in einem relevanten Maße gehalten und praktisch behandelt zu werden, angesehen werden. Es ist bei weitem nicht an dem: daß jede Fügsamkeit gegenüber einer Herrschaft primär (oder auch nur: überhaupt immer) sich an diesem Glauben orientierte. Fügsamkeit kann vom einzelnen oder von ganzen Gruppen rein aus Opportunitätsgründen geheuchelt, aus materiellem Eigeninteresse praktisch geübt, aus individueller Schwäche und Hilflosigkeit als unvermeidlich hingenommen werden. Das ist aber nicht maßgebend für die Klassifizierung einer Herrschaft. Sondern: daß ihr eigner Legitimitätsanspruch der Art nach in einem relevanten Maß „gilt“, ihren Bestand festigt und die Art der gewählten Herrschaftsmittel mit bestimmt. Eine Herrschaft kann ferner — und das ist ein praktisch häufiger Fall — so absolut durch augenfällige Interessengemeinschaft des Herrn und seines Verwaltungsstabs (Leibwache, Prätorianer, „rote“ oder „weiße“ Garden) gegenüber den Beherrschten und durch deren Wehrlosigkeit gesichert sein, daß sie selbst den Anspruch auf „Legitimität“ zu verschmähen vermag. Dann ist noch immer die Art der Legitimitätsbeziehung zwischen Herrn und Verwaltungsstab je nach der Art der zwischen ihnen bestehenden Autoritätsgrundlage sehr verschieden geartet und in hohem Grade maßgebend für die Struktur der Herrschaft, wie sich zeigen wird.

4. „Gehorsam“ soll bedeuten: daß das Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens gemacht habe, und zwar lediglich um des formalen Gehorsamsverhältnisses halber, ohne Rücksicht auf die eigene Ansicht über den Wert oder Unwert des Befehls als solchen.

5. Rein psychologisch kann die Kausalkette verschieden aussehen, insbesondre: „Eingebung“ oder „Einfühlung“ sein. Diese Unterscheidung ist aber hier für die Typenbildung der Herrschaft nicht brauchbar.

6. Der Bereich der herrschaftsmäßigen Beeinflussung der sozialen Beziehungen und Kulturerscheinungen ist wesentlich breiter, als es auf den ersten Blick scheint. Beispielsweise ist es diejenige Herrschaft, welche in der Schule geübt wird, welche die als orthodox geltende Sprach- und Schreibform prägt. Die als Kanzleisprachen der politisch autokephalen Verbände, also ihrer Herrscher, fungierenden Dialekte sind zu diesen orthodoxen Sprach- und Schreibformen geworden und haben die „nationalen“ Trennungen (z. B. Hollands von Deutschland) herbeigeführt. Elternherrschaft und Schulherrschaft reichen aber weit über die Beeinflussung jener (übrigens nur scheinbar:) formalen Kulturgüter hinaus in der Prägung der Jugend und damit der Menschen.

7. Daß Leiter und Verwaltungsstab eines Verbandes der Form nach als „Diener“ der Beherrschten auftreten, beweist gegen den Charakter als „Herrschaft“ natürlich noch gar nichts. Es wird von den materialen Tatbeständen der sogenannten „Demokratie“ später gesondert zu reden sein. Irgendein Minimum von maßgeblicher Befehlsgewalt, insoweit also: von „Herrschaft“, muß ihnen aber fast in jedem denkbaren Fall eingeräumt werden.

§ 2. Es gibt drei reine Typen legitimer Herrschaft. Ihre Legitimitätsvergeltung kann nämlich primär sein:

1. rationalen Charakters: auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen (legale Herrschaft) – oder

2. traditionalen Charakters: auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen ruhen (traditionale Herrschaft), – oder endlich

3. charismatischen Charakters: auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen (charismatische Herrschaft).

Im Fall der satzungsmäßigen Herrschaft wird der legal gesatzten sachlichen unpersönlichen Ordnung und dem durch sie bestimmten Vorgesetzten kraft formaler Legalität seiner Anordnungen und in deren Umkreis gehorcht. Im Fall der traditionalen Herrschaft wird der Person des durch Tradition berufenen und an die Tradition (in deren Bereich) gebundenen Herrn kraft Pietät im Umkreis des Gewohnten gehorcht. Im Fall der charismatischen Herrschaft wird dem charismatisch qualifizierten Führer als solchem kraft persönlichen Vertrauens in Offenbarung, Heldentum oder Vorbildlichkeit im Umkreis der Geltung des Glaubens an dieses sein Charisma gehorcht.

