Horst Herold, „Organisatorische Grundzüge der elektronischen Datenverarbeitung im Bereich der Polizei“ (1968)
Kurzbeschreibung
Der Polizeipräsident von Nürnberg, Horst Herold, der von 1971 bis 1981 das Bundeskriminalamt leitete, diskutierte 1968 die zukünftige Bedeutung der elektronischen Datenverarbeitung für die Arbeit der Polizei. Eingangs fragt er, welche Daten erfasst werden sollten, wie diese zu verarbeiten seien und wo sie erhoben werden müssten. Herold stellt dabei u.a. seine Überlegungen zum möglichen Einsatzspektrum der Datenverarbeitung im Polizeialltag vor. Hierzu zählten u.a. Fahndung nach Personen, das Erfassen von Straftaten und das Verwalten von Sachinformationen.
Quelle
Organisatorische Grundzüge der elektronischen Datenverarbeitung im Bereich der Polizei – Versuch eines Zukunftsmodells
Polizeipräsident Dr. Horst Herold, Nürnberg
I.
Polizeiliche Praxis und Literatur bemühen sich seit einiger Zeit darum, die Übernahme einiger polizeilicher Teilbereiche in die elektronische Datenverarbeitung vorzubereiten, oftmals leider nur durch Übertragung abgesplitterter Detailfragen. Kennzeichnend für alle Bemühungen ist überwiegend der Wunsch, die elektronische Datenverarbeitung den derzeitigen polizeilichen Organisationsformen und Arbeitsabläufen anzupassen. Demgegenüber geht die vorliegende Stellungnahme von der Erkenntnis aus, daß die Datenverarbeitung wegen ihrer von der elektronischen Wirkungsweise her bestimmten Eigenart nicht auf den derzeitigen Istzustand zugeschnitten werden kann, sondern umgekehrt die polizeilichen Organisations- und Arbeitsweisen sich auf die Maschine einstellen müssen. Diese notwendige Umkehrung in der Betrachtung der aufgetretenen Probleme führt zu andersartigen Einsichten, zur Abkehr von den bisherigen Arbeitstechniken und den hergebrachten Denkvorgängen; in weiten Bereichen macht sie einen organisatorischen Neubeginn nötig.
Ausgehend davon, daß gleichsam „das maschinelle Sein das polizeiliche Bewußtsein bestimmt“, stellt sich die Aufgabe, vor jedem Versuch einer Lösung von Problemen auf Grund des bestehenden Istzustandes, eine Art Soll-Vorstellung der elektronischen Datenverarbeitung im Polizeibereich als geschlossenes organisatorisches Ganzes zu entwickeln, eine Aufgabe, die sich wegen des Fehlens von herkömmlichen Vorbildern an Bestehendem nicht anlehnen kann und daher weithin nach vorne in das Unbekannte hineingedacht werden muß. Ist das Ganze entworfen, so werden die nächsten Denkschritte das Gesamtkonzept horizontal in verschiedene übereinander geschichtete Ebenen von Zuständigkeiten der polizeilichen Datenverarbeitung und innerhalb von diesen vertikal auf die verschiedenen Teilbereiche aufzuspalten haben mit einer Aufgabenverteilung bis zu jeder einzelnen Polizeidienststelle und zu jedem Sachbearbeiter. Ohne die Gesamtplanung besteht die Gefahr der Bildung inhomogener Teilbereiche und isolierter Arbeitsinseln, die sich später in den Gesamtorganismus nicht mehr einfügen lassen oder diesen sogar stören.
Das planerische Gesamtkonzept wird dabei weitgehend von den Antworten auf folgende Fragen bestimmt (mit anderen Worten: Von dem Was? Wie? und Wo? der Datenverarbeitung):
1. Welche Daten sollen erfaßt und verarbeitet werden? Die Frage zielt auf den Anwendungsbereich der elektronischen Datenverarbeitung, auf den Umfang ihres Einsatzes.
2. In welcher Weise und unter welchen Formen sollen die Daten verarbeitet werden?
Die Frage betrifft die rationellste Gestaltung des Arbeitsablaufes und deren zweckmäßigste Organisation.
3. Auf welchen Ebenen sollen die erfaßten, d. h. gespeicherten Daten verarbeitet werden?
In diesem Rahmen werden die Fragen dezentraler oder zentraler Datenverarbeitung und die Gestaltung eines hierarchischen Stufenbaues organisatorischer Zuständigkeiten zu entscheiden sein.
II.
Die folgenden Ausführungen versuchen, Lösungen zu finden.
Zu 1:
In der polizeilichen Literatur werden im wesentlichen vier Anwendungsbereiche der elektronischen Datenverarbeitung diskutiert:
a) Das Fahnden nach Personen, Sachen, Kraftfahrzeugen, Vermißten, Personalpapieren usw.,
b) das Registrieren von Straftaten (zum Zwecke der statistischen. Erfassung), Ermittlungsfällen, Verkehrsaufkommen (mit Auslösung entsprechender Programme zur Verkehrssteuerung), Verkehrsunfällen, Wohnortsveränderungen, Strafregisterveränderungen usw.,
c) das Verwalten von Personen, Kraftfahrzeugen, Uniformen, Geräten, Lohnabrechnungen usw.,
d) das Aufklären von Verbrechen durch Verkürzung des langwierigen manuellen Suchens und Registrierens in den kriminalpolizeilichen Karteien (kriminalpolizeilicher Meldedienst, Aktensammlungen, Fingerabdruckvergleichsarbeit usw.).
So wichtig und bedeutsam die genannten Ziele auch sind, sie schöpfen den Anwendungsbereich der elektronischen Datenverarbeitung jedoch in keiner Weise aus.
