Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen (1863)
Kurzbeschreibung
Hermann von Helmholtz (1821–1894) setzte sich mit den Fragen der „physikalischen und physiologischen Akustik“ auseinander und versuchte, diese mit „Musikwissenschaft und Aesthetik“ zu verbinden. Helmholtz befasste sich insbesondere mit der Hörwahrnehmung und führte die Unterscheidung zwischen „musikalischen Klängen“ und „Geräuschen“ ein. Während erstere durch „schnelle periodische Bewegungen“ hervorgebracht und damit als harmonisch wahrgenommen wurden, resultierten Geräusche aus „nicht periodischen Bewegungen“, weshalb sie in der Geräuschwahrnehmung als disharmonisch galten. Helmholtz legte mit seiner Studie eine bedeutende Arbeit zur Akustik vor, die bis heute im Bereich der Musikwissenschaft rezipiert wird.
Quelle
Einleitung
Das vorliegende Buch sucht die Grenzgebiete von Wissenschaften zu vereinigen, welche, obgleich durch viele natürliche Beziehungen auf einander hingewiesen, bisher doch ziemlich getrennt neben einander gestanden haben, die Grenzgebiete nämlich einerseits der physikalischen und physiologischen Akustik, andererseits der Musikwissenschaft und Aesthetik.
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Ich hoffe, bei diesem meinem etwas ungewöhnlichen Versuche, von Seiten der Naturwissenschaft in die Theorie der Künste einzugreifen, gebührend auseinander gehalten zu haben, was der Physiologie und was der Aesthetik angehört, doch kann ich mir kaum verhehlen, dass meine Erörterungen, obgleich sie sich nur auf das niederste Gebiet der musikalischen Grammatik beziehen, solchen Kunsttheoretikern vielleicht als zu mechanisch und der Würde der Kunst widersprechend erscheinen werden, welche gewohnt sind, die enthusiastischen Seelenzustände, wie sie durch die höchsten Leistungen der Kunst hervorgerufen werden, auch zur wissenschaftlichen Untersuchung ihrer Grundlagen mitzubringen. Diesen gegenüber will ich nur noch bemerken, dass es sich bei der nachfolgenden Untersuchung wesentlich nur um die Analyse thatsächlich bestehender sinnlicher Empfindungen handelt, dass die physikalischen Beobachtungsmethoden, welche herbeigezogen werden, fast nur dazu dienen sollen, das Geschäft dieser Analyse zu erleichtern, zu sichern, und ihre Vollständigkeit zu controliren, und dass diese Analyse der Sinnesempfindungen genügen würde, die Endergebnisse für die musikalische Theorie zu liefern, selbst ohne Bezug auf die physiologische Hypothese über den Mechanismus des Hörens, die ich schon erwähnt habe, welche ich jedoch nicht weglassen wollte, weil sie einen ausserordentlich einfachen Zusammenhang in die sehr mannigfachen und sehr verwickelten Phänomene dieses Gebiets zu bringen geeignet ist.
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Erster Abschnitt.
Von der Schallempfindung im Allgemeinen.
Sinnliche Empfindungen kommen zu Stande, indem äussere Reizmittel auf die empfindlichen Nervenapparate unseres Körpers einwirken, und diese in Erregungszustand versetzen. Die Art der Empfindung ist verschieden, theils nach dem Sinnesorgane, welches in Anspruch genommen worden ist, theils nach der Art des einwirkenden Reizes. Jedes Sinnesorgan vermittelt eigenthümliche Empfindungen, welche durch kein anderes erregt werden können, das Auge Lichtempfindungen, das Ohr Schallempfindungen, die Haut Tastempfindungen. Selbst wenn dieselben Sonnenstrahlen, welche dem Auge die Empfindung des Lichts erregen, die Haut treffen und deren Nerven erregen, so werden sie hier doch nur als Wärme, nicht als Licht empfunden, und ebenso können die Erschütterungen elastischer Körper, welche das Ohr hört, von der Haut empfunden werden, aber nicht als Schall, sondern als Schwirren. Schallempfindung ist also die dem Ohre eigentümliche Reactionsweise gegen äussere Reizmittel, sie kann in keinem anderen Organe des Körpers hervorgebracht werden, und unterscheidet sich durchaus von allen Empfindungen aller übrigen Sinne.
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Der erste und Hauptunterschied verschiedenen Schalls, den unser Ohr auffindet, ist der Unterschied zwischen Geräuschen und musikalischen Klängen. Das Sausen, Heulen und Zischen des Windes, das Plätschern des Wassers, das Rollen und Rasseln eines Wagens sind Beispiele der ersten Art, die Klänge sämtlicher musikalischer Instrumente Beispiele der zweiten Art des Schalls. Zwar können Geräusche und Klänge in mannigfach wechselnden Verhältnissen sich vermischen und durch Zwischenstufen in einander übergehen, ihre Extreme sind aber weit von einander getrennt.
