Ein Radtschlag oder Bedencken wie man eyne sehr nutzliche Kirchen Historien schreiben solte (1554)
Kurzbeschreibung
Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um eine Übersetzung eines lateinischen Textes mit dem Titel Consultationes inter M. Flacium Illyricum et amicos de conscribenda accurata et erudita historia ecclesia (16. Jh.), die vermutlich von dem Theologen und Reformator Matthias Flacius (1520–75) selbst oder einem seiner Anhänger stammt. Der anonyme Verfasser der Übersetzung fordert, dass eine neue evangelische Kirchengeschichte geschrieben werden müsse und beschreibt, wie eine solche „Kirchen Historien“ auszusehen habe. Dem Autor der Schrift geht es vor allem um die (Wieder-)Herstellung der reinen Lehre des Christentums, die von den Sitten, Bräuchen und Zeremonien der alten Kirche „befreit“ werden sollte. Er richtet sich damit direkt gegen die römisch-katholische Kirche. Zum ersten solle die Geschichte der Kirche seit ihrem Anbeginn, d.h. seit der Geburt Christi erzählt werden; zweitens solle dargestellt werden, wie falsche Apostel und ihre Anhänger sowie „heidnische“ Volksbräuche zur Verfälschung der wahren Lehre Christi beigetragen hätten. Drittens solle über einzelne Lehrer und Konzilien berichtet werden, die versuchten, die Lehre Christi von ihren „Schandflecken“ zu bereinigen, wie etwa die Heiligen- und Bilderverehrung, den Zölibat oder das Papsttum. Ferner solle über die unterschiedliche Ausprägung des Christentums sowie der verschiedenen Lehrer und ihren Schriften Auskunft gegeben werden. Das Vorhaben einer evangelischen Kirchengeschichte wurde schließlich mit den Magdeburger Centurien umgesetzt, die von Flacius initiiert und zwischen 1559 und 1574 publiziert wurden.
Quelle
Nachdem aus grosser vnaussprechlicher gnade vnd Barmherzigkeit gott der Almechtige, die ware Religionn welche mit menschensatzungen vnd andern vntzelichen befleckung, grewlich verstellet vnd verdeubet war, widder ernewet vnd gereiniget ist, dafür wir in Ewigkeit nicht gnugsam gott danck sagen konnen vnd numer gott sei lob, eine gewisse form der Lehre vnd Coeremonien in vnsern Kirchen auffgerichtet vnd begriffen ist, seindt wir noch tzweier stücke in mangell, welche nicht gering vnd daran der gantzenn Christlichen[1] Kirchen viel vnd gros wil gelegen sein.
Als fürs Erste mangelt vns noch eine verstendige, wolgeschickte, vnd[2] bequeme glose oder eine kurze, runde, vnd leichte auslegung des Textes vber die gantze Bibel Alt vnd New Testament von welchem stücke vieleicht ein andermal sol gesagt werdenn.
Fürs Ander eine gelerte vnd mitt sondern hohen fleis vnd geschicklichkeit tzwsamen gebrachte Historien oder Chronica der Kirchen von Christo anzuheben, bis vff unsere tzeithen, von welchem stücke ich vff dismal mitt gottis hülff einen kurtzen Bericht vnd antzeigung thun wil, wie dieselbige solte beschrieben werden, was für nutz daraus tzw hoffen Vnd wie man tzw solchem Christlichen vnd hochnotigen wercke kommen mochte.