1. Die Zweckmäßigkeit dieser Einteilung kann nur der dadurch erzielte Ertrag an Systematik erweisen. Der Begriff des „Charisma“ („Gnadengabe“) ist altchristlicher Terminologie entnommen. Für die christliche Hierokratie hat zuerst Rudolf Sohms Kirchenrecht der Sache, wenn auch nicht der Terminologie nach den Begriff, andere (z. B. Holl in „Enthusiasmus und Bußgewalt“) gewisse wichtige Konsequenzen davon verdeutlicht. Er ist also nichts Neues.

2. Daß keiner der drei, im folgenden zunächst zu erörternden, Idealtypen historisch wirklich „rein“ vorzukommen pflegt, darf natürlich hier sowenig wie sonst die begriffliche Fixierung in möglichst reiner Ausprägung hindern. Weiterhin (§ 11 ff.) wird die Abwandlung des reinen Charisma durch Veralltäglichung erörtert und dadurch der Anschluß an die empirischen Herrschaftsformen wesentlich gesteigert werden. Aber auch dann gilt für jede empirische historische Erscheinung der Herrschaft: daß sie „kein ausgeklügelt Buch“ zu sein pflegt. Und die soziologische Typologie bietet der empirisch historischen Arbeit lediglich den immerhin oft nicht zu unterschätzenden Vorteil: daß sie im Einzelfall an einer Herrschaftsform angeben kann: was „charismatisch“, „erbcharismatisch“ (§ 10, 11), „amtscharismatisch“, „patriarchal“ (§ 7), „bureaukratisch“ (§ 4), „ständisch“ usw. ist oder sich diesem Typus nähert, und daß sie dabei mit leidlich eindeutigen Begriffen arbeitet. Zu glauben: die historische Gesamtrealität lasse sich in das nachstehend entwickelte Begriffsschema „einfangen“, liegt hier so fern wie möglich.

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4. Charismatische Herrschaft.

§ 10. „Charisma“ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als „Führer“ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus „objektiv“ richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den „Anhängern“, bewertet wird, kommt es an.

Das Charisma eines „Berserkers“ (dessen manische Anfälle man, anscheinend mit Unrecht, der Benutzung bestimmter Gifte zugeschrieben hat: man hielt sich in Byzanz im Mittelalter eine Anzahl dieser mit dem Charisma der Kriegs-Tobsucht Begabten als eine Art von Kriegswerkzeugen), eines „Schamanen“ (Magiers, für dessen Ekstasen im reinen Typus die Möglichkeit epileptoider Anfälle als eine Vorbedingung gelten), oder etwa des (vielleicht, aber nicht ganz sicher, wirklich einen raffinierten Schwindlertyp darstellenden) Mormonenstifters, oder eines den eigenen demagogischen Erfolgen preisgegebenen Literaten wie Kurt Eisner werden von der wertfreien Soziologie mit dem Charisma der nach der üblichen Wertung „größten“ Helden, Propheten, Heilande durchaus gleichartig behandelt.

1. Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung — ursprünglich stets: durch Wunder — gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen. Diese „Anerkennung“ ist psychologisch eine aus Be­geisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige ganz persönliche Hingabe.

Kein Prophet hat seine Qualität als abhängig von der Meinung der Menge über ihn angesehen, kein gekorener König oder charismatischer Herzog die Widerstrebenden oder abseits Bleibenden anders denn als Pflichtwidrige behandelt: die Nicht-Teilnahme an dem formal voluntaristisch rekrutierten Kriegszug eines Führers wurde in aller Welt mit Spott entgolten.

2. Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauernd versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden. Dies ist der genuine charismatische Sinn des „Gottesgnadentums“.

Selbst für altgermanische Könige kommt ein „Verschmäher“ vor. Ebenso massenhaft bei sog. primitiven Völkern. Für China war die (erbcharismatisch unmodifizierte s. § 11) charismatische Qualifikation des Monarchen so absolut festgehalten worden, daß jegliches, gleichviel wie geartete, Mißgeschick: nicht nur Kriegsunglück, sondern ebenso: Dürre, Überschwemmungen, unheilvolle astronomische Vorgänge usw. ihn zu öffentlicher Buße, eventuell zur Abdankung zwangen. Er hatte dann das Charisma der vom Himmelsgeist verlangten (klassisch determinierten) „Tugend“ nicht und war also nicht legitimer „Sohn des Himmels“.