Um das Wesen des Unterschieds zwischen Klängen und Geräuschen zu ermitteln, genügt in den meisten Fällen schon eine aufmerksame Beobachtung des Ohres allein, ohne dass es durch künstliche Hilfsmittel unterstützt zu werden braucht. Es zeigt sich nämlich im Allgemeinen, dass im Verlaufe eines Geräusches ein schneller Wechsel verschiedenartiger Schallempfindungen eintritt. Man denke an das Rasseln eines Wagens auf Steinpflaster, das Plätschern und Brausen eines Wasserfalls oder der Meereswogen, das Rauschen der Blätter im Walde. Hier haben wir überall einen raschen und unregelmässigen, aber deutlich erkennbaren Wechsel stossweise aufblitzender verschiedenartiger Laute. Beim Heulen des Windes ist der Wechsel langsam, der Schall zieht sich langsam und allmälig in die Höhe, und sinkt dann wieder. Mehr oder weniger gut gelingt die Trennung verschiedenartiger unruhig wechselnder Laute auch bei den meisten anderen Geräuschen; wir werden später ein Hilfsmittel kennen lernen, die Resonatoren, mittelst dessen diese Unterscheidung dem Ohre beträchtlich erleichtert wird. Ein musikalischer Klang dagegen erscheint dem Ohre als ein Schall, der vollkommen ruhig, gleichmässig und unveränderlich dauert, so lange er eben besteht, in ihm ist kein Wechsel verschiedenartiger Bestandtheile zu unterscheiden. Ihm entspricht also eine einfache und regelmässige Art der Empfindung, während in einem Geräusche viele verschiedenartige Klangempfindungen unregelmässig gemischt und durch einander geworfen sind. In der That kann man Geräusche aus musikalischen Klängen zusammensetzen, wenn man z. B. sämmtliche Tasten eines Claviers innerhalb der Breite von einer oder zwei Octaven gleichzeitig anschlägt. Hiernach ist es klar, dass die musikalischen Klänge die einfacheren und regelmässigeren Elemente der Gehörempfindungen sind, und dass wir an ihnen zunächst die Gesetze und Eigenthümlichkeiten dieser Empfindungen zu studiren haben.
Wir gelangen jetzt zu der weiteren Frage: welcher Unterschied in dem äusseren Erregungsmittel der Gehörempfindungen bedingt den Unterschied von Geräusch und Klang? Das normale und gewöhnliche Erregungsmittel für das menschliche Ohr sind Erschütterungen der umgebenden Luftmasse. Die unregelmässig wechselnde Empfindung des Ohres bei den Geräuschen lässt uns schliessen, dass bei diesen auch die Erschütterung der Luft eine unregelmässig sich verändernde Art der Bewegung sein müsse, dass den musikalischen Klängen dagegen eine regelmässige in gleichmässiger Weise andauernde Bewegung der Luft zu Grunde liege, welche wiederum erregt sein muss durch eine ebenso regelmässige Bewegung des ursprünglich tönenden Körpers, dessen Stösse die Luft dem Ohre zuleitet.
Die Art solcher regelmässiger Bewegungen, welche einen musikalischen Klang hervorbringen, haben nun die physikalischen Untersuchungen genau kennen gelehrt. Es sind dies Schwingungen, d. h. hin- und hergehende Bewegungen der tönenden Körper, und diese Schwingungen müssen regelmässig, periodisch sein. Unter einer periodischen Bewegung verstehen wir eine solche, welche nach genau gleichen Zeitabschnitten immer in genau derselben Weise wiederkehrt. Die Länge der gleichen Zeitabschnitte, welche zwischen einer und der nächsten Wiederholung der gleichen Bewegung verfliessen, nennen wir die Schwingungsdauer oder die Periode der Bewegung. Welcher Art die Bewegung des bewegten Körpers während der Dauer einer Periode ist, ist dabei ganz gleichgültig. Um den Begriff der periodischen Bewegung an bekannten Beispielen zu erläutern, führe ich an die Bewegung des Pendels einer Uhr, die Bewegung eines Steins, der an einem Faden befestigt mit gleichbleibender Geschwindigkeit im Kreise herumgeschwungen wird, die Bewegung eines Hammers, der von dem Räderwerk einer Wassermühle nach regelmässigen Zwischenzeiten gehoben wird und wieder fällt. Alle diese Bewegungen, so verschieden sie sich übrigens auch gestalten mögen, sind periodisch in dem angeführten Sinne. Die Dauer ihrer Periode, welche in diesen Fällen meist eine oder mehrere Secunden beträgt, ist aber verhältnissmässig lang verglichen mit den viel kürzeren Perioden der tönenden Schwingungen, von denen bei den tiefsten Tönen mindestens 30 auf eine Secunde kommen, und deren Anzahl bis auf viele Tausende in der Secunde steigen kann. Unserer Definition der periodischen Bewegung gemäss können wir nun die gestellte Frage so beantworten: Die Empfindung eines Klanges wird durch schnelle periodische Bewegungen der tönenden Körper hervorgebracht, die eines Geräusches durch nicht periodische Bewegungen.
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Quelle: Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik (1863), 2. Aufl. Braunschweig: CK und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn, 1865, S. 1, 9, 13, 14–16.