Sechsundzwanzigster Brief aus Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795)
Kurzbeschreibung
Hierbei handelt es sich um einen zentralen Text in der Theorie des modernen Selbst. Sein Autor, der Dichter, Philosoph und Dramatiker Friedrich Schiller (1759–1805), war bis ins 20. Jahrhundert hinein eine große kulturelle Autorität in Deutschland. Der Text spielte eine einzigartige Rolle für das Zusammendenken von Selbstverständnis und ästhetischer Kreativität. Er besagt, um eine authentische Person zu sein, muss man nicht die heroischen Beispiele anderer imitieren oder sich an den Behauptungen äußerer Wahrheit orientieren, die in Natur, Religion oder Philosophie liegen. Vielmehr müsse man sein eigener Held werden, indem man die inneren Wahrheiten seines tiefsten Lebensziels verwirkliche. In dieser Selbstentdeckung und Selbstschöpfung wird die Essenz des Lebens zu einem idiosynkratischen ästhetischen Ausdruck. Diese Betrachtungsweise der authentischen Persönlichkeit hatte erhebliche Folgen für nahezu alles intellektuelle Denken im Deutschland des 19. Jahrhunderts, ebenso für Kultur und Handel. Die ästhetische Persönlichkeit warf auch weitreichende Fragen über die Verbindlichkeit der Sittenlehre und die Möglichkeiten gesellschaftlicher Kohärenz auf.
Quelle
Da die ästhetische Stimmung des Gemüths, wie ich in den vorhergehenden Briefen entwickelt habe, der Freiheit erst die Entstehung gibt, so ist leicht einzusehen, daß sie nicht aus derselben entspringen und folglich keinen moralischen Ursprung haben könne. Ein Geschenk der Natur muß sie sein, die Gunst der Zufälle allein kann die Fesseln des physischen Standes lösen und den Wilden zur Schönheit führen.
Der Keim der letztern wird sich gleich wenig entwickeln, wo eine karge Natur den Menschen jeder Erquickung beraubt, und wo eine verschwenderische ihn von jeder eigenen Anstrengung losspricht – wo die stumpfe Sinnlichkeit kein Bedürfniß fühlt, und wo die heftige Begier keine Sättigung findet. Nicht da, wo der Mensch sich troglodytisch in Höhlen birgt, ewig einzeln ist und die Menschheit nie außer sich findet, auch nicht da, wo er nomadisch in großen Heermassen zieht, ewig nur Zahl ist und die Menschheit nie in sich findet – da allein, wo er in eigener Hütte still mit sich selbst und, sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten. Da wo ein leichter Aether die Sinne jeder leisen Berührung eröffnet und den üppigen Stoff eine energische Wärme beseelt – wo das Reich der blinden Masse schon in der leblosen Schöpfung gekürzt ist und die siegende Form auch die niedrigsten Naturen veredelt – dort in den fröhlichen Verhältnissen und in der gesegneten Zone, wo nur die Thätigkeit zum Genusse und nur der Genuß zur Thätigkeit führt, wo aus dem Leben selbst die heilige Ordnung quillt und aus dem Gesetz der Ordnung sich nur Leben entwickelt – wo die Einbildungskraft der Wirklichkeit ewig entflieht und dennoch von der Einfalt der Natur nie verirret – hier allein werden sich Sinne und Geist, empfangende und bildende Kraft in dem glücklichen Gleichmaß entwickeln, welches die Seele der Schönheit und die Bedingung der Menschheit ist.
Und was ist es für ein Phänomen, durch welches sich bei dem Wilden der Eintritt in die Menschheit verkündigt? So weit wir auch die Geschichte befragen, es ist dasselbe bei allen Völkerstämmen, welche der Sklaverei des tierischen Standes entsprungen sind: die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele.
Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine gewisse Affinität mit einander, daß beide nur das Reelle suchen und für den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind. Nur durch die unmittelbare Gegenwart eines Objekts in den Sinnen wird jene aus ihrer Ruhe gerissen, und nur durch Zurückführung seiner Begriffe auf Thatsachen der Erfahrung wird der letztere zur Ruhe gebracht; mit einem Wort, die Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben und der Verstand nicht unter der Wahrheit stehen bleiben. Was dort der Mangel der Einbildungskraft bewirkt, das bewirkt hier die absolute Beherrschung derselben. Insofern also das Bedürfniß der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche bloße Folgen des Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und das Interesse am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur. Fürs erste zeugt es von einer äußern Freiheit: denn so lange die Noth gebietet und das Bedürfniß drängt, ist die Einbildungskraft mit strengen Fesseln an das Wirkliche gebunden; erst, wenn das Bedürfniß gestillt ist, entwickelt sie ihr ungebundenes Vermögen. Es zeugt aber auch von einer innern Freiheit; weil es uns eine Kraft sehen läßt, die unabhängig von einem äußern Stoffe sich durch sich selbst in Bewegung setzt und die Energie genug besitzt, die andringende Materie von sich zu halten. Die Realität der Dinge ist ihr (der Dinge) Werk; der Schein der Dinge ist des Menschen Werk, und ein Gemüth, das sich am Scheine weidet, ergötzt sich schon nicht mehr an dem, was es empfängt, sondern an dem, was es thut.
Es versteht sich wohl von selbst, daß hier nur von dem ästhetischen Schein die Rede ist, den man von der Wirklichkeit und Wahrheit unterscheidet, nicht von dem logischen, den man mit derselben verwechselt – den man folglich liebt, weil er Schein ist, und nicht, weil man ihn für etwas Besseres hält. Nur der erste ist Spiel, da der letzte bloß Betrug ist. Den Schein der erstern Art für etwas gelten lassen, kann der Wahrheit niemals Eintrag thun, weil man nie Gefahr läuft, ihn derselben unterzuschieben, was doch die einzige Art ist, wie der Wahrheit geschadet werden kann; ihn verachten, heißt alle schöne Kunst überhaupt verachten, deren Wesen der Schein ist. Indessen begegnet es dem Verstande zuweilen, seinen Eifer für Realität bis zu einer solchen Unduldsamkeit zu treiben und über die ganze Kunst des schönen Scheins, weil sie bloß Schein ist, ein wegwerfendes Urtheil zu sprechen; dies begegnet aber dem Verstande nur alsdann, wenn er sich der obengedachten Affinität nicht erinnert. Von den nothwendigen Grenzen des schönen Scheins werde ich noch einmal insbesondere zu reden Veranlassung nehmen.
Die Natur selbst ist es, die den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwei Sinnen ausrüstete, die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntniß des Wirklichen führen. In dem Auge und dem Ohr ist die andringende Materie schon hinweggewälzt von den Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den thierischen Sinnen unmittelbar berühren. Was wir durch das Auge sehen, ist von dem verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das Licht hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Takts ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohrs ist eine Form, die wir erzeugen. So lange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser Periode bloß dienen. Er erhebt sich entweder gar nicht zum Sehen, oder er befriedigt sich doch nicht mit demselben. Sobald er anfängt, mit dem Auge zu genießen, und das Sehen für ihn einen selbständigen Werth erlangt, so ist er auch schon ästhetisch frei, und der Spieltrieb hat sich entfaltet.
Gleich, sowie der Spieltrieb sich regt, der am Scheine Gefallen findet, wird ihm auch der nachahmende Bildungstrieb folgen, der den Schein als etwas Selbständiges behandelt. Sobald der Mensch einmal so weit gekommen ist, den Schein von der Wirklichkeit, die Form von dem Körper zu unterscheiden, so ist er auch im Stande, sie von ihm abzusondern; denn das hat er schon gethan, indem er sie unterscheidet. Das Vermögen zur nachahmenden Kunst ist also mit dem Vermögen zur Form überhaupt gegeben; der Drang zu derselben beruht auf einer andern Anlage, von der ich hier nicht zu handeln brauche. Wie frühe oder wie spät sich der ästhetische Kunsttrieb entwickeln soll, das wird bloß von dem Grade der Liebe abhängen, mit der der Mensch fähig ist, sich bei dem bloßen Schein zu verweilen.
Da alles wirkliche Dasein von der Natur, als einer fremden Macht, aller Schein aber ursprünglich von dem Menschen, als vorstellendem Subjekte, sich herschreibt, so bedient er sich bloß seines absoluten Eigenthumsrechts, wenn er den Schein von dem Wesen zurücknimmt und mit demselben nach eigenen Gesetzen schaltet. Mit ungebundener Freiheit kann er, was die Natur trennte, zusammenfügen, sobald er es nur irgend zusammendenken kann, und trennen, was die Natur verknüpfte, sobald er es nur in seinem Verstande absondern kann. Nichts darf ihm hier heilig sein, als sein eigenes Gesetz, sobald er nur die Markung in Acht nimmt, welche sein Gebiet von dem Dasein der Dinge oder dem Naturgebiete scheidet.