Vnd fürs erste die sachen, hendel vnd Geschichte welche sich in der Kirchen tzwgetragen, weren also tzw ertzelen, Das man nach der ordnung vnd aufftzeichnung der tzeit von der aufferstehung vnsers hern Jhesus Christi an bis vff vns nacheinander deudtlich vnd klar, vnd am allermeisten antzeiget, was tzw einer iedenntzeit allenthalben in Christlichen Kirchen fur eine form vnd weise der Lere, Coeremonien oder Kirchen gebreuche, policei oder regiment, vnd in summa der gantzen Religion gewesen were, Wenn gleich wie die ware vnd heilsame Lehre Gottis das wercktzeug oder mittel ist, dadurch er vns tzwm ewigen leben widergebieret vnd darinnen vnser gantzes Geistlich vnd New Lebenn Vnd wesen steht, vnd ohne welche Lehre wir im tode vnd alten verdampten leben bleiben müssen, Also ist sie auch vnter allen sachen vnd hendeln der Kirchen das aller schwerste vnd hochwichtigste stücke, vnd wirdt von dem teuffel vnd seinen schurken[3] denn gotlosen beide Lerern vnd Tyrannen am geschwindesten vnd meisten ohne auffhoren angefochtenn.
Derwegenn man auff die Lehre in der Chronica oder Kirchen Historien fürnemlich sehen, vnd schier allein darauff die hochste arbeit legen müste, damit man sie aufwickeln vnd also herrlich herausstreichen kondt, das jederman sie gleich als für seinen augen sehen, oder auch so tzwreden mitthenden greiffen kondte, wie sie tzw ieder tzeit an allen orten vnd in allen Kirchen gewesen sey.
Für allen Dingen aber würde alda die notturft erfodern antzutzeigen vnd fur tzulegen, welch eine simpel, einfeltige, reine, klare, vnd gesunde form der lere, coeremonien, vnd der gantzen Religion von Christo vnd seinen liebenn Aposteln selbst dem volcke gottis erst angerichtet, vnd was sie für eine policei der Kirchen eingesetzt vnd hinter sich gelassen haben.
Dannach auch wie beide falsche Aposteln aus vorkereten hertzen vnd bosem sin der waren Religionn vnd gotseligkeit mitt eerfelschung grossen schaden gethan vnd auch der Apostelnn discipel vnd schüler sampt andern nachkomlingen mehr ie lenger ie mehr vnd weiter von der alten reingikeit vnd einfeltigkeit der lere[4] seindt abgewichen vnd solches tzumtheil aus Vnverstandt, das sie die Lere vnd ware gotseligkeit nicht gründtlich wie die aposteln verstunden, tzumtheil auch aus vbermessiger lust vnd vleis tzw den Coeremonien, disciplin, vnd guten wercken, dartzu hatt auch die nerrische andacht[5] vnd Jüdische ia auch heidnischer aberglauben des gemeinen volckes tzw vielenn bosen unrichtigen dingen vrsach gebenn.
Zuem Dritten wil gott gleichwol sehr offt entweder durch eintzele Lerer mitt mundtlichem tzeugnis, predigten vnd schrifften, oder auch durch Concilien vnd grosse versammlungenn, mancherleien vnd greulichen Jrthumen, Ketzereien, aberglauben vnd misbreuchen widderstanden, vnd die gotliche warheit von vielenn schantflecken vnd beschmeissungen gereiniget vnd errettet habe, doch ist dasselbige fast stetz also tzwgangen das etzliche stucke gleich als eine sach von den vorigen Jrthumen, welche tzwar auch nicht gering gewesen, davon vbrig blieben vnd behafftet seindt, dieselbigen haben sich in kurtzer tzeit, hernach wider gereget vnd seindt weiter ausgebrochen, Vnd ob sich gleich etzliche guthertzige Leuthe dawider gelecht, Jst doch solchs endlich fast vergebens gewesen. Als dem ehelosen wesen der priester haben erstlich viel widdersprochen, vnd vnter andern Micoena[6] Sanguensis vnd Sechste Siquadus, sie haben auch ein tzeitlang denselbigen schentlichen jrthum geweret vnd verhindert, aber nichts destoweiniger, hatt er hernacher endtlich vberhand genohmen, tzuuoraus in den Kirchen gegen den Nidergang gelegen, vnd sonderlich in der Romischenn.
