Christoph Gottlieb von Murr, Acht und zwanzig Briefe über die Aufhebung des Jesuiterordens (1774)

Kurzbeschreibung

Der protestantische Verleger Christoph Gottlieb von Murr (1733–1811) hebt die wissenschaftlichen Leistungen der Jesuiten aus der Gesellschaft Jesu hervor und verteidigt sie gegen Angriffe aus dem chinesischen Ritenstreit. Diese Kontroverse, die von 1610 bis 1744 dauerte, war ein Streit zwischen Jesuiten-Missionaren in Asien (hauptsächlich China, Japan und Indien), anderen Orden und der römisch-katholischen Kirche selbst. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts hatten die Jesuiten-Missionare die Methode der „Akkommodation“ bevorzugt, bei der neu bekehrte Christen ihre traditionellen Riten und Praktiken wie Ahnenkult und Konfuzianismus beibehalten durften. Als die Dominikaner und Franziskaner in Asien ankamen, kritisierten sie die Jesuiten-Missionare für ihren laschen Umgang mit dem katholischen Glauben und forderten ein Verbot chinesischer Riten. Im Jahr 1704 reagierte Papst Clemens XI. mit einem Verbot chinesischer Riten. Der Katholizismus verlor schließlich an Einfluss und wurde vom chinesischen Kaiser verboten.

In diesem Auszug verweist Murr auf die Beiträge der Jesuiten zur Astronomie, Mathematik und Sinologie und nennt einige zentrale Persönlichkeiten der Jesuitenmission in Asien, wie Franz Xavier, Matteo Ricci, Michael Ruggieri und Johann Adam Schall. Mit ihrer wissenschaftlichen Begabung und ihrer wissenschaftlichen Arbeit am Kaiserhof leisteten die Jesuiten einen wichtigen Beitrag sowohl zur Wissenschaftsgeschichte als auch zu den diplomatischen Beziehungen zwischen China und Europa.

Quelle

Vierzehnter Brief.

Niemals werden die heftigsten und unbilligsten Feinde des Ordens die großen Verdienste der Missionarien in Sina um das Christenthum sowohl, als um die Wissenschaften, läugnen können, und alle Freunde der höhern Mathematik müssen gegen die Jesuiten unendlich dankbar seyn. Ihnen allein haben wir die Kenntniß des größten und ältesten Reiches auf unsrer Erde zu danken.

Franciscus Xavier war eben im Begriff, sich nach Canton bringen zu lassen, als er im J. 1552. seinen Geist aufgab. Die Väter Matteo Ricci, und Michael Ruggieri waren am ersten so glücklich, im J. 1583. in Schan-king ein Haus und Kirche für sich bauen zu dürfen. Beyde kamen auch nebst dem P. Diego de Pontoja zu Anfange des Jahres 1601. nach Pe-king, Im J. 1610, da P. Ricci starb, waren schon fünf Kirchen erbauet. Er machte sich sowohl bey dem Volke, das ihn anfangs zu Quang-tong heftig verfolgte, als auch bey dem Kaiser und den Mandarinen, sehr durch seine mathematische Wissenschaften beliebt, und hinterließ zerschiedene sinesisch gedruckte Foliobände, die nach Rom gesandt wurden. Joh. Adam Schall fieng nebst Jacob Rho an, den sinesischen[1] Kalender zu verbessern, und machte sich unsterbliches Verdienst durch die Ausbreitung der christlichen Religion. Er verfertigte eine sinesiche Erklärung der vortrefflich gemahlten Vorstellungen des Lebens unsers Erlösers, welche ihm der Herzog von Bayern, Maximilian, durch den V. Nikolaus Trigault zustellen ließ, und überreichte sie dem sinesischen Monarchen. Er verfaßte über 140. sinesische Schriften, davon 14 Quartbände in der vaticanischen Büchersammlung aufbewahret werden. Man muß über die Menge der sinesischen Schriften in Verwunderung gerathen, welche die Missionarien Giulio Aleni, Lazaro Cataneo, Martinus Martini, Nikolao Longobardi, Rodriguez de Figueyredo, Sabbation de Orsi, Ferdinand Verbiest, u.a.m. herausgaben.