Dieses menschliche Herrscherrecht übt er aus in der Kunst des Scheins, und je strenger er hier das Mein und Dein von einander sondert, je sorgfältiger er die Gestalt von dem Wesen trennt, und je mehr Selbständigkeit er derselben zu geben weiß, desto mehr wird er nicht bloß das Reich der Schönheit erweitern, sondern selbst die Grenzen der Wahrheit bewahren; denn er kann den Schein nicht von der Wirklichkeit reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Schein frei zu machen.
Aber er besitzt dieses souveräne Recht schlechterdings auch nur in der Welt des Scheins, in dem wesenlosen Reich der Einbildungskraft, und nur, solang er sich im Theoretischen gewissenhaft enthält, Existenz davon auszusagen, und so lang er im Praktischen darauf Verzicht thut, Existenz dadurch zu ertheilen. Sie sehen hieraus, daß der Dichter auf gleiche Weise aus seinen Grenzen tritt, wenn er seinem Ideal Existenz beilegt, und wenn er eine bestimmte Existenz damit bezweckt. Denn Beides kann er nicht anders zu Stande bringen, als indem er entweder sein Dichterrecht überschreitet, durch das Ideal in das Gebiet der Erfahrung greift und durch die bloße Möglichkeit wirkliches Dasein zu bestimmen sich anmaßt, oder, indem er sein Dichterrecht aufgibt, die Erfahrung in das Gebiet des Ideals greifen läßt und die Möglichkeit auf die Bedingungen der Wirklichkeit einschränkt.
Nur, soweit er aufrichtig ist (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt), und nur, soweit er selbständig ist (allen Beistand der Realität entbehrt), ist der Schein ästhetisch. Sobald er falsch ist und Realität heuchelt, und sobald er unrein und der Realität zu seiner Wirkung bedürftig ist, ist er nichts als ein niedriges Werkzeug zu materiellen Zwecken und kann nichts für die Freiheit des Geistes beweisen. Uebrigens ist es gar nicht nöthig, daß der Gegenstand, an dem wir den schönen Schein finden, ohne Realität sei, wenn nur unser Urtheil darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt; denn, soweit es diese Rücksicht nimmt, ist es kein ästhetisches. Eine lebende weibliche Schönheit wird uns freilich eben so gut und noch ein wenig besser als eine eben so schöne bloß gemalte gefallen; aber, insoweit sie uns besser gefällt als die letztere, gefällt sie nicht mehr als selbständiger Schein, gefällt sie nicht mehr dem reinen ästhetischen Gefühl: diesem darf auch das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als Idee gefallen; aber freilich erfordert es noch einen ungleich höhern Grad der schönen Kultur, in dem Lebendigen selbst nur den reinen Schein zu empfinden, als das Leben an dem Schein zu entbehren.
Bei welchem einzelnen Menschen oder ganzen Volk man den aufrichtigen und selbständigen Schein findet, da darf man auf Geist und Geschmack und jede damit verwandte Trefflichkeit schließen – da wird man das Ideal das wirkliche Leben regieren, die Ehre über den Besitz, den Gedanken über den Genuß, den Traum der Unsterblichkeit über die Existenz triumphieren sehen. Da wird die öffentliche Stimme das einzig Furchtbare sein und ein Olivenkranz höher als ein Purpurkleid ehren. Zum falschen und bedürftigen Schein nimmt nur die Ohnmacht und die Verkehrtheit ihre Zuflucht, und einzelne Menschen sowohl als ganze Völker, welche entweder „der Realität durch den Schein oder dem (ästhetischen) Schein durch Realität nachhelfen“ – beides ist gerne verbunden – beweisen zugleich ihren moralischen Unwerth und ihr ästhetisches Unvermögen.