Dergleichen konte man auch sagen von der ehre gegen die verstorbene Heiligen, jhrem Heiligthum oder gepeine, den Bildern oder getzen, Jtem von des Bapstis primat vnd hoheit, vnd etzlichen andern stücken mehr.
Darneben wurde auch das müssen angetzeigt werden auff das allerdeudtligste wie tzw einer jeden tzeit ein Lerer verstendiger vnd reiner, den der ander, eine Kirche auch mitt lauterer Lere vnd coeremonien den die andere, ist begabet vnd versehen gewesen, Jtem das auch etzliche ortter der Christenheit inn etzlichen stücken der Religion sindt etwas reiner, in etzlichen auch befleckter gewesen, den die andere, wie den die Grichische Kirche (welche ia so weit sich vnd noch weiter sich erstrecket, als die Lateinische) noch auff den heutigen tag nicht ztulest des Bapstis primat oder Tyrannei, vber alle andere Kirchen in der gantzen welt, viel weiniger sein Weltlich schwert oder geistlich ehelos Leben das erdichtte Fegfeur, Ablas, so grausame abgotterei mitt den bildern, Mess für die todten oder sonst in anderen noten, die eine gestalt des Sacraments vnd dergleichen wie die Lateinische thutt, dargegen aber irret sie in dem Artickel von dem ausgehen des Heiligen geistes.
Es wurde auch tzw sagen sein von einem jedelichen Lerer insonderheit, vnd seinen schrifften, in welchen stucken oder artickeln der Lehre sie recht vnd wol geleret oder nicht, was auch für gespenst oder Sophisterei sie geblendet, was sie in etzlichen Jrthumen geblieben vnnd andere mit sich darein getzogen, vnd verfurt haben, oder auch auff wasserlei weise sie sich heraus gearbeitet, vnd andere auch daruon entledigtt habenn.
Zuem Vierdten muste man auch antzeigen, vnd daneben mitt etzlichen warhafftigen tzeugnissen der warheit beweisen, das gemeiniglich tzw allen tzeithen vnd stetz etzliche Siebentausent der gleubigen oder gottesfurchtigen seindt gewesenwelche einen hohenn vnd reinen verstandt von der Religion gehabt, den sonst der gemein hauff gewesen, vnd eine tzeit freier vnd mutiger der gotlichen warheit mitt offentlichem erkentnus haben tzeugnis geben denn die ander.
Disse vnd dergleichen stettige, mannichfeltige vnd schwere streite der warheit mitt den Jrthumen oder Lügen, des Liechtes mitt der finsternus in allen Heuptstucken Christlicher Lehr, in allen Lendern von der geburt Christi an bis auff die gegenwertige tzeit, mußen in der Kirchen Historien oder Chronica durch alle vmbstende ausgestrichen, vnd nach der tzeitt ordentlich vnd mitt grossem vleisse ausgefüret werdenn.
Anmerkungen
Quelle: Ein Radtschlag oder Bedencken wie man eyne sehr nutzliche Kirchen Historien schreiben solte (1554), Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 4110b, Bl. 131r–149r. Online verfugbar unter: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00047856/image_265. Transkription von Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: http://diglib.hab.de/edoc/ed000086/start.htm
Quelle des lateinischen Originaltextes: http://diglib.hab.de/?db=mss&list=ms&id=11-20-aug-2f&catalog=Heinemann&image=00009
Weiterführende Inhalte
Gregory B. Lyon, „Baudouin, Flacius, and the Plan for the Magdeburg Centuries“, Journal of the History of Ideas 64, Nr. 2 (2003), S. 253–72.
Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung: Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen: Mohr Siebeck, 2007.
Arno Mentzel-Reuters, Hrsg., Catalogus und Centurien: interdisziplinäre Studien zu Matthias Flacius und den Magdeburger Centurien. Tübingen: Mohr Siebeck, 2008