Die elektronische Datenverarbeitung besitzt die Fähigkeit, riesige Datenmengen nach beliebigen Zusammenhängen zu verknüpfen und über diese Zusammenhänge quantitative Aussagen in kürzester Zeit nach dem allerneuesten Stand zu formulieren. Dem Gesetz der großen Zahl entsprechend, ist die Treffgenauigkeit solcher Aussagen um so größer, je größer die Zahl der verarbeiteten Daten ist. Hieran ist die bisherige Kriminologie, die oftmals — wie auch die Medizin — aus Einzelfällen allgemeine und daher meist unzulängliche Schlüsse zog, gescheitert. Zwar standen ihr auch bislang in der herkömmlichen Form von Ermittlungsakten, Personenakten, Karteien und Aufschreibungen, gewaltige Datenspeicher zur Verfügung, jedoch war es, wenn überhaupt, nur in einem zeit- und personenaufwendigen Verfahren möglich, die Datenberge analytisch und prognostisch zu durchdringen und sie zähl- und tabellierfähig aufzubereiten. Die elektronische Datenverarbeitung wird hier einen tiefen Umbruch bewirken. Damit wird die Kriminalpolizei erstmals in der Lage sein, auf Massenbasis und damit mit größter Genauigkeit rationale Einsichten in die Ursachen und auslösenden Kräfte des Verbrechens zu gewinnen. Zudem lassen sich Richtung und Umfang der Verbrechensentwicklung unter Würdigung der bisherigen Tendenzen im Wege der Hochrechnung annäherungsweise vorausberechnen. Die Polizei wird dadurch in die Lage versetzt, ihr Augenmerk immer stärker der Verbrechensvorbeugung und Verbrechensverhütung als der heute vernachlässigten, aber wichtigsten Form der Verbrechensbekämpfung zuzuwenden, künftige taktische Bekämpfungsmaßnahmen sorgsamer und damit wirkungsvoller zu planen und kraft des größeren Überblicks über die Gesamtzusammenhänge zugleich die wirtschaftlichsten Einsatzformen vorausschauend und schwerpunktmäßig festzulegen.
Um die andeutungsweise skizzierten Möglichkeiten auszuschöpfen, bedarf es einer umfassenden Erhebung aller sich auf den Verbrecher und das Verbrechen beziehender Daten in einer systematisierten, maschinengerechten Form von „Tat- oder Tätersätzen“, die von den Personalien, Familien-, Wohn-, Rechts-, Besitz- und Sozialverhältnissen bis zu kriminalbiologischen und kriminalsoziologischen Daten reichen und dabei alle auch schon herkömmlicherweise für Akten und Karteien erhobenen Daten einschließen.
Die Gewinnung solcher „Tat- oder Tätersätze“ wird, ähnlich wie bei der klinischen Untersuchung eines Patienten, eine Reihe von Erhebungsstationen erfordern, die den Einsatz von Fachleuten, u. U. auch von Untersuchungsgeräten, nötig machen und deshalb einen beträchtlichen personellen und materiellen, vor allem aber finanziellen Aufwand voraussetzen. Dennoch erscheint das Verfahren durchaus realisierbar, da die Datenerhebung in einem später noch darzustellenden „kommunalen oder regionalen Informationszentrum“ durch Beteiligung einer Vielzahl von gleichermaßen informationsinteressierten Ämtern und Behörden erfolgen und zugleich mit anderen gesellschaftlichen Erhebungen (z. B. medizinischen Reihenuntersuchungen, Erhebungen über Führerscheintauglichkeit, Intelligenz- und Reaktionstesten, volkswirtschaftlichen Untersuchungen usw.) verbunden werden kann. Auch brauchen die „Sätze“ nicht auf einmal gewonnen zu werden; sie können vielmehr im Laufe eines Lebens, von der Geburtsurkunde über die Schulimpfung, das Zeugnis und die Lehre bis zur Eheschließung, Straffälligkeit oder sonstigen markanten Lebensabschnitten entstehen, so wie sie auch jetzt schon aufgespalten auf eine unübersehbare Vielfalt von Behörden, Ämtern, Institutionen, Schulen, Betrieben entstanden und dort archiviert worden sind.
Damit wird die integrierende Funktion der Datenverarbeitung deutlich, die selbstverständlich nur als ein auf Jahre und Jahrzehnte angelegter Prozeß und nicht als einziger revolutionärer Akt zu verstehen ist. Immerhin offenbart diese Entwicklungstendenz schon bei der Erörterung der vorliegenden Frage die Unzulässigkeit eines völlig losgelösten oder gar in sich abgekapselten Modells polizeilicher Datenverarbeitung.
Die Daten für „Tat- oder Tätersätze“ lassen sich nur örtlich (kommunal oder regional) gewinnen. Dies bedeutet nicht, daß sie auch örtlich zu verarbeiten sind. Das Gesetz der großen Zahl verlangt vielmehr eine Verarbeitung auf Massenbasis, was, wie später noch darzulegen sein wird, in der Bundesrepublik Deutschland die Einschaltung des Bundeskriminalamtes für Forschungszwecke verlangt. Damit stellt sich für den örtlichen Polizeibereich die Aufgabe, die Integration der Datenerfassung, die sich auch aus anderen Gründen als notwendig erweist, voranzutreiben; das Bundeskriminalamt aber wird die Weiterleitung der für Forschung und Statistik benötigten Daten zu organisieren haben.
[…]
Quelle: Horst Herold, „Organisatorische Grundzüge der elektronischen Datenverarbeitung im Bereich der Polizei – Versuch eines Zukunftsmodells“, in Taschenbuch für Kriminalisten 18. Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur, 1968, S. 240–44. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Verlag Deutsche Polizeiliteratur.