Alle Domherren, Canonici und Franciscaner miteinander haben nicht so viel nützliche lateinische Bücher geschrieben, als die Jesuiten sinesische, und noch darzu in den schwersten Wissenschaften. Der Kaiser Kang-hi erzeigte den Jesuiten die größte Gnade, die man sich nur wünschen kann. Er begnügte sich im J. 1678. nicht damit, daß er den Vater Verbiest zum Präsidenten des mathematischen Collegii zu Pe-king, welches ein Reichs-Tribunal ist, machte; sondern er ließ ihm noch vorher einen Adelsbrief sowohl für ihn, als auch besondere für die Aeltern und Großältern dieses gelehrten Ordensmannes ausfertigen. Denn es ist in Sina gewöhnlich, den Adel auch auf die Vorältern zu erstrecken, (blos die Nachkommen des Kong-fu-thee haben einen angeerbten Adel) davon ich bey einer andern Gelegenheit ausführlicher gehandelt habe. Verbiest überreichte zwar dem Kaiser eine Bittschrift, und suchte alle diese Ehrenstellen, die ihn zur Würde eines Reichsmandarins (dergleichen Gnade auch dem P. Joh. Adam Schall vorher schon wiederfuhr) erhoben, von sich abzulehnen. Allein der Monarch blieb bey seinem gefaßten Entschluß, Verdienste nicht nur zu belohnen, sondern sie auch glänzend zu machen. Er ließ sich in allen mathematischen Wissenschaften von ihm unterweisen, auch sogar in der Algeber, wie Leibnitz versichert, da er an Joh. Bernoulli 1707 schrieb: Ante aliquot dies locutus sum cum missionario ex China reduce, qui medicum illic utcumque egit. (Es war P. Cima, ein Augustiner, der mit ihm zu Hildesheim sprach. Kortholt. T. I. S. 390.) Is mihi, inter alia, dixit, Imperatorem sinensem etiam Algebrae rudimenta a Patre Verbiestio didicisse, eaque re fuisse inprimis delectatum.

Daß die Missionarien auch europäischen Monarchen in Sina nützlich waren, davon habe ich in dem unten angeführten Buche eine ausführliche Nachricht gegeben, bey Gelegenheit der portugiesischen Gesandtschaft nach Sina, im J. 1727.

In unsern Zeiten hat sich bey dem itzigen Kaiser Kjen long der Vater Hallerstein um die Astronomie, so wie mehrere, um andere Wissenschaften und Künste, am Hofe zu Pe-king verdient und beliebt gemacht, z. E. die Väter Damascenus, Attiret, Castiglione, Sickelbauer, Bourgeois u.a.m. Von diesem letztern hat man erst seit kurzem: Lettre au P. Ancemot, contenant la relation de son voyage à la Chine, en 1767.[2] Was werden diese Missionarien zum Suppressionsbreve sagen? Sie werden es mit Verachtung weglegen. Und wer wird es ihnen in Pe-king publiciren?

Von der sinesischen Mission handeln noch ausser dem bekannten Werke des dü Halde, nebst den Lettres édificantes, folgende besondere, und bey uns Protestanten fast ganz unbekannte Schriften:

Historica narratio, de inition & progressu missionis Societatis Jesu apud Sinenses. Viennae Austriae, 1665. 8. Ist aus den Briefen des P. Schalls zusammengetragen.

Nic. Trigaultii de christiana expeditione as Sinas suscepta a Societate Jesu, Libri V. Augustae, 1615. 4. auct. Colon 1617. 8. Französ. 1616. 8. Spanisch. 1621. 4.