3. Der Herrschaftsverband Gemeinde: ist eine emotionale Vergemeinschaftung. Der Verwaltungsstab des charismatischen Herren ist kein „Beamtentum“ am wenigsten ein fachmäßig eingeschultes. Er ist weder nach ständischen noch nach Gesichtspunkten der Haus- oder persönlichen Abhängigkeit ausgelesen. Sondern er ist seinerseits nach charismatischen Qualitäten ausgelesen: dem „Propheten“ entsprechen die „Jünger“, dem „Kriegsfürsten“ die „Gefolgschaft“, dem „Führer“ überhaupt: „Vertrauensmänner“. Es gibt keine „Anstellung“ oder „Absetzung“, keine „Laufbahn“ und kein „Aufrücken“. Sondern nur Berufung nach Eingebung des Führers auf Grund der charismatischen Qualifikation des Berufenen. Es gibt keine „Hierarchie“, sondern nur Eingreifen des Führers bei genereller oder im Einzelfall sich ergebender charismatischer Unzulänglichkeit des Verwaltungsstabes für eine Aufgabe, eventuell auf Anrufen. Es gibt keine „Amtssprengel“ und „Kompetenzen“, aber auch keine Appropriation von Amtsgewalten durch „Privileg“. Sondern nur (möglicherweise) örtliche oder sachliche Grenzen des Charisma und der „Sendung“. Es gibt keinen „Gehalt“ und keine „Pfründe“. Sondern die Jünger oder Gefolgen leben (primär) mit dem Herren in Liebes- bzw. Kameradschaftskommunismus aus den mäzenatisch beschafften Mitteln. Es gibt keine feststehenden „Behörden“, sondern nur charismatisch, im Umfang des Auftrags des Herren und: des eigenen Charisma, beauftragte Sendboten. Es gibt kein Reglement, keine abstrakten Rechtssätze, keine an ihnen orientierte rationale Rechtsfindung, keine an traditionalen Präzedenzien orientierte Weistümer und Rechtssprüche. Sondern formal sind aktuelle Rechtsschöpfungen von Fall zu Fall, ursprünglich nur Gottesurteile und Offenbarungen maßgebend. Material aber gilt für alle genuin charismatische Herrschaft der Satz: „es steht geschrieben, — ich aber sage euch“; der genuine Prophet sowohl wie der genuine Kriegsfürst wie jeder genuine Führer überhaupt verkündet, schafft, fordert neue Gebote, — im ursprünglichen Sinn des Charisma: kraft Offenbarung, Orakel. Eingebung oder: kraft konkretem Gestaltungswillen, der von der Glaubens-, Wehr-, Partei- oder anderer Gemeinschaft um seiner Herkunft willen anerkannt wird. Die Anerkennung ist pflichtmäßig. Sofern der Weisung nicht eine konkurrierende Weisung eines andern mit dem Anspruch auf charismatische Geltung entgegentritt, liegt ein letztlich nur durch magische Mittel oder (pflichtmäßige) Anerkennung der Gemeinschaft entscheidbarer Führerkampf vor, bei dem notwendig auf der einen Seite nur Recht, auf der andren nur sühnepflichtiges Unrecht im Spiel sein kann.

Die charismatische Herrschaft ist, als das Außer alltägliche, sowohl der rationalen, insbesondere der bureaukratischen, als der traditionalen, insbesondre der patriarchalen und patrimonialen oder ständischen, schroff entgegengesetzt. Beide sind spezifische Alltags-Formen der Herrschaft, — die (genuin) charismatische ist spezifisch das Gegenteil. Die bureaukratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an diskursiv analysierbare Regeln, die charismatische spezifisch irrational im Sinn der Regelfremdheit. Die traditionale Herrschaft ist gebunden an die Präzedenzien der Vergangenheit und insoweit ebenfalls regelhaft orientiert, die charismatische stürzt (innerhalb ihres Bereichs) die Vergangenheit um und ist in diesem Sinn spezifisch revolutionär. Sie kennt keine Appropriation der Herrengewalt nach Art eines Güterbesitzes, weder an den Herren noch an ständische Ge­walten. Sondern legitim ist sie nur soweit und solange, als das persönliche Charisma kraft Bewährung „gilt“, das heißt: Anerkennung findet und „brauchbar“ der Vertrauensmänner, Jünger, Gefolge, nur auf die Dauer seiner charismatischen Bewährtheit.