Auf die Frage: Inwieweit darf Schein in der moralischen Welt sein? ist also die Antwort so kurz als bündig diese: Insoweit es ästhetischer Schein ist, d.h. Schein, der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht. Der ästhetische Schein kann der Wahrheit der Sitten niemals gefährlich werden, und wo man es anders findet, da wird sich ohne Schwierigkeit zeigen lassen, daß der Schein nicht ästhetisch war. Nur ein Fremdling im schönen Umgang z.B. wird Versicherungen der Höflichkeit, die eine allgemeine Form ist, als Merkmale persönlicher Zuneigung aufnehmen und, wenn er getäuscht wird, über Verstellung klagen. Aber auch nur ein Stümper im schönen Umgang wird, um höflich zu sein, die Falschheit zu Hilfe rufen und schmeicheln, um gefällig zu sein. Dem Ersten fehlt noch der Sinn für den selbständigen Schein, daher kann er demselben nur durch die Wahrheit Bedeutung geben; dem Zweiten fehlt es an Realität, und er möchte sie gern durch den Schein ersetzen.
Nichts ist gewöhnlicher, als von gewissen trivialen Kritikern des Zeitalters die Klage zu vernehmen, daß alle Solidität aus der Welt verschwunden sei und das Wesen über dem Schein vernachlässigt werde. Obgleich ich mich gar nicht berufen fühle, das Zeitalter gegen diesen Vorwurf zu rechtfertigen, so geht doch schon aus der weiten Ausdehnung, welche diese strengen Sittenrichter ihrer Anklage geben, sattsam hervor, daß sie dem Zeitalter nicht bloß den falschen, sondern auch den aufrichtigen Schein verargen; und sogar die Ausnahmen, welche sie noch etwa zu Gunsten der Schönheit machen, gehen mehr auf den bedürftigen, als auf den selbständigen Schein. Sie greifen nicht bloß die betrügerische Schminke an, welche die Wahrheit verbirgt, welche die Wirklichkeit zu vertreten sich anmaßt; sie ereifern sich auch gegen den wohlthätigen Schein, der die Leerheit ausfüllt und die Armseligkeit zudeckt, auch gegen den idealischen, der eine gemeine Wirklichkeit veredelt. Die Falschheit der Sitten beleidigt mit Recht ihr strenges Wahrheitsgefühl; nur Schade, daß sie zu dieser Falschheit auch schon die Höflichkeit rechnen. Es mißfällt ihnen, daß äußerer Flitterglanz so oft das wahre Verdienst verdunkelt; aber es verdrießt sie nicht weniger, daß man auch Schein vom Verdienste fordert und dem innern Gehalte die gefällige Form nicht erläßt. Sie vermissen das Herzliche, Kernhafte und Gediegene der vorigen Zeiten; aber sie möchten auch das Eckigte und Derbe der ersten Sitten, das Schwerfällige der alten Formen und den ehemaligen gothischen Ueberfluß wieder eingeführt sehen. Sie beweisen durch Urtheile dieser Art dem Stoff an sich selbst eine Achtung, die der Menschheit nicht würdig ist, welche vielmehr das Materielle nur insoferne schätzen soll, als es Gestalt zu empfangen und das Reich der Ideen zu verbreiten im Stande ist. Auf solche Stimmen braucht also der Geschmack des Jahrhunderts nicht sehr zu hören, wenn er nur sonst vor einer bessern Instanz besteht. Nicht, daß wir einen Werth auf den ästhetischen Schein legen (wir thun dies noch lange nicht genug), sondern daß wir es noch nicht bis zu dem reinen Schein gebracht haben, daß wir das Dasein noch nicht genug von der Erscheinung geschieden und dadurch beider Grenzen auf ewig gesichert haben, dies ist es, was uns ein rigoristischer Richter der Schönheit zum Vorwurf machen kann. Diesen Vorwurf werden wir so lange verdienen, als wir das Schöne der lebendigen Natur nicht genießen können, ohne es zu begehren, das Schöne der nachahmenden Kunst nicht bewundern können, ohne nach einem Zwecke zu fragen – als wir der Einbildungskraft noch keine eigene absolute Gesetzgebung zugestehen und durch die Achtung, die wir ihren Werken erzeigen, sie auf ihre Würde hinweisen.
Quelle: Friedrich Schiller, Sechsundzwanzigster Brief, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795), aus Schillers sämmtliche Werke in zwölf bänden, zwölfter Band. Stuttgart: J. G. Cotta'sche Buchhandlung, 1862, S. 96–103. Online verfügbar unter: HathiTrust, https://hdl.handle.net/2027/hvd.hwfvvt