Martini Martini brevis relatio de numero & qualitate Christianorum apud Sinas. Romae, 1654. 4. Traitez sur quelques Points importants de la Mission de la Chine. à Paris. 1701. 12. Die eine Abhandlung ist vom P. Nikolao Leonardi; die andere vom Franciscaner Antoine de Sainte Marie, die er an den Jesuiten Luis de Gama im J. 1668. aus Quang-tong (Canton) schrieb. Leibniz hat einige Anmerkungen dazu gemacht, die Kortholt im zweyten Bande seiner Briefe mit dem Texte selbst, und mit dem letzten Werke dieses großen Geistes, Lettre sur la Philosophie Chinoise à Mr. de Rémond, hat abdrucken lassen. Ferner gehören hieher seine Novissima Sinica, und des P. Bouvet con regia Monarchae Sinarum nunc regnantis ex Gallico versa. Leibniz gab diese Schrift 1699. heraus, und begleitete sie mit einer Vorrede, welches selbst dem Herausgeber dieser Werke, Hrn. Dütens, unbekannt ist.

Nachschrift.

Noch etwas zu dem, was ich Ihnen in meinem vorigen Schreiben von Scioppius gemeldet habe. Ich finde, daß er in einer deutschen Schrift, im J. 1616, die er noch dazu unter einem erborgten Namen herausgab[3], die Jesuiten Christoph Rosenbusch, und Martin Becanus, vertheidigt, und unter andern auf der 42sten Seite ihre Gesellschaft eine vortreffliche, und um die Kirche GOttes hochverdiente Societät Jesu nennet. In einer andern Schrift, Lermen blasen betitelt, so in eben diesem Jahre zu Dielingen herauskam, vertheidigte er S. 14. u.f. eben diese Väter nebst P. Adam Conzen. Man sieht also, daß seine nach dem Jahre 1630. gegen die Jesuiten herausgegebene Schriften einen Personalhaß zum Grunde hatten.

Anmerkungen

[1] Ich schreibe, der wahren Aussprache gemäß, allemal Sina. Denn unser China haben wir von den Portugiesen, die es aber Tschina aussprechen. Der Franzos sagt gar Schina, und der Wälsche Kina.
[2] Lettres édif. rec. 29 à Paris, 1773.12. Man liest auch daselbst in einem Auszuge eines merkwürdigen Schreibens des P. Laureati, aus Fo-kjen, 1714. eine unangenehme Nachricht für die Thee-trinker. Es giebt in Sina einige Theehäuser, (Tschaqwan-tse) mit denen alle volkreiche Städte reichlich versehen sind. In diesem wird der für uns vernaschte Europäer bestimmte Thee öfters zwey- bis dreymal abgesotten, dann wieder gedörret, und uns theuer verkaufet. Könnten nicht die Sineser uns mit Recht zurufen: O europaea Simplicitas!
[3] Herrn Christoffen von Ungersdorf Erinnerung von der Calvinisten falschen, betrüglichen Art und Feindseligkeit gegen dem heiligen römischen Reich. Item. Wiederholung der katholischen Scribenten, sonderlich der Herren Jesuiter Lehr und Meynung vom Religionsfrieden. (Maynz) 1616.4.

Quelle: Christoph Gottlieb von Murr, Eines Protestanten, Herrn Christoph Gottlieb von Murr, der Reichsstadt Nürnberg Zollamtmanns, und Mitglieds des königlichen historischen Instituts zu Göttingen, und der naturforschenden Gesellschaft in Berlin [et]c. Acht und zwanzig Briefe über die Aufhebung des Jesuiterordens. [S.l.] 1774, S. 64–72. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10568809-6.

Jeffrey D. Burson, The Jesuit Suppression in Global Context: Causes, Events, and Consequences. New York: Cambridge University Press, 2015.

„Chinese Rites Controversy“, in T. Worcester, SJ, Hrsg., The Cambridge Encyclopedia of the Jesuits. New York: Cambridge University Press, 2017, S. 165.

David E. Mungello, The Chinese Rites Controversy: Its History and Meaning. Nettetal: Steyler Verl., 1994.

Ferdinand Verbiest, Letters of a Peking Jesuit: The Correspondence of Ferdinand Verbiest, SJ (16231688). Überarbeitete und erweiterte Auflage. Leuven: Ferdinand Verbiest Institute, KU Leuven, 2017.

Christoph Gottlieb von Murr, Acht und zwanzig Briefe über die Aufhebung des Jesuiterordens (1774), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-195> [05.12.2024].