Das Gesagte dürfte kaum einer Erläuterung benötigen. Es gilt für den rein „plebiszitären“ charismatischen Herrscher (Napoleons „Herrschaft des Genies“, welcher Plebejer zu Königen und Generälen machte) ganz ebenso wie für den Propheten oder Kriegshelden.

4. Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd. Es konstituiert, wo es auftritt, einen „Beruf“ im emphatischen Sinn des Worts: als „Sendung“ oder innere „Aufgabe“. Es verschmäht und verwirft, im reinen Typus, die ökonomische Verwertung der Gnadengaben als Einkommensquelle, — was freilich oft mehr Anforderung als Tatsache bleibt. Nicht etwa daß das Charisma immer auf Besitz und Erwerb verzichtete, wie das unter Umständen (s. gleich) Propheten und ihre Jünger tun. Der Kriegsheld und seine Gefolgschaft suchen Beute, der plebiszitäre Herrscher oder charismatische Parteiführer materielle Mittel ihrer Macht, der erstere außerdem: materiellen Glanz seiner Herrschaft zur Festigung seines Herrenprestiges. Was sie alle verschmähen — solange der genuin charismatische Typus besteht — ist: die traditionale oder rationale Alltagswirtschaft, die Erzielung von regulären „Einnahmen“ durch eine darauf gerichtere kontinuierliche wirtschaftliche Tätigkeit. Mäzenatische — großmäzenatische (Schenkung, Stiftung, Bestechung, Großtrinkgelder) — oder: bettelmäßige Versorgung auf der einen, Beute, gewaltsame oder (formal) friedliche Erpressung auf der anderen Seite sind die typischen Formen der charismatischen Bedarfsdeckung. Sie ist, von einer rationalen Wirtschaft her gesehen, eine typische Macht der „Unwirtschaftlichkeit“. Denn sie lehnt jede Verflechtung in den Alltag ab. Sie kann nur, in voller innerer Indifferenz, unsteten Gelegenheitserwerb sozusagen „mitnehmen“, „Rentnertum“ als Form der Wirtschaftsenthobenheit kann — für manche Arten — die wirtschaftliche Grundlage charismatischer Existenzen sein. Aber für die normalen charismati­schen „Revolutionäre“ pflegt das nicht zu gelten.

Die Ablehnung kirchlicher Ämter durch die Jesuiten ist eine rationalisierte Anwendung dieses „Jünger“-Prinzips. Daß alle Helden der Askese, Bettelorden und Glaubenskämpfer dahin gehören, ist klar. Fast alle Propheten sind mäzenatisch unterhalten worden. Der gegen das Missionarsschmarotzertum gerichtete Satz des Paulus: „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, bedeutet natürlich keinerlei Bejahung der „Wirtschaft“, sondern nur die Pflicht, gleichviel wie, „im Nebenberuf“ sich den notdürftigen Unterhalt zu schaffen, weil das eigentlich charismatische Gleichnis von den „Lilien auf dem Felde“ nicht im Wortsinn, sondern nur in dem des Nichtsorgens für den nächsten Tag durchführbar war. — Auf der andern Seite ist es bei einer primär künstlerischen charismatischen Jüngerschaft denkbar, daß die Enthebung aus den Wirtschaftskämpfen durch Begrenzung der im eigentlichen Sinn Berufenen auf „wirtschaftlich Unabhängige“ (also: Rentner) als das Normale gilt (so im Kreise Stefan Georges, wenigstens der primären Absicht nach).

5. Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der „ratio“, die entweder geradezu von außen her wirkt: durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme und dadurch, mittelbar der Einstellungen zu diesen, oder aber: durch Intellektualisierung, kann Charisma eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder Begeisterung geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur „Welt“ überhaupt bedeutet. In vorrationalistischen Epochen teilen Tradition und Charisma nahezu die Gesamtheit der Orientierungsrichtungen des Handelns unter sich auf.

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Quelle: Max Weber, Grundriss der Sozialökonomik. III. Abteilung: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1922, S. 28–29, 122–24, 140–42. Online verfügbar unter: https://n2t.net/ark:/13960/t6c25140n

Max Weber, Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung, Wirtschaft und Gesellschaft (1921), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-156> [22.10.2024].